Übersichtsarbeiten - OUP 02/2025
Geriatrisches Polytrauma –alt und mobil, aber fragil!
Jakob Mayr, Marco Marchich, Jörg Scherer, Hans-Georg Palm
Lernziele:
Nach der Lektüre des Artikels kennen Sie...
die spezifischen Herausforderungen in der Behandlung geriatrischer Polytraumapatientinnen und -patienten
die multimodalen Therapiekonzepte geriatrischer Traumapatientinnen und -patienten
die Veränderungen von Polytraumapatientinnen und -patienten durch demografische Entwicklungen
mögliche spezifische Komplikationen in der Behandlung geriatrischer Patientinnen und Patienten
Zusammenfassung:
Die zunehmende Lebenserwartung und der demografische Wandel in vielen Industrieländern führen seit Jahren zu einer stetig wachsenden Bevölkerung älterer Menschen. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf das Gesundheitswesen, insbesondere im Bereich der Unfallchirurgie und Notfallmedizin. Das geriatrische Polytrauma, definiert als multiple schwere Verletzungen bei geriatrischen Patientinnen und Patienten, stellt eine besondere Herausforderung dar, da es komplexe klinische Szenarien mit hohen Mortalitäts- und Morbiditätsraten verbindet. Dieser Artikel beleuchtet anhand eines innerklinischen Fallbeispiels Definitionen, epidemiologische Aspekte, sowie spezifische Herausforderungen in der Behandlung geriatrischer Polytraumata. Ebenso sollen mögliche Therapieoptionen und Behandlungsstrategien bei etwaigen Komplikationen geriatrischer Patientinnen und Patienten in Verbindung mit einem Polytrauma herausgearbeitet werden.
Schlüsselwörter:
Geriatrischer Patient, Polytrauma, Alterstraumatologie, Multimorbidität, Therapiekonzept, Interdisziplinär, Komplikationen
Zitierweise:
Mayr J, Marchich M, Scherer J, Palm H-G: Geriatrisches Polytrauma – alt und mobil, aber fragil!
OUP 2025; 14: 79–87
DOI 10.53180/oup.2025.0079-0087
Summary: The increasing life expectancy and demographic changes in many industrialized countries have led to a steadily growing population of older individuals over the past years. This has significant implications for healthcare, particularly in the fields of trauma surgery and emergency medicine. Geriatric polytrauma, defined as multiple severe injuries in geriatric patients, presents a particular challenge as it combines complex clinical scenarios with high mortality and morbidity rates. This article examines, using an intra-clinical case study, definitions, epidemiological aspects, as well as specific challenges in the treatment of geriatric polytrauma. It also explores potential therapeutic options and treatment strategies in the case of complications in geriatric patients with polytrauma.
Keywords: Geriatric patient, polytrauma, geriatric traumatology, multimorbidity, therapeutic concept, interdisciplinary, complication
Citation: Mayr J, Marchich M, Scherer J, Palm H-G: Geriatric polytrauma – old and mobile, but fragile!
OUP 2025; 14: 79–87. DOI 10.53180/oup.2025.0079-0087
Zentrum für Orthopädie & Unfallchirurgie – Klinikum Ingolstadt GmbH
Fallbeispiel –
Geriatrisches Polytrauma
Einlieferung eines 80-jährigen, männlichen Patienten (bodengebundener, Notarzt-begleiteter Schockraum) in den Schockraum unserer Klinik. Vor dem Unfallgeschehen sei der Patient selbstversorgend und ohne Hilfsmittel vollständig mobil gewesen. Der Patient sei als E-Bike-Fahrer mit einem Omnibus zusammengestoßen, es sei zu einem Sturzereignis und im Anschluss zu einem Überrolltrauma gekommen. Der Patient wird ABCD-stabil in unsere Notaufnahme eingeliefert. In der Schockraumspirale zeigen sich folgende akuten Traumafolgen: Beckenringfraktur (Typ B) mit: Ileosacralgelenkabsprengung links, Os pubis-Frakturen beidseits, periprothetischer Acetabulumfraktur rechts, sowie einer dislozierten Os ileum Fraktur (Abb. 1), periprothetische Femurfraktur rechts (Vancouver B1) (Abb. 2, 3), Querfortsatzfrakturen Lendenwirbelkörper 1–5 links, undislozierte Dornfortsatzfraktur Brustwirbelkörper 8, dislozierte Rippenfrakturen 7.–9. links (Abb. 4); Nierenlazeration links (Abb. 5); Lungenkontussionen beidseits (Abb. 6); intramuskuläres Hämatom M. iliopsoas links sowie ein subkapsuläres Milzhämatom. Es ergibt sich ein ISS (Injury severity Score) von 34. Nach erfolgter Schockraumdiagnostik wird im Rahmen der Damage-Control-Orthopedics die Anlage eines Fixateur externe am Becken (Abb. 7) vorgenommen – intraoperativ erfolgt die Transfusion von 2 Erythrozytenkonzentraten und 8 g Fibrinogen. Die Nierenlazeration wird nach sonografischer Kontrolle konservativ behandelt. Es erfolgt eine zeitnahe Extubation auf der Intensivstation. Am vierten stationären Tag erfolgt die operative Ausversorgung der periprothetischen Femurfraktur mittels NCB-Platte (Fa. Zimmer-Biomet) und Cerclagen (Abb. 8), wobei bei intraoperativem Blutverlust erneut 3 Erythrozytenkonzentrate transfundiert werden. Bereits am Folgetag kann der Patient erneut komplikationslos extubiert werden. Noch auf der Intensivstation präsentiert sich der Patient daraufhin mit einem deutlichen Delir und halluzinogenen Phasen – die leitliniengerechte Therapie und Prophylaxe werden eingeleitet. Bei im Verlauf steigenden Infektparametern und nun beidseitigem Pleuraerguss erfolgt die komplikationslose Anlage beidseitiger Thoraxdrainagen (Abb. 9). Eine Woche nach stationärer Aufnahme kommt es zu einem erstmalig aufgetretenen paroxysmalen Vorhofflimmern, welches in Rücksprache mit den Kardiologen mittels therapeutischer Antikoagulation behandelt wird. Am 16. Tag nach Aufnahme wird die operative Therapie des Beckens mittels Sakralstab unter Belassen des Fixateur externe für den vorderen Beckenring durchgeführt (Abb. 10). Am Folgetag kann der Verletzte auf die akutgeriatrische Normalstation verlegt werden – hier erfolgen erste rehabilitative Maßnahmen und der Patient nimmt am multimodalen, interdisziplinären Therapiekonzept teil („alterstraumatologische Komplexbehandlung“). Bei persistierender nächtlicher Desorientiertheit mit Delirsymptomatik erfolgt des Weiteren die Therapie und Prophylaxe des Delirs. Drei Wochen post Trauma wird der Patient auf die Frührehabilitationsstation in unserem Haus verlegt. Es erfolgt die Röntgenkontrolle des Beckens (Abb. 11) und im Folgenden eine Entfernung des Fixateur externe 6 Wochen postoperativ. Im Anschluss gelingt nach initialer Entlastung und erneuter Röntgenkontrolle (Abb. 12) eine langsame Aufbelastung der beiden unteren Extremitäten. Zuletzt ist der Patient auf Stationsebene unter Zuhilfenahme von 2 Unterarmgehstützen bei schmerzadaptierter Vollbelastung mobil. Im Anschluss wird der Patient in die weiterführende Rehabilitationseinrichtung entlassen.
Herausforderungen des
geriatrischen Polytraumas
Definitionen
Geriatrische Patientin/geriatrischer Patient
Ein geriatrischer Patient wird durch 2 Hauptkriterien definiert:
geriatrietypische Multimorbidität
höheres Lebensalter (überwiegend 65–70 Jahre und älter)
Dabei ist die geriatrietypische Multimorbidität vorrangig vor dem kalendarischen Alter zu betrachten. Alternativ kann auch ein Alter von 80 Jahren und älter, aufgrund der alterstypisch erhöhten Vulnerabilität, als Kriterium herangezogen werden [1].
Geriatrische Patientinnen und Patienten zeichnen sich durch eingeschränkte Reservekapazitäten und grenzgradig kompensierte Funktionseinschränkungen aus. Die biologische Alterung und damit verbundene Faktoren wie Multimorbidität, Gebrechlichkeit („frailty“) und reduzierte physiologische Reserven spielen eine entscheidende Rolle. Das Konzept der Gebrechlichkeit beschreibt eine verminderte Widerstandsfähigkeit gegenüber Stressfaktoren aufgrund altersbedingter Funktionsverluste in mehreren Organsystemen. Sie gelten daher als Hochrisikopatientinnen-/patienten.
Polytrauma
Ein Polytrauma ist definiert als 2 oder mehr gleichzeitig auftretende schwere Verletzungen an mindestens 2 Körperregionen, wobei mindestens 1 Verletzung oder die Kombination mehrerer Verletzungen lebensbedrohlich ist [2]. Typischerweise betreffen diese Verletzungen lebenswichtige Organe oder Körperstrukturen wie Kopf, Thorax, Abdomen, Wirbelsäule oder große Knochen. Der Injury Severity Score (ISS) wird zur Objektivierung der Verletzungsschwere verwendet. Ein ISS-Wert von 16 oder höher gilt als kritisch [16].
Polytraumata resultieren häufig aus hochenergetischen Ereignissen wie schweren Verkehrsunfällen, Stürzen oder Gewalteinwirkungen [17]. Bei geriatrischen Patientinnen und Patienten können jedoch bereits weniger schwere Verletzungen durch „niedrig-Rasanz-Traumata“ aufgrund von Komorbiditäten und eingeschränkten physiologischen Reserven lebensbedrohlich sein. Die Komplexität der Verletzungen erfordert einen multidisziplinären Behandlungsansatz und stellt eine erhebliche Herausforderung für das medizinische Personal dar [19].
Merke:
Die geriatrische Patientin/der geriatrische Patient zeichnet sich nicht nur durch sein Alter von 65–70 Jahren oder älter aus, sondern präsentiert sich führend durch seine Multimorbidität.
Ein Polytrauma definiert sich als eine Mehrfachverletzung von mind. 2 Körperregionen mit einem AIS-Grad ? 3 (Abbreviated Injury Scale) oder einem ISS (Injury Severity Scale) ? 16.
Demografischer Wandel und Epidemiologie
Laut dem Bundesministerium des Innern und für Heimat verändert der demografische Wandel Deutschland so tiefgreifend wie kaum eine andere gesellschaftliche Entwicklung [3, 4]. Zentrale Merkmale sind:
Alterung der Bevölkerung
wachsende Vielfalt der Bevölkerung
deutliche Zunahme der erwerbstätigen Gesellschaft älter als 60 Jahre
Die Menschen in Deutschland leben länger, sind gesünder und mobiler als in früheren Generationen. Gleichzeitig ist die Geburtenzahl im Vergleich zu anderen europäischen Ländern auf einem niedrigen Niveau [3].
In Deutschland betrug der Anteil der Bevölkerung über 65 Jahre im Jahr 2020 etwa 22 % und wird bis 2050 voraussichtlich auf 30 % steigen. Dies führt mittelbar zu einer stetig steigenden Zunahme von Traumafällen bei älteren Patientinnen und Patienten.
Die Hauptursachen für Polytraumata bei geriatrischen Patientinnen und Patienten unterscheiden sich von denen jüngerer Bevölkerungsgruppen. Im Gegensatz zur jüngeren Bevölkerungsgruppe spielen nicht die sogenannten Hochenergietraumata die führende Rolle, vielmehr sind, wie bereits erwähnt, die Niedrigenergietraumata hauptverantwortlich für die/den polytraumatisierten geriatrische/n Patientin/Patient. Mehr oder minder banale Stürze sind die häufigste Ursache, gefolgt von Verkehrsunfällen, wobei ältere Patientinnen und Patienten oft als Fußgänger oder zunehmend als „fitte und mobile“ Radfahrer involviert sind. Ebenso waren laut einer Studie etwa 40 % der geriatrischen Traumafälle mit Synkopen assoziiert, was die Bedeutung präventiver Ansätze unterstreicht [5].
Herausforderungen in der
Versorgung
Mit der zunehmenden Alterung der Bevölkerung steigt auch die Zahl der geriatrischen Polytraumapatientinnen und -patienten. Das TraumaRegister DGU® der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie liefert hierzu aufschlussreiche Daten [6]:
Im Jahr 2017 waren 26,2 % der erfassten Polytraumapatientinnen und -patienten über 70 Jahre alt.
Im Jahr 2023 waren bereits 30,1 % der erfassten Polytraumapatientinnen und -patienten über 70 Jahre alt [7]. Es wird erwartet, dass die Zahl der polytraumatisierten geriatrischen Patientinnen und Patienten in den kommenden Jahren ähnlich der demografischen Entwicklung kontinuierlich weiter steigen wird.
Diese Entwicklung stellt das Gesundheitssystem vor neue Herausforderungen, da geriatrische Polytraumapatientinnen und -patienten sowohl im Verletzungsmuster als auch in der Therapiestrategie wesentliche Unterschiede zu jüngeren Patientinnen und Patienten aufweisen [6, 12, 18, 22].
Merke:
In den vergangenen Jahren kommt es zu einer kontinuierlichen Zunahme an polytraumatisierten, geriatrischen Patientinnen und Patienten.
Veränderungen im Verletzungsmuster bei geriatrischen Polytraumata
Mit zunehmendem Alter der Patientinnen und Patienten lassen sich charakteristische Veränderungen im Verletzungsmuster bei Polytraumata beobachten [6]:
Zunahme schwerer Kopfverletzungen [15]
Rückgang schwerer abdomineller Verletzungen
Diese Verschiebung im Verletzungsmuster erfordert angepasste Behandlungsstrategien und eine besondere Aufmerksamkeit für potenzielle Komplikationen im Bereich der Kopfverletzungen bei älteren Patientinnen und Patienten.
Physiologische Besonderheiten und Morbiditäten der frailty-Patientinnen und -Patienten
Mit erhöhtem Alter treten physiologische Veränderungen wie eine reduzierte kardiale Reserve, verringerte Lungenkapazität, eingeschränkte Nierenfunktion und reduzierte Knochendichte auf. Diese Faktoren beeinflussen die Reaktion der Patientinnen und Patienten auf Verletzungen und deren Behandlung. Ein Blutverlust, der bei jüngeren Patientinnen und Patienten kompensiert werden könnte, kann bei älteren, beispielsweise bereits zu einem Kreislaufkollaps führen. Besonders hervorzuheben sind hierbei der fortschreitende Rückgang der Zellfunktion und der verminderten physiologischen Reserven bei älteren Patientinnen und Patienten, was zu einer deutlichen Beeinträchtigung der Reaktion auf physische Belastungen wie Traumata führt. Besonders beeinträchtigt bei geriatrischen Patientinnen und Patienten zeigt sich zumeist das kardiorespiratorische System. Hierbei kommt es durch chronische Erkrankungen oder Dauermedikation zur verminderten Reservekapazität auf traumatische Einflüsse. Gleichzeitig spielt die gestörte Koagulation, durch Vorerkrankungen oder Antikoagulanzien, eine entscheidende Rolle in Phase der akuten Traumaversorgung [8].
Zusätzlich zu den Multimorbiditäten der geriatrischen Patientinnen und Patienten kommt zudem oftmals hinzu, dass diese polymediziert sind, was das Risiko für Arzneimittelinteraktionen und Nebenwirkungen erhöht. Blutverdünnende Medikamente wie Antikoagulantien (DOAK, Marcumar etc.) können die Schwere von Blutungen nach Traumata erheblich steigern und das akute Therapieregime limitieren.
Diagnostische und therapeutische Herausforderungen
Die Diagnostik bei geriatrischen Polytraumapatientinnen und -patienten wird durch mehrere Faktoren erschwert:
Atypische Symptompräsentation: Der Ausbruch einer akuten Erkrankung kann verschleiert und somit zu spät erkannt werden. Ein Beispiel ist das Fehlen klassischer Anzeichen eines Schocks bei älteren Patientinnen und Patienten.
Hohe Krankheitsintensität mit erhöhter Komplikationsgefahr
Reduzierte Spontan-Rekonvaleszenz
Erhöhter Früh-/ Rehabilitationsbedarf
Diese Aspekte erfordern eine besonders sorgfältige und umfassende diagnostische Abklärung, um alle relevanten Verletzungen und Komplikationen frühzeitig zu erkennen und adäquat zu behandeln [13, 21, 24].
Die Behandlung geriatrischer Polytraumapatientinnen und -patienten erfordert spezifische Therapiestrategien, die sich von denen jüngerer Patientinnen und Patienten unterscheiden. Selbstverständlich stehen die Prinzipien „Treat First What Kills First“ und „Do No Further Harm“ ebenso wie bei jüngeren Patientinnen und Patienten im Vordergrund, jedoch werden Anpassungen an altersbedingte Besonderheiten nötig. Gründe hierfür sind:
Vorerkrankungen
Einnahme verschiedener Medikamente, die die Physiologie verändern (DOAK, Marcumar etc.)
Eingeschränkte Reservekapazitäten
Diese und zahlreiche weitere Faktoren müssen bei der Planung und Durchführung der Behandlung berücksichtigt werden, um optimale Ergebnisse zu erzielen und potenzielle Komplikationen zu minimieren.
Merke:
Das Verletzungsmuster bei polytraumatisierten Patientinnen und Patienten bewegt sich oftmals hin zum schweren Schädelhirntrauma und multiplen osteoporotischen Knochenbrüchen.
Eine besondere Herausforderung in der Behandlung geriatrischer Polytraumapatientinnen und -patienten ist die Multimorbidität, sowie deren Polypharmazie.
Behandlungsstrategien des geriatrischen Polytraumas
Die Behandlung geriatrischer Polytraumapatientinnen und -patienten erfordert einen multidisziplinären Ansatz, der während des gesamten Versorgungszeitraumes der Patientinnen und Patienten verschiedene medizinische Fachrichtungen einbezieht [11]:
Unfallchirurgie
Intensivmedizin
Geriatrie
Neurologie
Anästhesie
Physiotherapie und Ergotherapie
Durch die enge Zusammenarbeit dieser Disziplinen kann eine optimale Versorgung gewährleistet werden, die sowohl die akuten Verletzungen als auch im weiteren Verlauf die spezifischen Bedürfnisse geriatrischer Patientinnen und Patienten berücksichtigt. So wird der Behandlungskreislauf von der Akutversorgung über die stationäre Versorgung und Therapie bis hin zur Rehabilitationsphase eingeschlossen [27].
Die Therapie eines geriatrischen Polytraumas gliedert sich im Generellen in 3 Hauptphasen:
Akutversorgung/Primäre Notfallversorgung
Lebensrettende Maßnahmen und Verhinderung von Schockzuständen; sie folgt den ATLS (Advanced Trauma Life Support)-Prinzipien, wobei spezifische Anpassungen erforderlich sein können. Beispielsweise ist eine frühe Intubation oftmals indiziert, da die Atemwegsreserve geringer ist. Ebenso ist die rasche Kontrolle von Blutungen insbesondere bei Patientinnen und Patienten unter Antikoagulation entscheidend für das Outcome [23, 25].
Definitive Behandlungsphase – Interdisziplinärer Behandlungsansatz
Spezialisierte Traumazentren mit geriatrischen Schwerpunkten haben sich als effektiv erwiesen, um die Mortalität und Komplikationsraten zu senken. Hierzu zählen die spezialisierten „alterstraumatologischen Zentren“. Es erfolgt zunächst eine genaue Bestimmung von Art und Umfang der Verletzungen durch u.a. detaillierte radiologische Untersuchungen, die Festlegung eines Therapieregimes und letztendlich der multidisziplinären Behandlung der geriatrischen Patientinnen und Patienten.
Rehabilitationsphase
Es sollte eine möglichst frühzeitige Mobilisierung und Wiederherstellung der Funktionalität angestrebt werden, um eine persistierende Immobilität und die damit verbundenen möglichen Komplikationen wie Pneumonie oder Thrombose zu vermeiden. Hierbei spielt wiederum der multidisziplinäre Ansatz von ärztlicher Seite, der Physiotherapie sowie der Ergotherapie eine maßgebliche Rolle.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei geriatrischen Patientinnen und Patienten besonders auf eine schonende, aber dennoch zügige Behandlung zu achten ist, um Komplikationen durch beispielsweise lange Immobilisation zu vermeiden.
Merke:
Ein besonderes Augenmerk in der Planung des gesamten Therapieregimes sollte auf ein multidisziplinäres Konzept gelegt werden.
Entscheidend für das Outcome und die Vermeidung von Sekundärkomplikationen ist die frühzeitige Mobilisation und Rehabilitation [26].
In unserem Fallbeispiel zeigt sich, dass der Patient zusätzlich zu seinen akuten, teils lebensbedrohlichen Verletzungsfolgen durch seine Multimorbidität und sein fortgeschrittenes Alter auch von sekundären Komplikationen in seiner Genesungsphase zurückgeworfen werden kann. So wird die Erstdiagnose eines paroxysmalen Vorhofflimmerns gestellt, welche im Anschluss, nach internistisch-kardiologischer Rücksprache, zunächst mittels niedermolekularem Heparin therapeutisch antikoaguliert und dann leitliniengerecht mittels OAK therapiert wird. Im Beispiel ergeben sich dadurch keine wesentlichen Komplikationen, jedoch sollte im Falle eines solchen Traumas die initiale Therapie mittels blutverdünnender Medikamente immer in strenger Risiko-Nutzen-Abwägung erfolgen. Eine weitere nicht zu unterschätzende Komplikation kann das Entstehen eines Delirs sein, welches vornehmlich bei den älteren, geriatrischen Patientinnen und Patienten auftritt [14, 20]. Hierzu sollte vor allem eine sogenannte Delirprophylaxe erfolgen. Dazu zählt die Überprüfung der Medikation und das Meiden potenzieller delirfördernder Medikamente, die Sicherstellung einer tagesstrukturierenden Umgebung mit festem Tag-Nacht-Rhythmus, sowie regelmäßige Kontakt zu den Angehörigen. Sollte es dennoch zur Entstehung eines Delirs kommen, haben wir in unserer Klinik ein Therapiekonzept in 3 Stufen etabliert:
- 1. Gleichzeitige Diagnose und Therapie möglicher auslösender Ursachen (Exsikkose – i.v. Substitution; Labordiagnostik – Infektparameter, Elektrolythaushalt, Glucose etc.; Hypotone – Anpassung der Medikation; Hypoxie – O2-Applikation, Bildgebung; Fokal neurologische Ausfälle – Bildgebung; Anpassung möglicher auslösender Medikation)
- 2. Einbeziehen von Bezugspersonen/Angehörigen in der Therapie und weiteren Prophylaxe
- 3. Medikamentöse Therapie (Lorazepam/Midazolam, Haloperidol, Clonidin, Quetiapin etc.)
Ziel sollte eine möglichst zeitnahe Unterbrechung und weitere Vermeidung des Delirs sein, da mit der Delirpersistenz die sekundäre Komplikationsrate deutlich ansteigt. Hierbei sind vor allem manipulative Komplikationen durch die Patientinnen und Patienten selbst (Ziehen von Drainage, Manipulation an Wunden etc.), das deutlich erhöhte Sturzrisiko (bei Selbstmobilisation) aber auch das hierdurch schlechtere Behandlungsergebnis (verspätete Frühmobilisation mit entstehenden Komplikationen und längerem Krankenhausaufenthalt) zu nennen.
Fazit
Studien zeigen, dass die Mortalität geriatrischer Polytraumapatientinnen und -patienten ohne strukturierte Behandlungsstrategien bei bis zu 68 % liegt. Mit der Implementierung von SOPs (Standard Operating Procedures) und einem interdisziplinären Therapiekonzept kann diese Rate signifikant reduziert werden. Eine Studie von Lorenz Peterer [9] zeigt die Abnahme der Sterblichkeit bei geriatrischen, polytraumatisierten Patientinnen und Patienten mit einem ISS ? 16 von 68 % auf 50 % nach Implementierung von SOPs [9]. Die demografische Entwicklung in Deutschland lässt erwarten, dass die Zahl der geriatrischen Polytraumapatientinnen und -patientenin den kommenden Jahren weiter zunehmen wird. Prognosen des Statistischen Bundesamtes zeigen: Je nach Szenario könnte die Zahl der Menschen im Erwerbsalter bis Ende der 2050er Jahre um 14–29 % abnehmen [10]. Dies würde bei einer konstant zunehmenden Zahl der geriatrischen Patientinnen und Patienten und gleichzeitigem zunehmendem Mangel an erwerbsfähigem Personal eine massive Herausforderung für das Gesundheitssystem bedeuten. Regionale Unterschiede in der demografischen Entwicklung werden hierbei zu unterschiedlichen Herausforderungen in den verschiedenen Teilen Deutschlands führen.
Um den steigenden Anforderungen gerecht zu werden, sind Anpassungen der Versorgungsstrukturen notwendig: Ausbau geriatrischer Kompetenzen in Traumazentren, Ausbau geriatrischer Rehabilitationseinrichtungen mit Etablierung spezialisierter Rehabilitationsprogramme für polytraumatisierte Patientinnen und Patienten, sowie eine verstärkte Forschung zu altersspezifischen Behandlungsstrategien. Ebenso sollte eine Weiterentwicklung des TraumaRegisters DGU® erfolgen, welche folgende Ziele haben sollte: Mehr Outcome-relevante Daten der Patientinnen und Patienten erheben und gleichzeitig eine strukturierte Befragung der Patientinnen und Patienten, um die Lebensqualität nach einem Polytrauma besser zu erfassen. Denn dadurch lassen sich die Behandlungen vergleichbar machen, strukturelle Veränderungen messen [6] und im Weiteren die Versorgung geriatrischer Polytraumapatientinnen und -patienten kontinuierlich verbessern und an die sich ändernden demografischen Gegebenheiten anpassen.
Interessenkonflikte:
Keine angegeben.
Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf:
www.online-oup.de.
Korrespondenzadresse
MUDr. Jakob Mayr
Zentrum für Orthopädie und
Unfallchirurgie
Klinikum Ingolstadt GmbH
Krumenauerstraße 25
85049 Ingolstadt
jakobquirin.mayr@klinikum-ingolstadt.de
CME-Fragen
1. Wie wird ein Polytrauma definiert und welche Rolle spielt der Injury Severity Score (ISS) dabei?
Das Polytrauma definiert sich durch Mehrfachverletzungen von mindestens 2 Körperregionen, die durch Hochrasanz-Traumata verursacht werden.
Das Polytrauma definiert sich ausschließlich durch einen ISS höher als 16.
Bei der/bei dem geriatrischen Polytrauma-Patientin/-Patienten müssen mindestens 4 verschiedene Körperregionen durch das Trauma betroffen sein.
Das Polytrauma definiert sich durch Mehrfachverletzung von mindestens 2 Körperregionen, von denen mindestens 1 oder deren Kombination lebensbedrohlich ist.
Bei der/bei dem geriatrischen Patientin/Patienten gilt bereits ein ISS höher als 10 als Definitionskriterium für das Vorliegen eines Polytraumas.
2. Was versteht man unter einem geriatrischen Polytrauma und welche besonderen Herausforderungen stellt es dar?
Eine schwer verletzte Patientin/ein schwer verletzter Patient mit multiplen Vorerkrankungen, bei dem frühzeitig das Therapieziel festgelegt werden sollte.
Eine Patientin/ein Patient höheren Alters, der im Laufe seines Lebens schon multiple unfallchirurgische Diagnosen und Traumafolgen erlitten hat, welche im Therapiekonzept beachtet werden müssen.
Eine Patientin/ein Patient älter als 65–70 Jahre, die/der durch sein traumatisches Verletzungsmuster die Definition des Polytraumas erfüllt und bei dem aufgrund der Multimorbidität eine multidisziplinäre Behandlungsstrategie eingeschlagen werden sollte.
Eine Patientin/ein Patient höheren Alters, die/der aufgrund seiner Vorerkrankungen meist durch Niederenergietraumata multiple Verletzungen erleidet und daher eine komplexe Behandlung erfordert.
Eine Patientin/ein Patient älter als 65–70 Jahre mit multiplen internistischen Vorerkrankungen, die/der in der Notaufnahme konsiliarisch nach Sturzgeschehen vorgestellt wird.
3. Welche Aussage zu geriatrischen Patientinnen und
Patienten ist unzutreffend?
Ein Definitions-Hauptkriterium ist das hohe Alter.
Demenz stellt ebenfalls ein Definitionskriterium dar.
Ein weiteres Definitionskriterium ist die Multimorbidität.
Gebrechlichkeit („frailty“) und reduzierte physiologische Reserven spielen eine entscheidende Rolle.
Es handelt sich um ein risikobehaftetes Patientenkollektiv.
4. Welche Aussage zur demografischen Entwicklung in Deutschland trifft zu?
Geringe Alterung der Bevölkerung
Abnehmende Vielfalt der Bevölkerung
Abnahme der erwerbstätigen Gesellschaft älter als 60 Jahre
Höhere Lebenserwartung als in früheren Generationen
Geburtenzahl im Vergleich zu anderen europäischen Ländern auf einem hohen Niveau
5. Wie unterscheiden sich die Hauptursachen von Polytraumata bei geriatrischen Patientinnen/Patienten im Vergleich zu jüngeren Patientinnen/Patienten?
Geriatrische Patientinnen und Patienten sind aufgrund ihres Alters und der damit verbundenen Unsicherheit häufiger in Hochenergie-Verkehrsunfälle verwickelt.
Jüngere Patientinnen und Patienten polytraumatisieren meist durch selbstverschuldete Hochenergietraumata, während geriatrische Patientinnen und Patienten meist die Traumaentstehung nicht beeinflussen.
Mehr als 60 % der geriatrischen Polytrauma-Patientinnen und -Patienten werden mit einem synkopalen Ereignis in Verbindung gebracht.
Geriatrische Patientinnen und Patienten sind zumeist durch sogenannte Niedrigenergie-Traumata, wie beispielsweise mehr oder minder banale Stürze, polytraumatisiert.
Geriatrische Patientinnen und Patienten polytraumatisieren meist als Folge ihrer Vorerkrankungen und Multimorbidität.
6. Welche physiologische Besonderheit erhöht nicht die Vulnerabilität geriatrischer Patientinnen und Patienten bei Polytraumata?
reduzierte kardiale Reserve
verringerte Lungenkapazität
eingeschränkte Nierenfunktion
physiologisch oder pharmazeutisch gestörte Blutgerinnung
dementielle Entwicklung
7. Welche spezifischen diagnostischen und therapeutischen Herausforderungen bestehen bei der Behandlung geriatrischer Polytrauma-Patientinnen und -Patienten?
Sie präsentieren sich üblicherweise mit atypischen Symptomen und einer höheren Krankheitsintensität.
Geriatrisch polytraumatisierte Patientinnen und -Patienten sollten bereits in der Schockraumphase einer/einem internistischen Kollegin/Kollegen vorgestellt werden.
Aufgrund möglicher festgelegter Therapielimitierungen muss vor einer Schockraumdiagnostik der Patientenwille abgeklärt werden.
Geriatrisch polytraumatisierte Patientinnen und -Patienten haben aufgrund vorbestehender Mobilitätseinschränkungen in der Regel keinen Rehabilitationsbedarf.
Geriatrisch polytraumatisierte Patientinnen und -Patienten sollten lediglich an Krankenhäusern der höchsten Versorgungsstufe behandelt werden, da nur diese ein multidisziplinäres Therapiekonzept bieten können.
8. Welche Besonderheiten im Verletzungsmuster treten bei geriatrischen Polytrauma-Patientinnen und -Patienten im Vergleich zu jüngeren Patientinnen und Patienten auf, und welche Folgen ergeben sich daraus für die Behandlung?
Aufgrund der verlangsamten Schutzreflexe präsentieren sich geriatrisch polytraumatisierte Patientinnen und -Patienten oftmals mit Mittelgesichtsfrakturen.
Internistische Vorerkrankungen und orale Blutverdünnung bedingen eine gute Gewöhnung an eine ggf. traumatisch verschärfte Anämie.
Geriatrisch Patientinnen und Patienten präsentieren sich oftmals mit schweren Schädelhirntraumen und multiplen osteoporotischen Knochenbrüchen, die mehrfache Operationen nach sich ziehen können.
Aufgrund des geringeren Energie-Impacts bei geriatrischen Polytraumata fallen die Knochenbrüche typischerweise weniger komplex aus.
Allgemein gängige Schockraum-Prinzipien wie z.B. ATLS lassen sich bei diesem spezifischen Patientengut nicht
anwenden.
9. Maßnahmen, um ein Delir bei geriatrischen Patientinnen und Patienten vorzubeugen oder zu behandeln: Welche Aussage ist ungeeignet?
Überprüfung der Medikation
Sicherstellung einer tagesstrukturierenden Umgebung
Umkehr des Tag-Nacht-Rhythmus
regelmäßige Kontakt zu den Angehörigen
Meiden potenzieller delirfördernder Medikamente
10. Welche Aussage zu Behandlungsansätzen bei geriatrischen Polytrauma-Patientinnen und -Patienten ist zutreffend?
Mit der Implementierung von Standard Operating Procedures kann die Mortalität nicht wesentlich gesenkt werden.
Ein zentraler Erfolgsfaktor ist die multidisziplinäre Behandlung.
Geriatrische Kompetenzen sind in Traumazentren – qualitativ und quantitativ – hinreichend vorhanden.
Geriatrische Patientinnen und Patienten haben durch ausreichendes Vorhandensein von Pflegeplätzen verkürzte Liegezeiten.
Eine frühzeitige Mobilisation sollte verhindert werden, um das operative Outcome nicht zu gefährden.
Die Teilnahme an der CME-Fortbildung ist nur online möglich auf der Website www.online-oup.de.