Übersichtsarbeiten - OUP 06/2024

Die anteromediale und anterolaterale Stabilisierung des Kniegelenks
Ein Überblick

Dustin Franke, Peter Angele, Johannes Zellner

Zusammenfassung:
Periphere Rotationsinstabilitäten können auch nach primärer Stabilisierung mittels einer Kreuzbandplastik chronisch persistieren und somit einen häufigen Grund für eine Reruptur, ein schlechteres klinisches Outcome sowie funktionelle Instabilität bilden. Diese Arbeit soll daher die anatomisch-funktionelle Verbindung zwischen peripheren Rotationsinstabilitäten und den anteromedial bzw. anterolateral stabilisierenden Kapselbandstrukturen des Kniegelenks beschreiben. Verschiedene chirurgische Techniken und ihre klinischen Ergebnisse werden dargestellt, einschließlich der Verwendung von autologen Sehnentransplantaten. Ziel dieses Beitrages ist es, einen Überblick über die aktuell klinisch durchgeführten anteromedialen und anterolateralen Stabilisierungsverfahren zu geben und somit ein tieferes Verständnis für die Mechanismen der Kniegelenkinstabilität und ihre optimalen Behandlungsstrategien zu vermitteln.

Schlüsselwörter:
Kniegelenk, Rotationsinstabilität, Ätiologie, anteromedial, anterolateral, Therapie

Zitierweise:
Franke D, Angele P, Zellner J: Die anteromediale und anterolaterale Stabilisierung des Kniegelenks. Ein Überblick
OUP 2024; 13: 272?277
DOI 10.53180/oup.2024.0272-0277

Summary: Peripheral rotational instabilities of the knee can persist chronically even after primary stabilization using cruciate ligament grafting, often leading to reasons for re-rupture, worse clinical outcomes, and functional instability. This work aims to describe an anatomical-functional connection between peripheral rotational instabilities and the anteromedial and anterolateral stabilizing capsule ligament structures of the knee joint. Various surgical techniques and their clinical outcomes are presented, including the use of autologous tendon grafts. The goal of this contribution is to provide an overview of the currently clinically performed anteromedial and anterolateral stabilization procedures, thereby imparting a deeper understanding of the mechanisms of knee joint instability and their optimal treatment strategies.

Keywords: Knee, rotational instabilities, etiology, anteromedial, anterolateral, therapy

Citation: Franke D, Angele P, Zellner J: Anteromedial and anterolateral stabilization of the knee. An overview
OUP 2024; 13: 272?277. DOI 10.53180/oup.2024.0272-0277

J. Zellner, D. Franke: Sporthopaedicum Regensburg

P. Angele: Sporthopaedicum Regensburg & Universitätsklinikum Regensburg, Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie

Hintergrund

Periphere Rotationsinstabilitäten des Kniegelenks haben in den letzten Jahren vermehrt an wissenschaftlichem Interesse und Bedeutung gewonnen. Unter einer Rotationsinstabilität versteht man hierbei eine abnormale, komplexe, dreidimensionale Beweglichkeit des Kniegelenks, die durch eine Pathologie in den unterschiedlichen Bereichen des Kniegelenks, wie anteromedial, anterolateral, posteromedial, posterolateral oder zentral bedingt sein kann [1]. Trotz wissenschaftlicher Erkenntnisse über den synergetisch stabilisierenden Effekt des hinteren Kreuzbandes und der posterioren Kapselbandstrukturen sowie der Notwendigkeit einer kombinierten Rekonstruktion wurde im anterioren Kompartiment überwiegend eine isolierte, anatomische Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes zur Therapie einer Rotationsinstabilität durchgeführt [2]. Allerdings zeigen Untersuchungen, dass akute Kniegelenkrotationstraumata oft zu komplexen Verletzungen des gesamten Kapselbandapparats führen als lediglich zu einer isolierten Kreuzbandruptur. Zudem können in 15 % der Fälle Rotationsinstabilitäten nach primärer operativer Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes fortbestehen [3, 4]. Eine anhaltende rotatorische Instabilität stellt hierbei einen der Hauptgründe für ein verzögertes return to sport nach einer VKB-Rekonstruktion dar [5, 6]. Erschwerend kommt hinzu, dass eine persistierende anterolaterale Rotationsinstabilität sowohl nach konservativer als auch operativer Therapie einer VKB-Ruptur mit einem schlechteren klinischen Outcome, höheren Rerupturraten und funktioneller Instabilität sowie der Entwicklung von Knorpelläsionen bis hin zur Arthrose assoziiert wird [6–8]. In den letzten Jahren konnte zudem auch ein Zusammenhang zwischen konservativ behandelten Rupturen des medialen Seitenbandapparats und einer posttraumatischen Rotationsinstabilität des Kniegelenks gesehen werden. Diese beschriebene mediale bzw. anteromediale Instabilität tritt vor allem bei höhergradigen Rupturen des medialen Seitenbandkomplexes in Kombination mit Begleitverletzungen, wie z.B. der VKB-Ruptur auf [9, 10]. Analog zur anterolateralen Rotationsinstabilität können ebenso anteromediale Instabilitäten zu einem erhöhten Risiko eines VKB-Transplantatversagens beitragen [11]. In Anbetracht dieser Zusammenhänge gewinnen die anterolaterale und anteromediale Stabilisierung des Kniegelenks zunehmend an klinischer Bedeutung. Der folgende Beitrag bietet hierbei einen praxisorientierten Überblick über die aktuell klinisch durchgeführten anteromedialen und anterolateralen Stabilisierungsverfahren, wobei ebenfalls auf die Ätiologie der Instabilitäten sowie deren diagnostische Möglichkeiten näher eingegangen wird (Abb. 1).

Ätiologie der anteromedialen

Instabilität (AMRI) mit beteiligten anatomischen Strukturen

Die anteromediale Rotationsinstabilität (AMRI) des Kniegelenks beschreibt eine pathologische anteriore Subluxation des medialen Tibiaplateaus im Verhältnis zur medialen Femurkondyle. Diese spezifische Instabilität entsteht durch eine Kombination aus exzessivem Valgusstress mit gleichzeitiger Außenrotation des Kniegelenks [1, 12]. In der wissenschaftlichen Literatur wird dem medialen Kapselbandapparat des Kniegelenks eine primär stabilisierende Rolle gegen anteromediale Rotation und Valgusstress beigemessen [12, 13]. Aufgrund der vorrangigen funktionellen Bedeutung des medialen Seitenbandes sowie den weiteren dazugehörigen anatomischen Strukturen des medialen Kniegelenkkompartimentes wird der mediale Kapselbandapparat des Kniegelenks auch als medialer Kollateralbandkomplex bezeichnet. Dieser mediale Kollateralbandkomplex setzt sich aus einer Reihe von Strukturen zusammen, einschließlich des oberflächlichen medialen Kollateralbandes (sMCL), des tiefen medialen Kollateralbandes (dMCL), des anteromedialen Ligaments (AML) – welches den ventralen Kapselbandbereich des dMCL darstellt – sowie des hinteren Schrägbandes (POL) und der posteromedialen Kapsel des Kniegelenks [14]. Das sMCL agiert als primärer Stabilisator gegen Valgusstress in allen Beugegraden sowie gegen tibiale Außenrotation bei einer Knieflexion zwischen 30–90°. Dem dMCL mit seinem anteromedialen Anteil (AML) wird hingegen eine primär stabilisierende Funktion in der tibialen Außenrotation nahe der Extension zugeschrieben [13–15]. Zusätzlich haben Wierer et al. darauf hingewiesen, dass das vordere Kreuzband in Kombination mit dem sMCL zur Hemmung der anteromedialen Translation beiträgt. Bei gleichzeitiger Läsion beider Strukturen wurde eine ausgeprägte anteromediale Instabilität beobachtet [15]. Infolgedessen können Verletzungen des medialen Kniegelenkkompartimentes zu einer anteromedialen Rotationsinstabilität des Kniegelenks führen. Darüber hinaus haben Wierer et al. kürzlich eine Klassifikation der AMRI auf Grundlage von biomechanischen Beobachtungen erstellt. Dabei wird unterschieden zwischen einer reinen Rotationsinstabilität (Grad I) und einer kombinierten Außenrotations- und Valgusinstabilität (Grad II–III). In diesem Kontext ist hauptsächlich das sMCL, das dMCL und das vordere Kreuzband an der AMRI beteiligt [15]. Abschließend sei angemerkt, dass neben einer Verletzung des medialen Kollateralbandkomplexes auch Wurzel- und Rampenläsionen des Innenmeniskushinterhorns in Zusammenhang mit einer zunehmenden rotatorischen Kniegelenkinstabilität stehen könnten [1].

Diagnostik einer AMRI

Die Diagnostik der anteromedialen Rotationsinstabilität des Kniegelenks ist von entscheidender Bedeutung für eine zielgerichtete Therapie, wobei sowohl die klinische Untersuchung als auch bildgebende Verfahren eine zentrale Rolle spielen. Patientinnen und Patienten, die an einer anteromedialen Instabilität des Kniegelenks leiden, beschreiben in der Anamnese typischerweise den initialen Unfallmechanismus als ein Verdrehungstrauma des Kniegelenks, begleitet von einer zusätzlichen valgisierenden Krafteinwirkung. Darauffolgend wird ein mediales Instabilitätsgefühl in frontaler Ebene angegeben [16]. Im Rahmen der klinischen Untersuchung zeigt sich inspektorisch häufig eine ausgeprägte Schwellung und Hauteinblutungen, die gegebenenfalls an der Innenseite des Kniegelenks beobachtet werden können [16]. Eine Palpation der Ursprungs- und Ansatzpunkte der medialen ligamentären Strukturen mit patientenbezogener Angabe einer Druckdolenz ermöglicht erste Rückschlüsse auf die betroffenen anatomischen Strukturen. Verschiedene klinische Tests helfen bei der Diagnose einer anteromedialen Rotationsinstabilität. Dazu gehören die Überprüfung der medialen Aufklappbarkeit in 0°- und 30°-Knieflexion unter Valgusstress, der anteromediale Schubladentest in tibialer Außenrotation und der Dial-Test. Insbesondere bei Vorliegen einer AMRI lässt sich eine vermehrte Laxität des Innenbandapparats in Kombination mit einer anterioren Subluxation des medialen Tibiaplateaus im Rahmen der Testung der medialen Aufklappbarkeit in 30°-Knieflexion und unter Valgusstress feststellen [1]. Hierbei kann die mediale Aufklappbarkeit nach Hughston et al. in 3 Grade klinisch eingeteilt werden, wobei Grad 1+, 2+ und 3+ mit einer medialen Gelenkspalterweiterung von 3–5 mm, 6–10 mm bzw. über 10 mm im Vergleich zur unverletzten Gegenseite korrelieren [17]. Der anteromediale Schubladentest wird in einer Position von 90°-Knieflexion und 10–15° tibialer Außenrotation durchgeführt, wobei eine übermäßige anteriore Subluxation des medialen Tibiaplateaus als pathologisch gewertet wird [12]. Der Dial-Test wird in Rückenlage sowohl bei 30°- als auch bei 90°-Knieflexion durchgeführt. Eine erhöhte tibiale Außenrotation im Vergleich zur Gegenseite, kombiniert mit einer anterioren Subluxation des medialen Tibiaplateaus, deutet auf eine anteromediale Instabilität hin, die durch eine Komplettruptur des medialen Kollateralbandkomplexes verursacht werden kann [1, 12]. Die Bildgebung spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle in der Diagnostik einer AMRI. Die Magnetresonanztomografie ist besonders wertvoll, da sie eine detaillierte Darstellung der verletzten Kapselbandstrukturen des Kniegelenks ermöglicht. Hiermit können Verletzungen des medialen Kollateralbandkomplexes mit hoher Präzision identifiziert werden [10].

Therapeutische Möglichkeiten einer AMRI

Isolierte mediale Verletzungen I./II. Grades nach Hughston zeigen ein hohes Potenzial, konservativ mit guten klinischen Ergebnissen auszuheilen. Ebenfalls können isolierte drittgradige Verletzungen primär konservativ behandelt werden [1]. Die empfohlene konservative Therapie besteht nach einer initialen kurzen PECH-Phase aus frühzeitigen Bewegungsübungen, wobei eine bewegliche Orthese getragen werden sollte [1]. Isolierte Rupturen des medialen Bandapparates treten jedoch selten auf und es besteht bei höhergradigen medialen Verletzungen, Dislokationen der Bandstümpfe oder multiligamentären Läsionen ein hohes Risiko für eine residuelle Instabilität [14]. In Fällen einer ausgeprägten primären anteromedialen Instabilität wird eine zeitnahe operative Intervention empfohlen. Die Auswahl der geeigneten Operationstechnik richtet sich hierbei nach dem radiologischen Erscheinungsbild der medialen Kapselbandverletzung. Bei Avulsionsverletzungen mit Dislokation der Kollateralbandstümpfe sollte eine primäre Refixation unter der Verwendung von Knochenankern angestrebt werden [14]. Insbesondere distale Avulsionsverletzungen des sMCL, die als „Stener-like lesions“ bezeichnet werden, stellen eine typische OP-Indikation dar. Hierbei kommt es zu einer Luxation des distalen Ansatzes des sMCL oberhalb des Pes anserinus, wodurch das sMCL nicht mehr adäquat an seinen tibialen Insertionspunkt anheilen kann [18]. Intraligamentäre Rupturen werden in der Akutsituation hingegen mittels direkter Bandnahttechniken behandelt. Zur Verstärkung der primären Naht kann hier zusätzlich eine Augmentation durch Internal-Bracing mittels eines knöchern verankerten, nicht-resorbierbaren Fadens vorgenommen werden. Bei persistierender Restinstabilität nach Direktnaht kann zudem eine Augmentation mittels einer autologen Gracilissehne durchgeführt werden [14].

Eine weitere Operationstechnik zur primären Stabilisierung des medialen Kollateralbandkomplexes stellt die Kapselduplikatur nach Hughston dar [19]. Hierbei erfolgt nach Exposition der medialen Gelenkkapsel eine Reverankerung des sMCL und POL am jeweiligen proximalen bzw. distalen Insertionspunkt, eine Raffung der Bandstrukturen mittels Durchflechtungsnähten sowie eine Kapselduplikatur durch Steppung der ventralen Anteile des POL mit U-Nähten über das sMCL nach anterior. Zuletzt erfolgt eine Inspektion der Semimembranosus-Sehne und ggf. anteriore Versetzung dieser bei Ruptur oder Elongation. Eine chronisch symptomatische AMRI, insbesondere in Kombination mit weiteren Begleitverletzungen, stellt zudem eine Indikation für eine operative Behandlung dar [2]. Während o.g. primäre Stabilisierungsverfahren in der Akutsituation gute klinische Ergebnisse zeigen, scheint eine alleinige Refixation oder Raffung bei chronisch symptomatischer anteromedialer Instabilität nicht erfolgsversprechend zu sein. Daher wird in diesem Fall eine Augmentation mit Transplantaten empfohlen [14]. Zahlreiche Operationstechniken mit autologen oder allogenen Sehnentransplantaten sind in der Literatur beschrieben. Hierbei ist auf eine korrekte, zentrale Positionierung des Transplantats im femoralen Insertionspunkt des sMCL zu achten, da geringe Abweichungen große Auswirkungen auf die Isometrie haben [2, 20]. Die tibiale Insertion der Sehnenaugmentation scheint hingegen geringere Einflüsse auf die Isometrie zu haben, sofern sie im anatomischen Bereich liegt [2, 20]. Als Autografts werden hauptsächlich Semitendinosussehnen (STT) verwendet, wobei die Funktion der ipsilateralen STT als dynamischer medialer Stabilisator berücksichtigt und somit die kontralaterale STT als Sehnentransplantat entnommen werden sollte [14].

Ätiologie der anterolateralen

Instabilität (ALRI) mit beteiligten anatomischen Strukturen

Anatomische und ätiologische Aspekte der anterolateralen Rotationsinstabilität (ALRI) wurden bereits im Jahr 1879 durch Paul Segond, einem französischen Chirurgen, wissenschaftlich thematisiert. Er beschrieb hierbei eine Avulsionsverletzung im Bereich der proximalen lateralen Tibia, die seiner Meinung nach durch einen knöchernen Ausriss einer anterolateral verlaufenden, bandähnlichen Struktur verursacht wurde [21, 22]. Zur genaueren Identifizierung der anterolateral stabilisierenden Strukturen des Kniegelenks folgten zahlreiche Publikationen mit anatomischen und funktionellen Beschreibungen des anterolateralen Kapselbandapparats, wobei die von Segond beschriebene Struktur unterschiedliche Bezeichnungen erhielt [21]. 2013 beleuchtete Claes et al. erneut dieses Thema und identifizierte in 41 Kadaverkniepräparaten eine klar abgrenzbare, ligamentäre Struktur, die als anterolaterales Ligament (ALL) bezeichnet wurde [23]. Diese Erkenntnisse lösten intensive Diskussionen über die biomechanische Rolle des ALL bei der Hemmung der anterolateralen Rotation aus. In diesem Kontext wurden die anterolateral stabilisierenden Strukturen zunächst als anterolateraler Komplex (ALC) zusammengefasst [24]. Der ALC besteht hierbei aus verschiedenen Schichten, wobei der Tractus iliotibialis, der auch als iliotibiales Band (ITB) bezeichnet wird, den Hauptbestandteil bildet [2]. In absteigender Reihenfolge (von oberflächlichen zu tiefen Anteilen des ALC) können folgende Strukturen unterschieden werden: das oberflächliche ITB mit seinen Faserausläufern in Richtung Patella und Patellarsehne (auch als iliopatellares Band bezeichnet), das tiefe ITB mit den dazugehörigen Kaplan-Fasern als suprakondyläre sowie retrograde (kondyläre) Anhaftungen am distalen Femur, das ALL und die anterolaterale Kapsel [24].

Der anterolaterale Komplex und das vordere Kreuzband spielen eine entscheidende Rolle in der Biomechanik des Kniegelenks, insbesondere im Hinblick auf die tibiale Translation und Innenrotation. Der funktionell-anatomische Verlauf des anterolateralen Komplexes ähnelt dem des vorderen Kreuzbandes, weshalb von einem synergetischen Effekt beider Strukturen auf die Hemmung dieser Bewegungen ausgegangen werden kann [2]. Zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten haben sich bereits mit den biomechanischen Eigenschaften dieser beiden Strukturen auseinandergesetzt. Zusammenfassend kann hierbei festgestellt werden, dass das vordere Kreuzband als primärer Stabilisator gegen anterolaterale Rotationsinstabilität, insbesondere in der Extension, fungiert. Im Gegensatz dazu agieren der Tractus iliotibialis, die Kaplan-Fasern, das ALL, die anterolaterale Kapsel und der laterale Meniskus als sekundäre Stabilisatoren [1, 24]. Diese biomechanischen Erkenntnisse legen nahe, dass eine korrekte anatomische Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes zunächst das primäre Therapieziel in der Behandlung einer anterolateralen Rotationsinstabilität darstellt. Dennoch sollten Verletzungen des anterolateralen Komplexes bei der operativen Entscheidungsfindung berücksichtigt und gegebenenfalls zusätzlich behandelt werden, um die Entwicklung einer chronisch residuellen Rotationsinstabilität zu vermeiden. Ebenfalls sollte bei ausgeprägten Instabilitäten mit signifikant positivem Pivot-Shift auch im Primärfall eine VKB-Ersatzplastik in Kombination mit einer anterolateralen Stabilisierung in Erwägung gezogen werden. Auch bei einem Versagen einer VKB-Plastik sollte ein besonderes Augenmerk auf die anterolateralen Strukturen gelegt werden und ggf. in der Revision mit adressiert werden.

Diagnostik einer ALRI

Analog zur AMRI schildern Patientinnen und Patienten anamnestisch oftmals ein Rotationstrauma des Kniegelenks, welches durch eine vermehrte Innenrotationsbewegung der Tibia im Verhältnis zum Femur charakterisiert ist. Posttraumatisch werden Schmerzen, Schwellung und ein Instabilitätsgefühl im lateralen Kniegelenkkompartiment angegeben. Bei der klinischen Untersuchung ist es von Bedeutung, auf eine Weichteilschwellung und Druckschmerzhaftigkeit im lateralen Kompartiment, speziell auf Höhe des Fibularköpfchens und des Tuberculum Gerdii zu achten. Darüber hinaus sollten weitere anatomisch tastbare Landmarken zur groben Eingrenzung des Verletzungsausmaßes palpiert werden. Neben der obligaten klinischen Untersuchung der Kollateralbänder und des hinteren Kreuzbandes ist eine detaillierte Stabilitätsüberprüfung des vorderen Kreuzbandes mittels des vorderen Schubladen-Tests und des Lachman-Tests essenziell. [6].

Zur Überprüfung einer anterolateralen Rotationsinstabilität sind der Pivot-Shift-Test sowie die anterolaterale Rotationsschublade von bedeutsamer klinischer Relevanz. Bei der Durchführung der anterolateralen Rotationsschublade in 90°-Knieflexion und 10–15° tibialer Innenrotation wird eine pathologisch erhöhte anteriore Subluxation des lateralen Tibiaplateaus im Seitenvergleich als positiv gewertet. Der Pivot-Shift-Test ist subjektiv und hängt in hohem Maße von der klinischen Erfahrung und der standardisierten Durchführung ab [6]. Im Rahmen dieser Untersuchung wird auf das intial gestreckte Kniegelenk unter zunehmender Knieflexion Valgusstress und tibiale Innenrotation ausgeübt. Im Falle einer VKB-Insuffizienz bzw. anterolateralen Rotationsinstabilität wird mittels dieses Manövers eine laterale Subluxation des Tibiaplateaus nach anterior provoziert. Durch Zug des Tractus iliotibialis nach dorsal erfolgt ab einer Flexion über 30° eine Reposition der Subluxation. Der Test wird bei einer schmerzhaften Subluxation und anschließenden Reposition des Tibiaplateaus als positiv gewertet. Eine zuverlässige Durchführung ist jedoch oft nur nach Abklingen des akuten Verletzungsstadiums oder unter Narkose möglich [25]. Eine klinische Evaluierung, die sich auf die Arbeit von Jakob et al. stützt, kategorisiert die Befunde des Pivot-Shift-Tests in 3 Schweregrade. Bei Grad I zeigt sich eine laterale Subluxation der Tibia ausschließlich bei maximaler Innenrotation der Tibia, wobei kein Pivot-Phänomen in einer Außenrotations- oder Neutralstellung erkennbar ist. Grad II charakterisiert sich durch eine Subluxation der Tibia sowohl bei tibialer Innenrotation als auch in neutraler Rotationsstellung. Der dritte und schwerste Grad, Grad III, weist ein Pivotieren des Tibiaplateaus in allen Rotationsrichtungen auf und deutet somit auf eine kombinierte anteromediale und anterolaterale Instabilität hin [25]. In der bildgebenden Diagnostik können konventionelle Röntgenaufnahmen des Kniegelenks in 3 Ebenen zum Ausschluss einer Fraktur oder eines knöchernen Bandausrisses herangezogen werden. Das Vorhandensein einer pathognomonischen Segond-Fraktur kann hierbei auf eine Beteiligung der anterolateralen Strukturen hindeuten [22]. Dennoch spielt die Röntgendiagnostik bei der ALRI insgesamt eine untergeordnete Rolle [6]. Im Gegensatz dazu wird der Magnetresonanztomografie eine höhere Bedeutung in der Diagnostik der ALRI zugeschrieben. Besonders die Darstellung einer Ruptur der Kaplan-Fasern, die auf eine anterolaterale Rotationsinstabilität hindeutet, ist unter Verwendung dreidimensionaler MRT-Sequenzen möglich [26].

Therapeutische Möglichkeiten einer ALRI

Aus ätiologischer und biomechanischer Sicht zielt die primäre Therapie einer anterolateralen Rotationsinstabilität zunächst auf die anatomische Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes ab. Dennoch haben Untersuchungen gezeigt, dass trotz korrekter VKB-Rekonstruktion eine anhaltende anterolaterale Rotationsinstabilität ein schlechteres klinisches Ergebnis bewirken und sogar zum Versagen des VKB-Transplantats führen kann [3, 4, 27]. Insbesondere junge und sportlich aktive Patientinnen und Patienten weisen ein erhöhtes Risiko für ein Versagen der primären VKB-Rekonstruktion auf [6, 28]. Die 2020 veröffentlichte STABILITY-Studie unterstreicht hierbei die Bedeutung der kombinierten VKB-Rekonstruktion mit zusätzlicher anterolateraler Stabilisierung, da sie nach 24 Monaten signifikant geringere VKB-Rerupturraten und anterolaterale Rotationsinstabilitäten im Vergleich zur isolierten VKB-Rekonstruktion aufzeigt [27]. Nach Berthold et al. sollte die Indikation zur anterolateralen Stabilisierung bei Vorliegen folgender patientenspezifischer Faktoren in Erwägung gezogen werden: junges Alter (vor allem Kinder/Jugendliche), erhöhte sportliche Aktivität, das Vorhandensein eines drittgradig positiven Pivot-Shift, eine vermehrte Hyperlaxität, eine klinisch ausgeprägte anteriore Translation im Seitenvergleich, einen erhöhten lateralen tibialen Slope, ein Genu recurvatum oder das Vorliegen von Begleitpathologien, wie z.B. Meniskusverletzungen. Ferner wird darauf hingewiesen, dass im Falle einer VKB-Reruptur die Indikation zur zusätzlichen anterolateralen Stabilisierung großzügiger gestellt werden sollte [6]. In der operativen Rekonstruktion der anterolateral stabilisierenden Strukturen können hauptsächlich 2 Arten unterschieden werden: Die anterolaterale extraartikuläre Tenodese (LET) modifiziert nach Lemaire sowie die anatomische ALL-Rekonstruktion.

Bei der LET wird die anterolaterale Rotationsinstabilität mittels eines distal gestielten Streifens aus dem Tractus iliotibialis adressiert. Entscheidende Eckpunkte des chirurgischen Eingriffes sollen im Folgenden erläutert werden [2]. Nach subkutaner Darstellung des Tractus iliotibialis und Präparation eines 1 cm breiten Tractusstreifens, der sich distal vom Tuberculum Gerdii ausgehend bis 3 cm proximal über den Epicondylus lateralis hinaus erstreckt, erfolgt die Positionierung eines Kirschner-Drahtes im femoralen Insertionspunkt, welcher sich jeweils 5–7 mm proximal und dorsal des lateralen Epicondylus befindet. Da die LET häufig in Kombination mit einer VKB-Plastik durchgeführt wird, sollte hierbei auf die Vermeidung von femoralen Tunnelkonflikten geachtet werden. Nach Überbohrung des K-Drahtes wird der Tractussreifen anschließend unter dem lateralen Kollateralband, welches zuvor mit einem Faden untershuttelt wurde, durchgezogen und mittels eines weiteren Shuttlefadens in den femoralen Bohrkanal eingezogen. Die knöcherne Fixation des Transplantats erfolgt mittels einer Interferenzschraube in 70°-Kniebeugung und neutraler tibialer Rotationsstellung. Zuletzt erfolgt eine vollständige Readaptation des Tractus iliotibialis und ein schichtweiser Wundverschluss.

Die ALL-Rekonstruktion hingegen zielt auf das anterolaterale Ligament als anatomische Struktur ab. Der operative Ablauf, der u.a. auf dem Konsensuspapier der ALL Expert Group und den Arbeiten von Sonnery-Cottet et al. basiert, wird im Folgenden kurz erörtert [29, 30]. Nach Entnahme der Gracilissehne in üblicher Technik erfolgt zunächst die Herstellung eines umgekehrt Y-förmigen Transplantats. Der entstandene Einzelstrang bildet hierbei den femoralen Anteil, die beiden Sehnenschenkel den tibialen Anteil des Transplantats. Nach minimalinvasiver Inzision im Bereich der anatomischen Landmarken sowie Präparation bis auf den Knochen, erfolgt die Platzierung von Kirschner-Drähten im femoralen Insertionspunkt, welcher sich proximal und posterior des Epicondylus lateralis befindet, und in den beiden tibialen Ansatzpunkten, die sich zum einen mittig zwischen dem Zentrum des Tuberculum Gerdii und des Fibulaköpfchens, zum anderen auf Höhe der superolateralen Begrenzung des Tuberculum Gerdii befinden. Nach Überprüfung der Isometrie und Überbohrung der K-Drähte wird das Transplantat zunächst femoral knöchern verankert und die tibialen Sehnenschenkel unter dem Tractus iliotibials nach distal ausgeleitet. In voller Extension des Kniegelenks erfolgt anschließend die tibiale Verankerung der Sehnenschenkel auf Höhe der jeweiligen tibialen Bohrkanäle. Zuletzt werden die überschüssigen Sehnenanteile reseziert und die Wunden schichtweise verschlossen.

Schlussfolgerung

Diese Arbeit bietet einen detaillierten Einblick in die anteromediale (AMRI) und anterolaterale (ALRI) Rotationsinstabilität des Kniegelenks. Der mediale Kollateralbandkomplex spielt hierbei eine zentrale Rolle in der Verhinderung einer AMRI. Die ALRI hingegen ist stark mit dem anterolateralen Ligament und dem Tractus iliotibialis verbunden. Anteromediale und anterolaterale Stabilisierungsverfahren des Kniegelenks sind entscheidend für die erfolgreiche Behandlung von Rotationsinstabilitäten, insbesondere da diese Instabilitäten auch nach einer primären Kreuzbandplastik chronisch persistieren können. Die Wahl der geeigneten chirurgischen Technik hängt von der spezifischen Art der Instabilität und den beteiligten Strukturen ab. Es ist von größter Bedeutung, die Mechanismen hinter diesen Instabilitäten und die damit verbundenen chirurgischen Interventionen zu verstehen. Zukünftige Studien sind notwendig, um den langfristigen Erfolg dieser chirurgischen Interventionen weiter zu evaluieren und zu verbessern.

Interessenkonflikte:

Keine angegeben.

Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf:
www.online-oup.de.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Johannes Zellner

Sporthopaedicum Regensburg

Hildegard-von-Bingen-Straße 1

93053 Regensburg

zellner@sporthopaedicum.de

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