Übersichtsarbeiten - OUP 06/2024
Die anteromediale und anterolaterale Stabilisierung des KniegelenksEin Überblick
Die Diagnostik der anteromedialen Rotationsinstabilität des Kniegelenks ist von entscheidender Bedeutung für eine zielgerichtete Therapie, wobei sowohl die klinische Untersuchung als auch bildgebende Verfahren eine zentrale Rolle spielen. Patientinnen und Patienten, die an einer anteromedialen Instabilität des Kniegelenks leiden, beschreiben in der Anamnese typischerweise den initialen Unfallmechanismus als ein Verdrehungstrauma des Kniegelenks, begleitet von einer zusätzlichen valgisierenden Krafteinwirkung. Darauffolgend wird ein mediales Instabilitätsgefühl in frontaler Ebene angegeben [16]. Im Rahmen der klinischen Untersuchung zeigt sich inspektorisch häufig eine ausgeprägte Schwellung und Hauteinblutungen, die gegebenenfalls an der Innenseite des Kniegelenks beobachtet werden können [16]. Eine Palpation der Ursprungs- und Ansatzpunkte der medialen ligamentären Strukturen mit patientenbezogener Angabe einer Druckdolenz ermöglicht erste Rückschlüsse auf die betroffenen anatomischen Strukturen. Verschiedene klinische Tests helfen bei der Diagnose einer anteromedialen Rotationsinstabilität. Dazu gehören die Überprüfung der medialen Aufklappbarkeit in 0°- und 30°-Knieflexion unter Valgusstress, der anteromediale Schubladentest in tibialer Außenrotation und der Dial-Test. Insbesondere bei Vorliegen einer AMRI lässt sich eine vermehrte Laxität des Innenbandapparats in Kombination mit einer anterioren Subluxation des medialen Tibiaplateaus im Rahmen der Testung der medialen Aufklappbarkeit in 30°-Knieflexion und unter Valgusstress feststellen [1]. Hierbei kann die mediale Aufklappbarkeit nach Hughston et al. in 3 Grade klinisch eingeteilt werden, wobei Grad 1+, 2+ und 3+ mit einer medialen Gelenkspalterweiterung von 3–5 mm, 6–10 mm bzw. über 10 mm im Vergleich zur unverletzten Gegenseite korrelieren [17]. Der anteromediale Schubladentest wird in einer Position von 90°-Knieflexion und 10–15° tibialer Außenrotation durchgeführt, wobei eine übermäßige anteriore Subluxation des medialen Tibiaplateaus als pathologisch gewertet wird [12]. Der Dial-Test wird in Rückenlage sowohl bei 30°- als auch bei 90°-Knieflexion durchgeführt. Eine erhöhte tibiale Außenrotation im Vergleich zur Gegenseite, kombiniert mit einer anterioren Subluxation des medialen Tibiaplateaus, deutet auf eine anteromediale Instabilität hin, die durch eine Komplettruptur des medialen Kollateralbandkomplexes verursacht werden kann [1, 12]. Die Bildgebung spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle in der Diagnostik einer AMRI. Die Magnetresonanztomografie ist besonders wertvoll, da sie eine detaillierte Darstellung der verletzten Kapselbandstrukturen des Kniegelenks ermöglicht. Hiermit können Verletzungen des medialen Kollateralbandkomplexes mit hoher Präzision identifiziert werden [10].
Therapeutische Möglichkeiten einer AMRI
Isolierte mediale Verletzungen I./II. Grades nach Hughston zeigen ein hohes Potenzial, konservativ mit guten klinischen Ergebnissen auszuheilen. Ebenfalls können isolierte drittgradige Verletzungen primär konservativ behandelt werden [1]. Die empfohlene konservative Therapie besteht nach einer initialen kurzen PECH-Phase aus frühzeitigen Bewegungsübungen, wobei eine bewegliche Orthese getragen werden sollte [1]. Isolierte Rupturen des medialen Bandapparates treten jedoch selten auf und es besteht bei höhergradigen medialen Verletzungen, Dislokationen der Bandstümpfe oder multiligamentären Läsionen ein hohes Risiko für eine residuelle Instabilität [14]. In Fällen einer ausgeprägten primären anteromedialen Instabilität wird eine zeitnahe operative Intervention empfohlen. Die Auswahl der geeigneten Operationstechnik richtet sich hierbei nach dem radiologischen Erscheinungsbild der medialen Kapselbandverletzung. Bei Avulsionsverletzungen mit Dislokation der Kollateralbandstümpfe sollte eine primäre Refixation unter der Verwendung von Knochenankern angestrebt werden [14]. Insbesondere distale Avulsionsverletzungen des sMCL, die als „Stener-like lesions“ bezeichnet werden, stellen eine typische OP-Indikation dar. Hierbei kommt es zu einer Luxation des distalen Ansatzes des sMCL oberhalb des Pes anserinus, wodurch das sMCL nicht mehr adäquat an seinen tibialen Insertionspunkt anheilen kann [18]. Intraligamentäre Rupturen werden in der Akutsituation hingegen mittels direkter Bandnahttechniken behandelt. Zur Verstärkung der primären Naht kann hier zusätzlich eine Augmentation durch Internal-Bracing mittels eines knöchern verankerten, nicht-resorbierbaren Fadens vorgenommen werden. Bei persistierender Restinstabilität nach Direktnaht kann zudem eine Augmentation mittels einer autologen Gracilissehne durchgeführt werden [14].
Eine weitere Operationstechnik zur primären Stabilisierung des medialen Kollateralbandkomplexes stellt die Kapselduplikatur nach Hughston dar [19]. Hierbei erfolgt nach Exposition der medialen Gelenkkapsel eine Reverankerung des sMCL und POL am jeweiligen proximalen bzw. distalen Insertionspunkt, eine Raffung der Bandstrukturen mittels Durchflechtungsnähten sowie eine Kapselduplikatur durch Steppung der ventralen Anteile des POL mit U-Nähten über das sMCL nach anterior. Zuletzt erfolgt eine Inspektion der Semimembranosus-Sehne und ggf. anteriore Versetzung dieser bei Ruptur oder Elongation. Eine chronisch symptomatische AMRI, insbesondere in Kombination mit weiteren Begleitverletzungen, stellt zudem eine Indikation für eine operative Behandlung dar [2]. Während o.g. primäre Stabilisierungsverfahren in der Akutsituation gute klinische Ergebnisse zeigen, scheint eine alleinige Refixation oder Raffung bei chronisch symptomatischer anteromedialer Instabilität nicht erfolgsversprechend zu sein. Daher wird in diesem Fall eine Augmentation mit Transplantaten empfohlen [14]. Zahlreiche Operationstechniken mit autologen oder allogenen Sehnentransplantaten sind in der Literatur beschrieben. Hierbei ist auf eine korrekte, zentrale Positionierung des Transplantats im femoralen Insertionspunkt des sMCL zu achten, da geringe Abweichungen große Auswirkungen auf die Isometrie haben [2, 20]. Die tibiale Insertion der Sehnenaugmentation scheint hingegen geringere Einflüsse auf die Isometrie zu haben, sofern sie im anatomischen Bereich liegt [2, 20]. Als Autografts werden hauptsächlich Semitendinosussehnen (STT) verwendet, wobei die Funktion der ipsilateralen STT als dynamischer medialer Stabilisator berücksichtigt und somit die kontralaterale STT als Sehnentransplantat entnommen werden sollte [14].
Ätiologie der anterolateralen
Instabilität (ALRI) mit beteiligten anatomischen Strukturen
Anatomische und ätiologische Aspekte der anterolateralen Rotationsinstabilität (ALRI) wurden bereits im Jahr 1879 durch Paul Segond, einem französischen Chirurgen, wissenschaftlich thematisiert. Er beschrieb hierbei eine Avulsionsverletzung im Bereich der proximalen lateralen Tibia, die seiner Meinung nach durch einen knöchernen Ausriss einer anterolateral verlaufenden, bandähnlichen Struktur verursacht wurde [21, 22]. Zur genaueren Identifizierung der anterolateral stabilisierenden Strukturen des Kniegelenks folgten zahlreiche Publikationen mit anatomischen und funktionellen Beschreibungen des anterolateralen Kapselbandapparats, wobei die von Segond beschriebene Struktur unterschiedliche Bezeichnungen erhielt [21]. 2013 beleuchtete Claes et al. erneut dieses Thema und identifizierte in 41 Kadaverkniepräparaten eine klar abgrenzbare, ligamentäre Struktur, die als anterolaterales Ligament (ALL) bezeichnet wurde [23]. Diese Erkenntnisse lösten intensive Diskussionen über die biomechanische Rolle des ALL bei der Hemmung der anterolateralen Rotation aus. In diesem Kontext wurden die anterolateral stabilisierenden Strukturen zunächst als anterolateraler Komplex (ALC) zusammengefasst [24]. Der ALC besteht hierbei aus verschiedenen Schichten, wobei der Tractus iliotibialis, der auch als iliotibiales Band (ITB) bezeichnet wird, den Hauptbestandteil bildet [2]. In absteigender Reihenfolge (von oberflächlichen zu tiefen Anteilen des ALC) können folgende Strukturen unterschieden werden: das oberflächliche ITB mit seinen Faserausläufern in Richtung Patella und Patellarsehne (auch als iliopatellares Band bezeichnet), das tiefe ITB mit den dazugehörigen Kaplan-Fasern als suprakondyläre sowie retrograde (kondyläre) Anhaftungen am distalen Femur, das ALL und die anterolaterale Kapsel [24].