Übersichtsarbeiten - OUP 02/2025
Geriatrisches Polytrauma –alt und mobil, aber fragil!
Jakob Mayr, Marco Marchich, Jörg Scherer, Hans-Georg Palm
Lernziele:
Nach der Lektüre des Artikels kennen Sie...
die spezifischen Herausforderungen in der Behandlung geriatrischer Polytraumapatientinnen und -patienten
die multimodalen Therapiekonzepte geriatrischer Traumapatientinnen und -patienten
die Veränderungen von Polytraumapatientinnen und -patienten durch demografische Entwicklungen
mögliche spezifische Komplikationen in der Behandlung geriatrischer Patientinnen und Patienten
Zusammenfassung:
Die zunehmende Lebenserwartung und der demografische Wandel in vielen Industrieländern führen seit Jahren zu einer stetig wachsenden Bevölkerung älterer Menschen. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf das Gesundheitswesen, insbesondere im Bereich der Unfallchirurgie und Notfallmedizin. Das geriatrische Polytrauma, definiert als multiple schwere Verletzungen bei geriatrischen Patientinnen und Patienten, stellt eine besondere Herausforderung dar, da es komplexe klinische Szenarien mit hohen Mortalitäts- und Morbiditätsraten verbindet. Dieser Artikel beleuchtet anhand eines innerklinischen Fallbeispiels Definitionen, epidemiologische Aspekte, sowie spezifische Herausforderungen in der Behandlung geriatrischer Polytraumata. Ebenso sollen mögliche Therapieoptionen und Behandlungsstrategien bei etwaigen Komplikationen geriatrischer Patientinnen und Patienten in Verbindung mit einem Polytrauma herausgearbeitet werden.
Schlüsselwörter:
Geriatrischer Patient, Polytrauma, Alterstraumatologie, Multimorbidität, Therapiekonzept, Interdisziplinär, Komplikationen
Zitierweise:
Mayr J, Marchich M, Scherer J, Palm H-G: Geriatrisches Polytrauma – alt und mobil, aber fragil!
OUP 2025; 14: 79–87
DOI 10.53180/oup.2025.0079-0087
Summary: The increasing life expectancy and demographic changes in many industrialized countries have led to a steadily growing population of older individuals over the past years. This has significant implications for healthcare, particularly in the fields of trauma surgery and emergency medicine. Geriatric polytrauma, defined as multiple severe injuries in geriatric patients, presents a particular challenge as it combines complex clinical scenarios with high mortality and morbidity rates. This article examines, using an intra-clinical case study, definitions, epidemiological aspects, as well as specific challenges in the treatment of geriatric polytrauma. It also explores potential therapeutic options and treatment strategies in the case of complications in geriatric patients with polytrauma.
Keywords: Geriatric patient, polytrauma, geriatric traumatology, multimorbidity, therapeutic concept, interdisciplinary, complication
Citation: Mayr J, Marchich M, Scherer J, Palm H-G: Geriatric polytrauma – old and mobile, but fragile!
OUP 2025; 14: 79–87. DOI 10.53180/oup.2025.0079-0087
Zentrum für Orthopädie & Unfallchirurgie – Klinikum Ingolstadt GmbH
Fallbeispiel –
Geriatrisches Polytrauma
Einlieferung eines 80-jährigen, männlichen Patienten (bodengebundener, Notarzt-begleiteter Schockraum) in den Schockraum unserer Klinik. Vor dem Unfallgeschehen sei der Patient selbstversorgend und ohne Hilfsmittel vollständig mobil gewesen. Der Patient sei als E-Bike-Fahrer mit einem Omnibus zusammengestoßen, es sei zu einem Sturzereignis und im Anschluss zu einem Überrolltrauma gekommen. Der Patient wird ABCD-stabil in unsere Notaufnahme eingeliefert. In der Schockraumspirale zeigen sich folgende akuten Traumafolgen: Beckenringfraktur (Typ B) mit: Ileosacralgelenkabsprengung links, Os pubis-Frakturen beidseits, periprothetischer Acetabulumfraktur rechts, sowie einer dislozierten Os ileum Fraktur (Abb. 1), periprothetische Femurfraktur rechts (Vancouver B1) (Abb. 2, 3), Querfortsatzfrakturen Lendenwirbelkörper 1–5 links, undislozierte Dornfortsatzfraktur Brustwirbelkörper 8, dislozierte Rippenfrakturen 7.–9. links (Abb. 4); Nierenlazeration links (Abb. 5); Lungenkontussionen beidseits (Abb. 6); intramuskuläres Hämatom M. iliopsoas links sowie ein subkapsuläres Milzhämatom. Es ergibt sich ein ISS (Injury severity Score) von 34. Nach erfolgter Schockraumdiagnostik wird im Rahmen der Damage-Control-Orthopedics die Anlage eines Fixateur externe am Becken (Abb. 7) vorgenommen – intraoperativ erfolgt die Transfusion von 2 Erythrozytenkonzentraten und 8 g Fibrinogen. Die Nierenlazeration wird nach sonografischer Kontrolle konservativ behandelt. Es erfolgt eine zeitnahe Extubation auf der Intensivstation. Am vierten stationären Tag erfolgt die operative Ausversorgung der periprothetischen Femurfraktur mittels NCB-Platte (Fa. Zimmer-Biomet) und Cerclagen (Abb. 8), wobei bei intraoperativem Blutverlust erneut 3 Erythrozytenkonzentrate transfundiert werden. Bereits am Folgetag kann der Patient erneut komplikationslos extubiert werden. Noch auf der Intensivstation präsentiert sich der Patient daraufhin mit einem deutlichen Delir und halluzinogenen Phasen – die leitliniengerechte Therapie und Prophylaxe werden eingeleitet. Bei im Verlauf steigenden Infektparametern und nun beidseitigem Pleuraerguss erfolgt die komplikationslose Anlage beidseitiger Thoraxdrainagen (Abb. 9). Eine Woche nach stationärer Aufnahme kommt es zu einem erstmalig aufgetretenen paroxysmalen Vorhofflimmern, welches in Rücksprache mit den Kardiologen mittels therapeutischer Antikoagulation behandelt wird. Am 16. Tag nach Aufnahme wird die operative Therapie des Beckens mittels Sakralstab unter Belassen des Fixateur externe für den vorderen Beckenring durchgeführt (Abb. 10). Am Folgetag kann der Verletzte auf die akutgeriatrische Normalstation verlegt werden – hier erfolgen erste rehabilitative Maßnahmen und der Patient nimmt am multimodalen, interdisziplinären Therapiekonzept teil („alterstraumatologische Komplexbehandlung“). Bei persistierender nächtlicher Desorientiertheit mit Delirsymptomatik erfolgt des Weiteren die Therapie und Prophylaxe des Delirs. Drei Wochen post Trauma wird der Patient auf die Frührehabilitationsstation in unserem Haus verlegt. Es erfolgt die Röntgenkontrolle des Beckens (Abb. 11) und im Folgenden eine Entfernung des Fixateur externe 6 Wochen postoperativ. Im Anschluss gelingt nach initialer Entlastung und erneuter Röntgenkontrolle (Abb. 12) eine langsame Aufbelastung der beiden unteren Extremitäten. Zuletzt ist der Patient auf Stationsebene unter Zuhilfenahme von 2 Unterarmgehstützen bei schmerzadaptierter Vollbelastung mobil. Im Anschluss wird der Patient in die weiterführende Rehabilitationseinrichtung entlassen.