Übersichtsarbeiten - OUP 06/2024

Die anteromediale und anterolaterale Stabilisierung des Kniegelenks
Ein Überblick

Der anterolaterale Komplex und das vordere Kreuzband spielen eine entscheidende Rolle in der Biomechanik des Kniegelenks, insbesondere im Hinblick auf die tibiale Translation und Innenrotation. Der funktionell-anatomische Verlauf des anterolateralen Komplexes ähnelt dem des vorderen Kreuzbandes, weshalb von einem synergetischen Effekt beider Strukturen auf die Hemmung dieser Bewegungen ausgegangen werden kann [2]. Zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten haben sich bereits mit den biomechanischen Eigenschaften dieser beiden Strukturen auseinandergesetzt. Zusammenfassend kann hierbei festgestellt werden, dass das vordere Kreuzband als primärer Stabilisator gegen anterolaterale Rotationsinstabilität, insbesondere in der Extension, fungiert. Im Gegensatz dazu agieren der Tractus iliotibialis, die Kaplan-Fasern, das ALL, die anterolaterale Kapsel und der laterale Meniskus als sekundäre Stabilisatoren [1, 24]. Diese biomechanischen Erkenntnisse legen nahe, dass eine korrekte anatomische Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes zunächst das primäre Therapieziel in der Behandlung einer anterolateralen Rotationsinstabilität darstellt. Dennoch sollten Verletzungen des anterolateralen Komplexes bei der operativen Entscheidungsfindung berücksichtigt und gegebenenfalls zusätzlich behandelt werden, um die Entwicklung einer chronisch residuellen Rotationsinstabilität zu vermeiden. Ebenfalls sollte bei ausgeprägten Instabilitäten mit signifikant positivem Pivot-Shift auch im Primärfall eine VKB-Ersatzplastik in Kombination mit einer anterolateralen Stabilisierung in Erwägung gezogen werden. Auch bei einem Versagen einer VKB-Plastik sollte ein besonderes Augenmerk auf die anterolateralen Strukturen gelegt werden und ggf. in der Revision mit adressiert werden.

Diagnostik einer ALRI

Analog zur AMRI schildern Patientinnen und Patienten anamnestisch oftmals ein Rotationstrauma des Kniegelenks, welches durch eine vermehrte Innenrotationsbewegung der Tibia im Verhältnis zum Femur charakterisiert ist. Posttraumatisch werden Schmerzen, Schwellung und ein Instabilitätsgefühl im lateralen Kniegelenkkompartiment angegeben. Bei der klinischen Untersuchung ist es von Bedeutung, auf eine Weichteilschwellung und Druckschmerzhaftigkeit im lateralen Kompartiment, speziell auf Höhe des Fibularköpfchens und des Tuberculum Gerdii zu achten. Darüber hinaus sollten weitere anatomisch tastbare Landmarken zur groben Eingrenzung des Verletzungsausmaßes palpiert werden. Neben der obligaten klinischen Untersuchung der Kollateralbänder und des hinteren Kreuzbandes ist eine detaillierte Stabilitätsüberprüfung des vorderen Kreuzbandes mittels des vorderen Schubladen-Tests und des Lachman-Tests essenziell. [6].

Zur Überprüfung einer anterolateralen Rotationsinstabilität sind der Pivot-Shift-Test sowie die anterolaterale Rotationsschublade von bedeutsamer klinischer Relevanz. Bei der Durchführung der anterolateralen Rotationsschublade in 90°-Knieflexion und 10–15° tibialer Innenrotation wird eine pathologisch erhöhte anteriore Subluxation des lateralen Tibiaplateaus im Seitenvergleich als positiv gewertet. Der Pivot-Shift-Test ist subjektiv und hängt in hohem Maße von der klinischen Erfahrung und der standardisierten Durchführung ab [6]. Im Rahmen dieser Untersuchung wird auf das intial gestreckte Kniegelenk unter zunehmender Knieflexion Valgusstress und tibiale Innenrotation ausgeübt. Im Falle einer VKB-Insuffizienz bzw. anterolateralen Rotationsinstabilität wird mittels dieses Manövers eine laterale Subluxation des Tibiaplateaus nach anterior provoziert. Durch Zug des Tractus iliotibialis nach dorsal erfolgt ab einer Flexion über 30° eine Reposition der Subluxation. Der Test wird bei einer schmerzhaften Subluxation und anschließenden Reposition des Tibiaplateaus als positiv gewertet. Eine zuverlässige Durchführung ist jedoch oft nur nach Abklingen des akuten Verletzungsstadiums oder unter Narkose möglich [25]. Eine klinische Evaluierung, die sich auf die Arbeit von Jakob et al. stützt, kategorisiert die Befunde des Pivot-Shift-Tests in 3 Schweregrade. Bei Grad I zeigt sich eine laterale Subluxation der Tibia ausschließlich bei maximaler Innenrotation der Tibia, wobei kein Pivot-Phänomen in einer Außenrotations- oder Neutralstellung erkennbar ist. Grad II charakterisiert sich durch eine Subluxation der Tibia sowohl bei tibialer Innenrotation als auch in neutraler Rotationsstellung. Der dritte und schwerste Grad, Grad III, weist ein Pivotieren des Tibiaplateaus in allen Rotationsrichtungen auf und deutet somit auf eine kombinierte anteromediale und anterolaterale Instabilität hin [25]. In der bildgebenden Diagnostik können konventionelle Röntgenaufnahmen des Kniegelenks in 3 Ebenen zum Ausschluss einer Fraktur oder eines knöchernen Bandausrisses herangezogen werden. Das Vorhandensein einer pathognomonischen Segond-Fraktur kann hierbei auf eine Beteiligung der anterolateralen Strukturen hindeuten [22]. Dennoch spielt die Röntgendiagnostik bei der ALRI insgesamt eine untergeordnete Rolle [6]. Im Gegensatz dazu wird der Magnetresonanztomografie eine höhere Bedeutung in der Diagnostik der ALRI zugeschrieben. Besonders die Darstellung einer Ruptur der Kaplan-Fasern, die auf eine anterolaterale Rotationsinstabilität hindeutet, ist unter Verwendung dreidimensionaler MRT-Sequenzen möglich [26].

Therapeutische Möglichkeiten einer ALRI

Aus ätiologischer und biomechanischer Sicht zielt die primäre Therapie einer anterolateralen Rotationsinstabilität zunächst auf die anatomische Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes ab. Dennoch haben Untersuchungen gezeigt, dass trotz korrekter VKB-Rekonstruktion eine anhaltende anterolaterale Rotationsinstabilität ein schlechteres klinisches Ergebnis bewirken und sogar zum Versagen des VKB-Transplantats führen kann [3, 4, 27]. Insbesondere junge und sportlich aktive Patientinnen und Patienten weisen ein erhöhtes Risiko für ein Versagen der primären VKB-Rekonstruktion auf [6, 28]. Die 2020 veröffentlichte STABILITY-Studie unterstreicht hierbei die Bedeutung der kombinierten VKB-Rekonstruktion mit zusätzlicher anterolateraler Stabilisierung, da sie nach 24 Monaten signifikant geringere VKB-Rerupturraten und anterolaterale Rotationsinstabilitäten im Vergleich zur isolierten VKB-Rekonstruktion aufzeigt [27]. Nach Berthold et al. sollte die Indikation zur anterolateralen Stabilisierung bei Vorliegen folgender patientenspezifischer Faktoren in Erwägung gezogen werden: junges Alter (vor allem Kinder/Jugendliche), erhöhte sportliche Aktivität, das Vorhandensein eines drittgradig positiven Pivot-Shift, eine vermehrte Hyperlaxität, eine klinisch ausgeprägte anteriore Translation im Seitenvergleich, einen erhöhten lateralen tibialen Slope, ein Genu recurvatum oder das Vorliegen von Begleitpathologien, wie z.B. Meniskusverletzungen. Ferner wird darauf hingewiesen, dass im Falle einer VKB-Reruptur die Indikation zur zusätzlichen anterolateralen Stabilisierung großzügiger gestellt werden sollte [6]. In der operativen Rekonstruktion der anterolateral stabilisierenden Strukturen können hauptsächlich 2 Arten unterschieden werden: Die anterolaterale extraartikuläre Tenodese (LET) modifiziert nach Lemaire sowie die anatomische ALL-Rekonstruktion.

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