Übersichtsarbeiten - OUP 03/2020
Konservative Behandlung patellofemoraler Pathologien
Jana Rogoschin, Ingo Volker Rembitzki, Wolfgang Potthast
Zusammenfassung:
Patellofemorale Schmerzen umfassen ein breites Spektrum an Pathologien, darunter das patellofemorale Schmerzsyndrom (engl.: patellofemoral pain syndrome, PFPS), welche häufig auf mechanische Überlastungen und Sagittalachsabweichungen der unteren Extremität mit lokalen, proximalen und distalen ätiologischen Faktoren zurückzuführen sind. Diese systematische Übersichtsarbeit identifiziert
6 Behandlungsmodalitäten im Rahmen des konservativen PFPS-Managements: Physiotherapie, Übungs- und Rehabilitationsprogramme, Taping, Elektrotherapie, Schuheinlagen und Patellofemoral (PF)-Orthesen. Resultierend konnte keine Überlegenheit einer einzelnen Behandlungsmethode gegenüber den anderen Behandlungsansätzen identifiziert werden, da die multifaktorielle Genese des PFPS verschiedene Ansätze erfordert. Der Fokus der identifizierten Behandlungsprotokolle lag auf der Aktivität und einer gezielten Kräftigung der unteren Extremität. Dabei schien der zusätzliche Einsatz von Taping und biomechanischen Interventionen wie Orthesen mit Einfluss auf das Patella-Alignment während der Aktivität zu einer Schmerzreduktion und zu einer positiven Erfahrung mit einem langfristigen Erfolg beizutragen.
Schlüsselwörter:
Patellofemorales Schmerzsyndrom, Physiotherapie, Übungstherapie, Taping, Elektrotherapie, Orthesen
Zitierweise:
Rogoschin J, Rembitzki IV, Potthast W: Konservative Behandlung patellofemoraler Pathologien OUP 2020; 9: 144–150 DOI 10.3238/oup.2019.0144–0150
Summary: Patellofemoral pain covers a wide range of pathologies, including patellofemoral pain syndrome (PFPS), which is often the result of mechanical overload and sagittal axial deviation of the lower extremity with local, proximal and distal factors of etiology. This systematic review identifies 6 treatment modalities within the framework of conservative PFPS management: physiotherapy, exercise and rehabilitation programs, taping, electrotherapy, shoe inserts and patellofemoral (PF) orthoses. As a result, no single treatment modality could be derived, since the multifactorial etiology of PFPS requires different approaches. The focus of the identified treatment protocols was on activity and strengthening programs of the lower extremity, whereas the additional use of taping and biomechanical interventions such as orthoses during activity can lead to beneficial effects. The influence on patella alignment seemed to contribute to pain reduction and thus to a positive experience with long-term success.
Keywords: patellofemoral pain syndrome, physiotherapy, exercising, taping, electrotherapy, orthoses
Citation: Rogoschin J, Rembitzki IV, Potthast W: Conservative treatment of patellofemoral pathologies. OUP 2020; 9: 144–150 DOI 10.3238/oup.2019.0144–0150
Jana Rogoschin: Institut für Biomechanik und Orthopädie, Deutsche Sporthochschule Köln und Össur Deutschland GmbH, Frechen
Ingo Volker Rembitzki: Clinical Excellence Circle, Braunschweig
Wolfgang Potthast: Institut für Biomechanik und Orthopädie, Deutsche Sporthochschule Köln und ARCUS Kliniken Pforzheim
Einleitung
Unter patellofemoralen Schmerzen wird eine Vielzahl von Pathologien zusammengefasst. Dazu zählen chondrale Verletzungen, Arthritis, Instabilität und das patellofemorale Schmerzsyndrom (engl.: patellofemoral pain syndrome, PFPS) [28]. Zumeist wird das patellofemorale Schmerzsyndrom als ein Überbegriff für anterioren, peri- und retropatellaren Schmerz verwendet, der typischerweise nicht traumatischen Ursprungs ist und häufig ohne strikte terminologische Abgrenzung mit dem Patella Malalignment-Syndrom, Chrondromalacia patellae und dem anterior knee pain syndrom (AKPS) synonym verwendet wird [25]. Der chronische, schmerzhafte Zustand mit vorwiegend schleichendem Beginn, der typischerweise ohne radiologisch diagnostizierbare strukturelle Veränderungen einhergeht, ist einer der häufigsten Ursachen für Kniegelenkerkrankungen und Überlastungsverletzungen, insbesondere in der jüngeren weiblichen aktiven Bevölkerung [10]. Junge Frauen leiden um 25- 50 % häufiger an PFPS als junge Männer [30, 35]. Jede 4. Diagnose im als sportlich aktiv beschriebenen Bevölkerungsanteil geht auf PFPS zurück. Martimbianco beschreibt, dass PFPS in 25- 40 % aller Diagnosen von Athleten und Sportlern auftreten kann [16, 25]. Die Kinematik des patellofemoralen Gelenks erstreckt sich über 6 Freiheitsgrade, 3 rotatorische und 3 translatorische. Diese komplexe Kinematik des patellofemoralen Gelenkes ist durch eine strenge Abhängigkeit von den Bewegungen des tibiofemoralen Gelenkes gekennzeichnet. Wie beim tibiofemoralen Gelenk findet sich die primäre Bewegung in der Sagittalebene und ist durch das Gleiten der Patella in der Trochlea (superiore-inferiore Translation) gegeben. Die Bewegungen des tibio-femoralen Gelenkes in seinen sekundären Bewegungsebenen (Frontal- und Transversalebene) verursachen eine Änderung der Zugrichtung der Patellasehne und damit eine Änderung der auf die Patella wirkenden Kraft. Aufgrund der nicht konstanten Radien der Femurkondylen liegt die Patella bei Kniebeugung nicht vollflächig auf dem Femur auf und führt relativ zum Femur eine Flexion und damit eine Rotation in der Sagittalebene um die medio-laterale Achse durch. Da Patella und Trochlea nur sehr eingeschränkte geometrische Kongruenz aufweisen, kann die Patella zudem medio-laterale Translationen (ML Shift) durchführen (Abb. 1a). Gleichzeitig findet mit der medio-lateralen Translation insbesondere bei geringer Kontaktfläche von Patella und Femur eine laterale Patellarotation um eine senkrecht auf der Patella stehende Achse statt (Abb. 1b). Durch die medio-laterale Translation der Patella kippt die Patella (Tilt) um die superiore-inferiore Achse (Abb.1c). Damit sind die 3 rotatorischen Freiheitsgrade des Patellofemoralen Gelenkes durch die Flexion, den Tilt und die Rotation der Patella in Relation zum Femur beschrieben. Die 3 Translationen sind das superiore-inferiore Gleiten der Patella entlang der Femurlängenachse, die medio-laterale Translation der Patella und die anteriore-posteriore Bewegung der Patella in Relation zum Femur. Folglich kann es durch die geringe Bewegungseinschränkung und limitierte knöcherne Führung zu vielen verschiedenen Kombinationen kommen. Dazu kommt die Vielzahl der morphologischen Varianten von Patella und Trochlea und der Variabilität und Individualität von muskulären und mechanischen Faktoren.
Ursächlich für PFPS können Funktionsstörungen des M. quadriceps infolge einer Schwäche oder Insuffizienz des M. vastus medialis obliquus (VMO) in Relation zum M. vastus lateralis (VL) oder eine Störung des zeitlichen Aktivierungsverhältnisses eine Rolle spielen [22, 34]. Obwohl einige Arbeiten eine isolierte VMO-Atrophie in symptomatischen Individuen im Vergleich zu gesunden Patienten nachweisen konnten, ist dieses Ergebnis inkonsistent und ein kausaler Zusammenhang konnte nicht nachgewiesen werden [34]. Doch nicht nur eine strukturelle Problematik, sondern auch ein dynamischer oder funktioneller Valgus beeinflusst das Patellatracking und führt zu einer Lateralisierung. Eine Schwäche der Hüftaußenrotatoren und der Abduktoren (M. gluteus medius et minimus) mit einhergehender Innenrotation des Femurs, sowie eine Hyperpronation der Sprunggelenke mit einer erhöhten tibialen und femoralen Innenrotation kann additiv zu dieser Symptomatik beitragen [3, 30]. Die veränderte Biomechanik sorgt für eine erhöhte Druckkraft im patellofemoralen Gelenk, was durch die Kompression von lokalen Weichteilstrukturen wie Plica synovialis, infrapatellerem Fettkörper, Retinaculae, Gelenkkapsel und patellofemoralen Ligamenten im vorderen Knieschmerz resultiert [6]. Diese Faktoren können individuell oder kollektiv zum PFPS beitragen, so dass derzeit eine multifaktorielle Begründung angenommen wird [4]. Davis et Powers (2010) klassifizieren die Ursachen nach lokalen, distalen und proximalen Faktoren mit Einfluss von Fuß-, Sprung- und Hüftgelenk, sowie dem Becken [14]. Insgesamt weist das Syndrom eine eher ungünstige langfristige Prognose auf. Nur ein Drittel der Patienten sind ein Jahr nach der Diagnose schmerzfrei und 91 % der Patienten berichten auch noch 4 Jahre nach Diagnosestellung von Schmerzen und Funktionsstörungen [36].