Übersichtsarbeiten - OUP 03/2016
Essex-Lopresti-Verletzung – doch nicht so selten?
Die Symptome bei der chronischen Essex-Lopresti-Läsion können variabel sein. Durch die radiale Verkürzung kommt es zu einer Druckerhöhung im radiocapitellaren Kompartiment sowie zu einem ulnocarpalen Impingement mit frühzeitiger Degeneration und entsprechender Schmerzsymptomatik. Die distale Ulna kann im Seitenvergleich eine prominente Stellung einnehmen. Die Umwendebewegung des Unterarms oder auch die Dorsalextension des Handgelenks sind durch die entstehende Deformität möglicherweise kompromittiert.
Grundsätzlich dient die konventionell radiologische Aufnahme des Ellenbogengelenks in 2 Ebenen als Standarddiagnostikum (Abb. 2). Ergänzend kann eine Radiuskopfzielaufnahme durchgeführt werden. Sollte eine zusätzliche Beschwerdesymptomatik über dem DRUG feststellbar sein, so ist eine Aufnahme des Handgelenks in 2 Ebenen anzufertigen. Hier ist die Kongruenz des DRUG zu prüfen, bei Unsicherheit kann die nicht-verletzte, vermeintlich gesunde Gegenseite als Referenz herangezogen werden (Abb. 3). Eine radiale Verkürzung von 2–4 mm kann ein Hinweis auf eine Läsion der MI sein, sodass eine MRT zur Validierung der Membrankontinuität initiiert werden sollte [5, 26].
Gleichwohl kann initial eine radiale Verkürzung oder eine Ruptur der ligamentären Verbindung des DRUG im Röntgenbild verborgen bleiben [27]. Erst im Verlauf kommt es durch die vorliegende longitudinale Instabilität zur klassischen radialen Verkürzung mit ulnocarpalem Impingement.
Die sonografische Untersuchung mit Beurteilung der Membrankontinuität kann als erweitertes Diagnostikum kostengünstig eingesetzt werden. Allerdings sollte die Untersucherabhängigkeit bei der Beurteilung der Aussagekraft Berücksichtigung finden. Das MRT besitzt für die Detektion einer akuten Läsion der Membrana interossea eine hohe Spezifität und Sensitivität [5, 28] und ist somit das diagnostische Mittel der Wahl (Abb. 4). Liegt ein hoch energetisches Trauma vor und zeigen sich konventionell radiologisch keine Hinweise auf eine longitudinale Instabilität, so ist – unter Berücksichtigung des Traumamechanismus – ggf. trotzdem eine frühzeitige MRT-Untersuchung des Unterarms durchzuführen.
Des Weiteren können auch intraoperativ – im Rahmen der Versorgung einer Radiuskopffraktur – dynamische Provokationstests den Verdacht auf eine Läsion der MI erhärten. So beschrieben Soubeyrand et al. [29] den „joystick test“. Der intraoperativ dargestellte proximale Radius wird mit einer Zange gefasst und am pronierten Unterarm nach lateral gezogen. Lässt sich der proximale Radius um sein distales Ende schwenken – wie bei einem Joystick – so ist dies als Membranläsion zu werten. Alternativ kann mit Hilfe einer Fasszange der Radiuskopf in Richtung der longitudinalen Radiusschaftachse gezogen werden („radius pull-test“). Die ulnare Varianz und die radiale Proximalisierung werden unter Durchleuchtung mit dem Bildwandler analysiert [30].
Durch eine sorgfältige klinische Untersuchung und durch den adäquaten Einsatz der bildgebenden Diagnostik ist die frühzeitige Diagnose bzw. der Ausschluss der Essex-Lopresti-Läsion anzustreben.
Therapieoptionen
Im Allgemeinen wird zwischen dem therapeutischen Vorgehen bei einer akuten und einer chronischen Verletzung unterschieden. Es sei angemerkt, dass durch die übersehene und somit verspätet diagnostizierte Essex-Lopresti-Läsion oftmals bereits eine Chronifizierung eingetreten ist.
Im akuten Fall der Essex-Lopresti Läsion ist die Rekonstruktion der frakturierten radialen Säule anzustreben. Durch neuere winkelstabile, anatomisch präformierte Plattensysteme lassen sich auch mehrfragmentäre Frakturen stabil osteosynthetisch adressieren. Gelingt dies dennoch nicht, sollte der Radiuskopf endoprothetisch ersetzt werden. Die alleinige Resektion des Radiuskopfs wird in der akuten Situation nicht mehr empfohlen, da es neben einer Überbelastung der humeroulnaren Säule im Verlauf – auch bei initial intakten sekundären Stabilisatoren – durch die repetitive Überbelastung der MI zu einer progredienten Verkürzung des Radius mit konsekutivem Vorschub der Ulna kommt.
Die adäquate Adressierung der sekundären Unterarmstabilisatoren ist bei der akuten Versorgung ebenso wichtig. Bei einer akuten Verletzung wird der Heilungsversuch der MI durch Immobilisation des Unterarms in Supination und durch additive temporäre K–Draht-Transfixation des DRUG propagiert [11, 31]. Die Heilungstendenz der MI durch Immobilisation ist jedoch nicht gänzlich gesichert [32, 33] und gegebenenfalls auch durch interponierte Unterarmmuskulatur beeinträchtigt [14]. Auch die direkte Naht bzw. Refixation des zentralen Bands der MI bei Avulsion des ulnaren Ursprungs über einen dorsalen Zugang zwischen M. extensor digitorum communis und M. extensor digiti minimi wurde beschrieben [34]. Allerdings reißt das zentrale Band der MI eher intraligamentär (80 %) wohingegen die ulnare Avulsion seltener ist (20 %) [35]. Bei einer akuten Essex-Lopresti-Läsion lassen sich durch die frühzeitige Diagnose und Einleitung einer adäquaten Therapie – Radiuskopfrekonstruktion bzw. -ersatz, Reparatur des TFCC und Stabilisation des DRUG – in der Literatur gute klinische Ergebnisse finden [7, 16].
Die chronische Essex-Lopresti-Läsion mit einer nicht mehr zu reponierenden Proximalisierung des Radius stellt eine noch größere therapeutische Herausforderung dar. Alle chirurgischen Therapieoptionen sollten die Rekonstruktion der anatomischen Verhältnisse im PRUG und DRUG zum Ziel haben, da nur so eine schmerzfreie Wiederherstellung der Ellenbogen- und Handgelenkfunktion erreicht werden kann. Venouziou et al. [36] beschreiben in ihrer Studie von 7 Patienten die Kombination aus Radiuskopfersatz und gleichzeitiger Verkürzungsosteotomie der Ulna als ein zuverlässiges, komplikationsarmes Verfahren, mit welchem gute klinische Ergebnisse erzielt werden können (Nachuntersuchungszeitraum durchschnittlich 33 Monate). Die ulnare Verkürzungsosteotomie sollte allerdings nicht alleinig durchgeführt werden, da bei fehlendem oder insuffizientem Radiuskopf die longitudinale Stabilität nicht adressiert wird [31, 36]. Zudem ist die Indikation zur ulnaren Verkürzungsosteotomie bei bereits arthrotisch verändertem DRUG kontraindiziert [36]. Die Schaffung einer radioulnaren Synostose mit Aufgabe der Unterarmrotationsbewegung (sog. „one-bone forearm“) zum Erhalt eines stabilen Hebelarms zwischen Hand- und Ellenbogengelenk sollte lediglich als Salvage-Prozedur betrachtet werden.