Übersichtsarbeiten - OUP 03/2016
Essex-Lopresti-Verletzung – doch nicht so selten?
Christian Ries1, Kilian Wegmann1, Michael Hackl1, Klaus J. Burkhart2, Lars P. Müller1
Zusammenfassung: Die vollständige akute Essex-
Lopresti Läsion stellt eine seltene Verletzung dar. Wird sie übersehen oder nicht adäquat behandelt, kommt es durch die vorliegende longitudinale Instabilität zu einer
Proximalisierung des Radius mit konsekutivem ulnocarpalem und radiocapitellarem Impingement. Die sorgfältige klinische Untersuchung und der Einsatz von adäquater Bildgebung dienen der frühzeitigen Diagnosestellung. Durch Rekonstruktion bzw. Ersatz des Radiuskopfs und Adressierung der sekundären Stabilisatoren lassen sich bei der akuten Verletzung gute klinische Ergebnisse erzielen. Im Falle der Chronifizierung ist das klinische Ergebnis deutlich schlechter. Das Therapieregime der chronischen Essex-Lopresti-Läsion ist ebenfalls komplex und schließt die Rekonstruktion des proximalen und des distalen Radioulnargelenks sowie die Rekonstruktion der Membrana interossea ein.
Schlüsselwörter: distales Radioulnargelenk, Essex-Lopresti,
Radiuskopffraktur, longitudinale Instabilität, Membrana
interossea, Ruptur
Zitierweise
Ries C, Wegmann K, Hackl M, Burkhart KJ, Müller LP: Essex-Lopresti-Verletzung – doch nicht so selten?
OUP 2016; 3: 154–159 DOI 10.3238/oup.2016.0154–0159
Summary: The “full blown” Essex-Lopresti lesion represents a rare injury. If the diagnosis is missed, radial shortening occurs due to the longitudinal instability and will be accompanied by ulnocarpal and radiocapitellar impingement. Thorough clinical examination and use of adequate imaging are mandatory for an early diagnosis. Radial head reconstruction or replacement and repair of secondary forearm stabilizers are important to obtain a good clinical outcome in acute cases. Chronic Essex-Lopresti lesions are often associated with poor results. The surgical treatment of a chronic Essex-Lopresti lesion is likewise complex and should address the proximal and distal radioulnar joint and should also include reconstruction of the interosseous membrane.
Keywords: distal radioulnar joint, Essex-Lopresti, radial head fracture, longitudinal instability, interosseous membrane,
rupture
Zitierweise
Ries C, Wegmann K, Hackl M, Burkhart KJ, Müller LP: Essex-Lopresi-lesion – as rare as assumed?
OUP 2016; 3: 154–159 DOI 10.3238/oup.2016.0154–0159
Einleitung
Die Essex-Lopresti-Läsion ist eine hoch energetische Verletzung der oberen Extremität, bei der Ellenbogen, Unterarm und Handgelenk im Sinne einer Kettenverletzung betroffen sind. Bei der voll ausgeprägten Essex-Lopresti-Läsion kommt es zu einer Radiuskopffraktur, einer Zerreißung der Membrana interossea (MI) und einer Dislokation des distalen Radioulnargelenks (DRUG). Ihren Eigennamen („Eponym“) bekam die Verletzungskombination posthum durch Peter Gordon Lawrence Essex-Lopresti (*07.04.1914 †13.06.1951), der während seiner Zeit am Birmingham Accident Hospital seine klassische Arbeit zur Radiuskopffraktur verfasste [1, 2]. Essex-Lopresti beobachtete nach Radiuskopfresektion bei stattgehabter Radiuskopftrümmerfraktur eine progrediente Proximalisierung des Radius mit begleitendem ulnocarpalem Impingement und zusätzlicher radialer Deviation des Handgelenks. Essex-Lopresti stellte fest, dass die Radiuskopfresektion bei gleichzeitiger Läsion der MI und des DRUG eine longitudinale Instabilität des Unterarms noch verstärkt und mit einem schlechten funktionalen Ergebnis einhergeht. Er schlussfolgerte, dass – durch Rekonstruktion oder prothetischen Ersatz des Radiuskopfs – der Erhalt der longitudinalen Stabilität des Unterarms angestrebt werden müsse. Bemerkenswert an dieser Einschätzung war, dass Radiuskopfprothesen zwar schon 1941 durch Kellogg Speed beschrieben, aber zum Zeitpunkt der Publikation von Essex-Lopresti (1951) noch nicht regelmäßig implantiert wurden [3].
Durch den Wegfall des primären Stabilisators – dem Radiuskopf – gegen axiale Belastung und durch den zusätzlichen Verlust der sekundären Stabilisatoren – MI und TFCC („triangular fibrocartilage complex“) – resultiert eine longitudinale Instabilität des Unterarms [4]. Die Arbeitsgruppe um Hausmann [5] konnte anhand von MRT-Untersuchungen selbst für einfache Radiuskopffrakturen (Mason Typ I) in 9 von 14 Fällen eine zumindest anteilige Läsion der Membrana interossea aufzeigen. Somit ist bei der in ihrer Gesamtheit häufigen Radiuskopffraktur (30 % aller Ellenbogenfrakturen, 5 % aller Frakturen überhaupt [6]) immer auch eine ligamentäre Läsion in Betracht zu ziehen.
Bei einer zu spät diagnostizierten oder zu spät therapierten Instabilität ist das Risiko eines schlechten klinischen Ergebnisses deutlich erhöht. Trousdale et al. [7] legten in ihrer Studie dar, dass nur bei 25 % der insgesamt 20 nachuntersuchten Patienten initial eine Essex-Lopresti-Läsion korrekt diagnostiziert wurde. Innerhalb des verspätet diagnostizierten Patientenkollektivs konnte im Verlauf lediglich bei 20 % ein gutes klinisches Ergebnis erzielt werden [7].
In der vorliegenden Arbeit werden unter Berücksichtigung der anatomischen Grundlagen und des angenommenen Pathomechanismus der Essex-Lopresti-Läsion diagnostische sowie therapeutische Vorgehensweisen dargestellt.
Anatomische Grundlagen
Der Unterarm – bestehend aus Ulna und Radius – bildet eine funktionelle Einheit und ist im proximalen (PRUG) bzw. distalen Radioulnargelenk (DRUG) miteinander verbunden. Als sekundärer Stabilisator spannt sich zwischen Radius und Ulna die MI aus. Der Unterarm ist sowohl axialer Belastung als auch Rotations- und Scherkräften ausgesetzt [8]. Der Radiuskopf stellt den primären Stabilisator gegen axiale Kräfte dar. Des Weiteren ist er nach dem medialen Kollateralband der wichtigste Valgusstabilisator des Ellenbogens. Durch eine Umverteilung über die MI der axial auf das Handgelenk wirkenden Kräfte (80 % radial, 20 % ulnar), werden über den Radiuskopf noch etwa 60 % der axialen Kräfte auf das Ellenbogengelenk übertragen [9]. Bei intakter Artikulation des Radiuskopfs mit dem Capitulum humeri sowie dem PRUG kommt es unter Belastung zu keiner relevanten Proximalisierung des Radius.