Übersichtsarbeiten - OUP 03/2016
Essex-Lopresti-Verletzung – doch nicht so selten?
Christian Ries1, Kilian Wegmann1, Michael Hackl1, Klaus J. Burkhart2, Lars P. Müller1
Zusammenfassung: Die vollständige akute Essex-
Lopresti Läsion stellt eine seltene Verletzung dar. Wird sie übersehen oder nicht adäquat behandelt, kommt es durch die vorliegende longitudinale Instabilität zu einer
Proximalisierung des Radius mit konsekutivem ulnocarpalem und radiocapitellarem Impingement. Die sorgfältige klinische Untersuchung und der Einsatz von adäquater Bildgebung dienen der frühzeitigen Diagnosestellung. Durch Rekonstruktion bzw. Ersatz des Radiuskopfs und Adressierung der sekundären Stabilisatoren lassen sich bei der akuten Verletzung gute klinische Ergebnisse erzielen. Im Falle der Chronifizierung ist das klinische Ergebnis deutlich schlechter. Das Therapieregime der chronischen Essex-Lopresti-Läsion ist ebenfalls komplex und schließt die Rekonstruktion des proximalen und des distalen Radioulnargelenks sowie die Rekonstruktion der Membrana interossea ein.
Schlüsselwörter: distales Radioulnargelenk, Essex-Lopresti,
Radiuskopffraktur, longitudinale Instabilität, Membrana
interossea, Ruptur
Zitierweise
Ries C, Wegmann K, Hackl M, Burkhart KJ, Müller LP: Essex-Lopresti-Verletzung – doch nicht so selten?
OUP 2016; 3: 154–159 DOI 10.3238/oup.2016.0154–0159
Summary: The “full blown” Essex-Lopresti lesion represents a rare injury. If the diagnosis is missed, radial shortening occurs due to the longitudinal instability and will be accompanied by ulnocarpal and radiocapitellar impingement. Thorough clinical examination and use of adequate imaging are mandatory for an early diagnosis. Radial head reconstruction or replacement and repair of secondary forearm stabilizers are important to obtain a good clinical outcome in acute cases. Chronic Essex-Lopresti lesions are often associated with poor results. The surgical treatment of a chronic Essex-Lopresti lesion is likewise complex and should address the proximal and distal radioulnar joint and should also include reconstruction of the interosseous membrane.
Keywords: distal radioulnar joint, Essex-Lopresti, radial head fracture, longitudinal instability, interosseous membrane,
rupture
Zitierweise
Ries C, Wegmann K, Hackl M, Burkhart KJ, Müller LP: Essex-Lopresi-lesion – as rare as assumed?
OUP 2016; 3: 154–159 DOI 10.3238/oup.2016.0154–0159
Einleitung
Die Essex-Lopresti-Läsion ist eine hoch energetische Verletzung der oberen Extremität, bei der Ellenbogen, Unterarm und Handgelenk im Sinne einer Kettenverletzung betroffen sind. Bei der voll ausgeprägten Essex-Lopresti-Läsion kommt es zu einer Radiuskopffraktur, einer Zerreißung der Membrana interossea (MI) und einer Dislokation des distalen Radioulnargelenks (DRUG). Ihren Eigennamen („Eponym“) bekam die Verletzungskombination posthum durch Peter Gordon Lawrence Essex-Lopresti (*07.04.1914 †13.06.1951), der während seiner Zeit am Birmingham Accident Hospital seine klassische Arbeit zur Radiuskopffraktur verfasste [1, 2]. Essex-Lopresti beobachtete nach Radiuskopfresektion bei stattgehabter Radiuskopftrümmerfraktur eine progrediente Proximalisierung des Radius mit begleitendem ulnocarpalem Impingement und zusätzlicher radialer Deviation des Handgelenks. Essex-Lopresti stellte fest, dass die Radiuskopfresektion bei gleichzeitiger Läsion der MI und des DRUG eine longitudinale Instabilität des Unterarms noch verstärkt und mit einem schlechten funktionalen Ergebnis einhergeht. Er schlussfolgerte, dass – durch Rekonstruktion oder prothetischen Ersatz des Radiuskopfs – der Erhalt der longitudinalen Stabilität des Unterarms angestrebt werden müsse. Bemerkenswert an dieser Einschätzung war, dass Radiuskopfprothesen zwar schon 1941 durch Kellogg Speed beschrieben, aber zum Zeitpunkt der Publikation von Essex-Lopresti (1951) noch nicht regelmäßig implantiert wurden [3].
Durch den Wegfall des primären Stabilisators – dem Radiuskopf – gegen axiale Belastung und durch den zusätzlichen Verlust der sekundären Stabilisatoren – MI und TFCC („triangular fibrocartilage complex“) – resultiert eine longitudinale Instabilität des Unterarms [4]. Die Arbeitsgruppe um Hausmann [5] konnte anhand von MRT-Untersuchungen selbst für einfache Radiuskopffrakturen (Mason Typ I) in 9 von 14 Fällen eine zumindest anteilige Läsion der Membrana interossea aufzeigen. Somit ist bei der in ihrer Gesamtheit häufigen Radiuskopffraktur (30 % aller Ellenbogenfrakturen, 5 % aller Frakturen überhaupt [6]) immer auch eine ligamentäre Läsion in Betracht zu ziehen.
Bei einer zu spät diagnostizierten oder zu spät therapierten Instabilität ist das Risiko eines schlechten klinischen Ergebnisses deutlich erhöht. Trousdale et al. [7] legten in ihrer Studie dar, dass nur bei 25 % der insgesamt 20 nachuntersuchten Patienten initial eine Essex-Lopresti-Läsion korrekt diagnostiziert wurde. Innerhalb des verspätet diagnostizierten Patientenkollektivs konnte im Verlauf lediglich bei 20 % ein gutes klinisches Ergebnis erzielt werden [7].
In der vorliegenden Arbeit werden unter Berücksichtigung der anatomischen Grundlagen und des angenommenen Pathomechanismus der Essex-Lopresti-Läsion diagnostische sowie therapeutische Vorgehensweisen dargestellt.
Anatomische Grundlagen
Der Unterarm – bestehend aus Ulna und Radius – bildet eine funktionelle Einheit und ist im proximalen (PRUG) bzw. distalen Radioulnargelenk (DRUG) miteinander verbunden. Als sekundärer Stabilisator spannt sich zwischen Radius und Ulna die MI aus. Der Unterarm ist sowohl axialer Belastung als auch Rotations- und Scherkräften ausgesetzt [8]. Der Radiuskopf stellt den primären Stabilisator gegen axiale Kräfte dar. Des Weiteren ist er nach dem medialen Kollateralband der wichtigste Valgusstabilisator des Ellenbogens. Durch eine Umverteilung über die MI der axial auf das Handgelenk wirkenden Kräfte (80 % radial, 20 % ulnar), werden über den Radiuskopf noch etwa 60 % der axialen Kräfte auf das Ellenbogengelenk übertragen [9]. Bei intakter Artikulation des Radiuskopfs mit dem Capitulum humeri sowie dem PRUG kommt es unter Belastung zu keiner relevanten Proximalisierung des Radius.
Das DRUG bedarf aufgrund der eher inkongruenten Flächenverhältnisse der knöchernen Strukturen (distaler Radius und Caput ulnae) einer guten ligamentären Stabilisation. Als passive Stabilisatoren wirken unter anderem die dorsalen und palmaren Ligamente, der distale Anteil der Membrana interossea und der TFCC. Der M. pronator quadratus – welcher bei Kontraktion das Caput ulnae in die Incisur des DRUG drückt – wirkt zusätzlich als aktiver Stabilisator [10].
Die MI besteht aus verschiedenen Anteilen: Neben einem membranösen Anteil kann zwischen einem zentralen und einem proximalen Band sowie weiteren akzessorischen Bändern differenziert werden [11–13]. Der ulnare Ursprung des stärksten, dem zentralen Band („interossäres Ligament“ [11]), liegt etwa auf Höhe des Übergangs vom distalen zum mittleren Drittel der Ulna (~33 % der Ulnalänge). Von hier zieht das zentrale Band in einem durchschnittlichen Winkel von 21° zum Radius. Die Insertion des zentralen Bands liegt – gemessen vom Proc. styloideus radii – ungefähr auf Höhe von 60 % der Gesamtlänge des Radius selbst [14] (Abb. 1). Das zentrale Band ist durchschnittlich 2,6 cm breit [15]. Dieser zentrale Anteil der MI wirkt als Hauptstabilisator einer Proximalisierung des Radius entgegen [8, 11]. Hotchkiss et al. [11] identifizierten die MI insgesamt als den wichtigsten Stabilisator gegen eine Proximalisierung des Radius nach stattgehabter Resektion des Radiuskopfs.
Pathomechanismus
Die Inzidenz der Essex-Lopresti-Läsion wird mit 1–4 % aller Radiuskopffrakturen angegeben [7, 16]. Die Entität der Verletzung ist somit eher rar, allerdings ist die Inzidenz möglicherweise höher [17, 18]. Wie eingangs erwähnt, beschrieben Hausmann et al. [5] bei bereits einfachen Radiuskopffrakturen (Mason Typ I) MRT morphologisch nachgewiesene Läsionen der MI in 9 von 14 Fällen. Die Arbeitsgruppe um McGinley [19] untersuchte in ihrer Studie 18 Patienten nach Sturz auf den Unterarm mittels konventionellem Röntgen und zusätzlich innerhalb der ersten 10 Tage nach dem initialen Trauma mittels MRT-Diagnostik. Bei 13 Patienten wurde eine Radiuskopffraktur vom Typ Mason I diagnostiziert. Keiner dieser Patienten wies eine Läsion der MI auf, allerdings konnte in 6 Fällen ein Ödem im M. pronator quadratus nachgewiesen werden. Von den übrigen Patienten hatten 2 eine Radiuskopffraktur vom Typ Mason II und 3 Patienten eine Mason-Typ-III-Fraktur. Alle Patienten mit einer höhergradigen Radiuskopffraktur hatten ein Ödem innerhalb des M. pronator quadratus und zudem eine Läsion der MI. Alle Patienten mit einer Mason-Typ-III-Fraktur erlitten eine komplette Ruptur der MI. Das nachgewiesene Pronator-quadratus-Ödem korrelierte mit Schmerzen im Unterarmbereich. Die Autoren schlussfolgerten, dass Patienten mit einer höhergradigen Radiuskopffraktur einer weiterführenden Diagnostik unterzogen werden sollten, um eine Beeinträchtigung der longitudinalen Unterarmstabilität auszuschließen.
Es handelt sich bei der Essex-Lopresti-Läsion im Allgemeinen um hoch energetische Verletzungsmechanismen. Durch eine axiale Belastung des Unterarms bei gleichzeitiger Pronation wie z.B. bei einem abgefangenen Sturz auf den Arm kommt es zu einer signifikanten Belastung der osteoligamentären Strukturen. Hierdurch wird das Risiko einer Radiuskopffraktur und auch das Risiko für eine ligamentäre Verletzung erhöht [20].
Zum besseren Verständnis der Entstehung einer Essex-Lopresti-Läsion konstruierten Wegmann et al. [21] einen Fallstand, der den angenommenen Traumamechanismus – axiale Belastung des pronierten Unterarms – in vitro nachempfand. Der von der Arbeitsgruppe um Wegmann [21] entwickelte Fallstand spiegelte zudem die von McGinley et al. [20] beschriebene, notwendige Kraftaufwendung (bis zu 294 J) für die Essex-Lopresti-Läsion wieder. Mit Hilfe von Hochgeschwindigkeitskameras konnten die Autoren die verschiedenen Sequenzen des Traumas aufzeigen. Unter der zunehmenden axialen Belastung werden Radius und Ulna in der Transversalebene auseinander gedrückt. Dies führt schließlich zur Ruptur der MI. Aufgrund des Wegfalls der longitudinalen Stabilisierung kommt es zu einer unmittelbaren Proximalisierung des Radius. Durch die massive Druckbelastung auf das Capitullum humeri frakturiert letztendlich der Radiuskopf. Begleitend kommt es weiter distal zu einer Dislokation des DRUG. Dieses Verletzungsbild entspricht schließlich der vollständigen akuten Essex-Lopresti-Läsion.
Birbeck et al. [22] zeigten in ihrer biomechanischen Studie, dass es bei intaktem Radiuskopf – jedoch zerrissener MI oder lädiertem TFCC – zu keinem Vorschub des Radius gegenüber der Ulna kommt, da der Radiuskopf die Kraftübertragung auf das Ellenbogengelenk weitestgehend kompensiert. Wird die Läsion der MI initial übersehen und die radiale Säule bei vorliegender Trümmerfraktur nicht wiederhergestellt, so wird die Proximalisierung des Radius durch die entstehende longitudinale Instabilität umgehend begünstigt. Ist die MI bei frakturiertem Radiuskopf noch intakt und der Radiuskopf wird reseziert, so kommt es zu einer isolierten und übermäßigen Belastung der MI, insbesondere des interossären Ligaments [15]. Durch diese kontinuierliche Überbelastung wird die MI geschwächt, sodass es sekundär zu einer radialen Verkürzung mit konsekutivem ulnaren Vorschub kommt [4, 23–25]. Dies entspricht dem Mechanismus der chronischen Essex-Lopresti-Läsion. Shepard et al. [24] konnten für jeden Millimeter der radialen Verkürzung eine gegensätzliche Steigerung der ulnocarpalen Belastung von 10 % nachweisen. Demzufolge kann die chronische radiale Verkürzung zu einer frühzeitigen Degeneration des Handgelenks führen.
Diagnostik und Symptomatik
Der Patient wird in der Akutsituation – bei vorliegender Radiuskopffraktur – am ehesten Schmerzen und ggf. auch eine begleitende Bewegungseinschränkung im Ellenbogengelenk angeben. Der Ellenbogenschmerz kann initial dominieren. Eine relevante Schwellung und Schmerzhaftigkeit über dem Unterarm und dem Handgelenk kann fehlen. Das DRUG und der Unterarm müssen daher in jedem Fall mit in die klinische Untersuchung einbezogen werden. Schmerzen über dem DRUG oder eine im Seitenvergleich vermehrte Instabilität sollten an eine Essex-Lopresti-Verletzung denken lassen. Ebenso kann ein Hämatom mit begleitender Druckdolenz entlang des Unterarms auf eine Läsion der MI hinweisen.
Die Symptome bei der chronischen Essex-Lopresti-Läsion können variabel sein. Durch die radiale Verkürzung kommt es zu einer Druckerhöhung im radiocapitellaren Kompartiment sowie zu einem ulnocarpalen Impingement mit frühzeitiger Degeneration und entsprechender Schmerzsymptomatik. Die distale Ulna kann im Seitenvergleich eine prominente Stellung einnehmen. Die Umwendebewegung des Unterarms oder auch die Dorsalextension des Handgelenks sind durch die entstehende Deformität möglicherweise kompromittiert.
Grundsätzlich dient die konventionell radiologische Aufnahme des Ellenbogengelenks in 2 Ebenen als Standarddiagnostikum (Abb. 2). Ergänzend kann eine Radiuskopfzielaufnahme durchgeführt werden. Sollte eine zusätzliche Beschwerdesymptomatik über dem DRUG feststellbar sein, so ist eine Aufnahme des Handgelenks in 2 Ebenen anzufertigen. Hier ist die Kongruenz des DRUG zu prüfen, bei Unsicherheit kann die nicht-verletzte, vermeintlich gesunde Gegenseite als Referenz herangezogen werden (Abb. 3). Eine radiale Verkürzung von 2–4 mm kann ein Hinweis auf eine Läsion der MI sein, sodass eine MRT zur Validierung der Membrankontinuität initiiert werden sollte [5, 26].
Gleichwohl kann initial eine radiale Verkürzung oder eine Ruptur der ligamentären Verbindung des DRUG im Röntgenbild verborgen bleiben [27]. Erst im Verlauf kommt es durch die vorliegende longitudinale Instabilität zur klassischen radialen Verkürzung mit ulnocarpalem Impingement.
Die sonografische Untersuchung mit Beurteilung der Membrankontinuität kann als erweitertes Diagnostikum kostengünstig eingesetzt werden. Allerdings sollte die Untersucherabhängigkeit bei der Beurteilung der Aussagekraft Berücksichtigung finden. Das MRT besitzt für die Detektion einer akuten Läsion der Membrana interossea eine hohe Spezifität und Sensitivität [5, 28] und ist somit das diagnostische Mittel der Wahl (Abb. 4). Liegt ein hoch energetisches Trauma vor und zeigen sich konventionell radiologisch keine Hinweise auf eine longitudinale Instabilität, so ist – unter Berücksichtigung des Traumamechanismus – ggf. trotzdem eine frühzeitige MRT-Untersuchung des Unterarms durchzuführen.
Des Weiteren können auch intraoperativ – im Rahmen der Versorgung einer Radiuskopffraktur – dynamische Provokationstests den Verdacht auf eine Läsion der MI erhärten. So beschrieben Soubeyrand et al. [29] den „joystick test“. Der intraoperativ dargestellte proximale Radius wird mit einer Zange gefasst und am pronierten Unterarm nach lateral gezogen. Lässt sich der proximale Radius um sein distales Ende schwenken – wie bei einem Joystick – so ist dies als Membranläsion zu werten. Alternativ kann mit Hilfe einer Fasszange der Radiuskopf in Richtung der longitudinalen Radiusschaftachse gezogen werden („radius pull-test“). Die ulnare Varianz und die radiale Proximalisierung werden unter Durchleuchtung mit dem Bildwandler analysiert [30].
Durch eine sorgfältige klinische Untersuchung und durch den adäquaten Einsatz der bildgebenden Diagnostik ist die frühzeitige Diagnose bzw. der Ausschluss der Essex-Lopresti-Läsion anzustreben.
Therapieoptionen
Im Allgemeinen wird zwischen dem therapeutischen Vorgehen bei einer akuten und einer chronischen Verletzung unterschieden. Es sei angemerkt, dass durch die übersehene und somit verspätet diagnostizierte Essex-Lopresti-Läsion oftmals bereits eine Chronifizierung eingetreten ist.
Im akuten Fall der Essex-Lopresti Läsion ist die Rekonstruktion der frakturierten radialen Säule anzustreben. Durch neuere winkelstabile, anatomisch präformierte Plattensysteme lassen sich auch mehrfragmentäre Frakturen stabil osteosynthetisch adressieren. Gelingt dies dennoch nicht, sollte der Radiuskopf endoprothetisch ersetzt werden. Die alleinige Resektion des Radiuskopfs wird in der akuten Situation nicht mehr empfohlen, da es neben einer Überbelastung der humeroulnaren Säule im Verlauf – auch bei initial intakten sekundären Stabilisatoren – durch die repetitive Überbelastung der MI zu einer progredienten Verkürzung des Radius mit konsekutivem Vorschub der Ulna kommt.
Die adäquate Adressierung der sekundären Unterarmstabilisatoren ist bei der akuten Versorgung ebenso wichtig. Bei einer akuten Verletzung wird der Heilungsversuch der MI durch Immobilisation des Unterarms in Supination und durch additive temporäre K–Draht-Transfixation des DRUG propagiert [11, 31]. Die Heilungstendenz der MI durch Immobilisation ist jedoch nicht gänzlich gesichert [32, 33] und gegebenenfalls auch durch interponierte Unterarmmuskulatur beeinträchtigt [14]. Auch die direkte Naht bzw. Refixation des zentralen Bands der MI bei Avulsion des ulnaren Ursprungs über einen dorsalen Zugang zwischen M. extensor digitorum communis und M. extensor digiti minimi wurde beschrieben [34]. Allerdings reißt das zentrale Band der MI eher intraligamentär (80 %) wohingegen die ulnare Avulsion seltener ist (20 %) [35]. Bei einer akuten Essex-Lopresti-Läsion lassen sich durch die frühzeitige Diagnose und Einleitung einer adäquaten Therapie – Radiuskopfrekonstruktion bzw. -ersatz, Reparatur des TFCC und Stabilisation des DRUG – in der Literatur gute klinische Ergebnisse finden [7, 16].
Die chronische Essex-Lopresti-Läsion mit einer nicht mehr zu reponierenden Proximalisierung des Radius stellt eine noch größere therapeutische Herausforderung dar. Alle chirurgischen Therapieoptionen sollten die Rekonstruktion der anatomischen Verhältnisse im PRUG und DRUG zum Ziel haben, da nur so eine schmerzfreie Wiederherstellung der Ellenbogen- und Handgelenkfunktion erreicht werden kann. Venouziou et al. [36] beschreiben in ihrer Studie von 7 Patienten die Kombination aus Radiuskopfersatz und gleichzeitiger Verkürzungsosteotomie der Ulna als ein zuverlässiges, komplikationsarmes Verfahren, mit welchem gute klinische Ergebnisse erzielt werden können (Nachuntersuchungszeitraum durchschnittlich 33 Monate). Die ulnare Verkürzungsosteotomie sollte allerdings nicht alleinig durchgeführt werden, da bei fehlendem oder insuffizientem Radiuskopf die longitudinale Stabilität nicht adressiert wird [31, 36]. Zudem ist die Indikation zur ulnaren Verkürzungsosteotomie bei bereits arthrotisch verändertem DRUG kontraindiziert [36]. Die Schaffung einer radioulnaren Synostose mit Aufgabe der Unterarmrotationsbewegung (sog. „one-bone forearm“) zum Erhalt eines stabilen Hebelarms zwischen Hand- und Ellenbogengelenk sollte lediglich als Salvage-Prozedur betrachtet werden.
Eine besondere Stellung in der operativen Therapie der chronischen Essex-Lopresti-Läsion nimmt die Rekonstruktion der MI – im engeren Sinn des interossären Ligaments – ein. Stabile et al. [37] untersuchten die Stabilität verschiedener Transplante und verglichen die Ergebnisse mit den physiologischen Eigenschaften der MI. Die Autoren analysierten in ihrer Studie Transplantate bestehend aus der Achillessehne, der Flexor-carpi-radialis-Sehne sowie der Patellarsehne („bone-tendon-bone“). Alle Transplante erzielten im Vergleich zur physiologischen MI eine signifikant geringere Stabilität. Diese Beobachtung wird durch die Arbeit von Tejwani et al. [38] gestützt. Die Autoren stellten für Transplantate, bestehend aus der Flexor-carpi-radialis-Sehne, aus der Sehne des M. palmaris longus und der Patellarsehne („bone-tendon-bone“) ebenfalls eine reduzierte Stabilität im Vergleich zur nativen MI fest. In beiden Studien [37, 38] zeigte das „bone-patella tendon-bone“ Transplantat die größte Stabilität, wenngleich diese signifikant geringer war als die physiologische Stabilität der nativen MI.
Im eigenen Vorgehen verwenden wir bei der chronischen longitudinalen Instabilität des Unterarms zur Rekonstruktion der MI einen künstlichen Bandersatz aus Polyester („Ligament Augmentation Reconstruction System“; LARS-Band), mit welchem bereits in der Kreuzbandersatzchirurgie gute klinische Erfolge verzeichnet werden konnten [39]. Das Risiko der beschriebenen Begleitkomplikationen, wie beispielweise der Knieschmerz nach Entnahme des Patellarsehnentransplantats [35], entfällt hierdurch. Das LARS-Band wird analog zum anatomischen Verlauf des interossären Ligaments der MI zwischen Ulna und Radius in einem Winkel von etwa 21° eingezogen (Abb. 5). Die operative Technik wurde bereits von Adams et al. [35] für das Patellarsehnentransplantat beschrieben. Die Autoren konnten in einer ihrer vorangegangenen Studien zudem keinen Unterschied zwischen Auto- und Allograft feststellen [14, 35].
Schlussfolgerung
Bei der akuten Essex-Lopresti-Läsion – in ihrer vollen Ausprägung – handelt es sich eher um eine seltene Verletzung, deren wahre Inzidenz jedoch möglicherweise höher liegt. Auch bei vermeintlich einfachen Radiuskopffrakturen kann es bereits zu einer begleitenden Läsion der Membrana interossea kommen, sodass die longitudinale Stabilität des Unterarms kompromittiert wird. Wird die Verletzung übersehen, ist im Falle der Chronifizierung eine Proximalisierung des Radius mit einem ulnocarpalem und radiocapitellaren Impingement die Folge. Die frühzeitige und richtige Diagnosestellung hat daher eine große Bedeutung für das funktionelle Ergebnis. Die Festlegung eines adäquaten operativen Therapieregimes unter Berücksichtigung der anatomischen Verhältnisse ist sowohl in der akuten als auch in der chronischen Phase essenziell.
Interessenkonflikt: Das Zentrum für Biomechanik der Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie der Universität zu Köln wird mit einem jährlichen Betrag der Firmen Synthes und Medartis unterstützt – aber nicht im Speziellen für die vorliegende Arbeit. K. Wegmann, L.P. Müller und K.J. Burkhart sind als Berater für Medartis tätig. K. Wegmann, L.P. Müller und K.J. Burkhart haben und werden keinen finanziellen Betrag in irgendeiner Form erhalten. Kein Betrag wurde oder wird direkt oder indirekt in Zusammenhang mit dem vorliegenden Artikel gezahlt. C. Ries und M. Hackl geben an, dass kein Interessenskonflikt besteht.
Korrespondenzadresse
Dr. med. Christian Ries
Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie
Universitätsklinikum Köln (AöR)
Kerpener Straße 62 , 50937 Köln
christian.ries@uk-koeln.de
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Fussnoten
1 Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie der Universitätsklinik Köln
2 Arcus Sportklinik, Pforzheim