Übersichtsarbeiten - OUP 03/2024
Moderne prä- und postoperative Rehabilitation vor und nach Knorpeltherapie und PatientenprofilingEin Leitfaden für eine progressive Belastungssteigerung
Frank Diemer, Julia Benitz, Wolfgang Schoch
Zusammenfassung:
Eine moderne prä- und postoperative Rehabilitation orientiert sich am strukturellen Schaden, den funktionellen Einschränkungen und den Begleiterkrankungen. Darüber hinaus muss die kognitiv-emotionale Situation der Betroffenen und ihre Lebenssituation (Familie, Arbeit, Sport) beachtet werden. Um dem Anspruch einer patientenzentrierten Rehabilitation gerecht zu werden, sollten aus diesem Grund alle möglichen Maßnahmen anhand klinischer und funktioneller Kriterien an das Individuum angepasst werden. Eine Nachbehandlung „von der Stange“ ist daher weder realistisch noch zielführend. In der Praxis haben sich dennoch Phasenmodelle etabliert. Hierbei wird ein grober zeitlicher Rahmen geschaffen, der als Orientierung für die Rehabilitation nach knorpelregenerativen Eingriffen angesehen werden kann. Neben einer präoperativen Vorbereitung stehen dabei die progressive Belastungssteigerung und das Training der motorischen Hauptbeanspruchungsformen Beweglichkeit, Ausdauer, Koordination und Kraft im Vordergrund.
Schlüsselwörter:
ICF-Klassifikation, Treibermodell, Edukation, prä- und postoperative Phase,
zeit- und kriterienbasierte Therapie
Zitierweise:
Diemer F, Benitz J, Schoch W: Moderne prä- und postoperative Rehabilitation vor und nach Knorpeltherapie und Patientenprofiling. Ein Leitfaden für eine progressive Belastungssteigerung
OUP 2024; 13: 122–128
DOI 10.53180/oup.2024.0122-0128
Summary: Modern pre- and post-operative rehabilitation is geared towards structural damage, functional limitations and concomitant comorbidity. In addition, the cognitive-emotional situation of those affected and their life situation (family, work, sport) must be taken into account. In order to meet the requirement of patient-centered rehabilitation, all possible measures should therefore be adapted to the individual based on clinical and functional criteria. Off-the-shelf follow-up treatment is therefore neither realistic nor effective. Nevertheless, phase models have become established in practice. These create a rough time frame that can be seen as a guide for rehabilitation after cartilage regenerative surgery. In addition to preoperative preparation, the focus is on progressively increasing the load and training the main forms of motor basic skills – mobility, endurance, coordination and strength.
Keywords: ICF-classification, drivers of pain and disability model, education,
pre- and postoperative rehabilitation, time- and criterion-based rehabilitation
Citation: Diemer F, Benitz J, Schoch W: Modern pre- and postoperative rehabilitation before and after cartilage therapy and patient profiling. A guide to progressive load increase
OUP 2024; 13: 122–128. DOI 10.53180/oup.2024.0122-0128
F. Diemer: Digotor GbR, Brackenheim
J. Benitz, W. Schoch: PULZ im Rieselfeld, Freiburg
Einführung
Eine erfolgreiche Knorpeltherapie hängt von verschiedenen Faktoren ab. Neben der korrekten Indikation, der knorpelregenerativen Operation inkl. ggf. kausalen Begleittherapien und dem Profil der Patientin/des Patienten ist die physiotherapeutische Rehabilitation ein elementarer Bestandteil. Die prä- und postoperative Rehabilitation trägt dazu bei, zufriedenstellende Outcomes zu erreichen. Es fehlen qualitativ hochwertige Studien aus diesem Fachbereich. Die aktuellen Nachbehandlungsprotokolle beruhen auf Expertenmeinungen, angewandter Biomechanik und Grundlagenforschung [1–4].
Das primäre Ziel von Rehabilitation ist es, Alltags- und Freizeitaktivitäten zu ermöglichen und die damit verbundene Selbstbestimmung und Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten wiederzuerlangen (WHO). Die Rehabilitation wird maßgeblich von physiologischen, psychologischen, sozialen und umweltbedingten Aspekten beeinflusst. Beispielsweise zeigt sich ein Zusammenhang zwischen präoperativer mentaler Gesundheit und postoperativem Schmerz und Funktion [5]. Monokausale Erklärungsmodelle zeigen nur einen Teil der komplexen multikausalen Realität [6]. Das biopsychosoziale Modell „International Classification of Function, Disability and Health” klassifiziert Gesundheit in Körperfunktion und -struktur, Aktivitäten und Teilhabe, Umwelt- und persönliche Faktoren (ICF). Um Patientinnen und Patienten bestmöglich zu rehabilitieren, erfordert es eine individuelle Betrachtung der Patientin/des Patienten. Zum Beispiel sollten bestehende Ängste vor einer Operation im Gespräch adressiert werden [7, 8]. Die Sicherstellung der Behandlungsqualität erfolgt nicht nur durch die Anwendung von Assessments und Interventionen auf physiologischer Ebene, sondern auch hinsichtlich psychologischer, sozialer Einflüsse und Umwelteinflüsse. Postoperative Rehabilitationsempfehlungen können einen Rahmen schaffen, motivieren, Progressionen vorgeben, Lebensstilanpassungen adressieren und schmerztreibende Faktoren miteinbeziehen. Guideline-Vorgaben beinhalten Interventionen zur Bewegungserweiterung, Kräftigung, Wiederherstellen der Alltagsfunktion, bis hin zu sportlicher Aktivität [9, 10]. Mit Hilfe der Guidelines sollen die Ziele der Patientin/des Patienten schnellstmöglich erreicht werden. Die Vorgehensweise der Guidelines unterliegt häufig ausschließlich zeitlichen Vorgaben, was in Bezug auf die Phasen der Gewebeheilung nachvollziehbar ist [11]. Jede Patientin/jeder Patient bringt jedoch unterschiedliche Voraussetzungen wie Alter, Aktivitätsstatus, Lokalisation des Defekts und andere Voraussetzungen mit und ist daher unterschiedlich belastbar. Die Belastbarkeit des Gelenks unterscheidet sich auch an den unterschiedlichen klinischen und funktionellen Kriterien. Zeigt ein Gelenk Entzündungszeichen oder z.B. ein unsauberes Gangbild, muss eine Pause oder Regression der Belastung erfolgen. Exzessive Inflammation im Gelenk kann sich ungünstig auf die Nachbehandlung auswirken [12]. Reizfreiheit des Gelenks ermöglicht eine Progression und zudem eine Annäherung an das Rehabilitationsziel. Erfolge wirken sich positiv auf die Patientin/den Patienten im gesamten biopsychosozialen Ansatz aus. Zeit- und Kriterien basiertes Vorgehen schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich und ermöglichen eine sichere Rückkehr zum Arbeitsplatz oder in den Sport. Eine weitere Ursache für unterschiedliches Tempo in der Nachbehandlung, könnten sog. „Treiber“ sein, welche die Rehabilitation fundamental beeinflussen [13].
Ergänzend zum ICF-Modell wurde dieses Treibermodell implementiert. Die Ursprünge des Treibermodells liegen im Zusammenhang mit chronischen Rückenschmerzpatientinnen/-patienten. Es dient dazu, die Patientin/den Patienten in seiner gesamten Komplexität darzustellen. Das Paradigma ist neben chronischen Rückenschmerzen auch auf andere muskuloskelettale Beschwerdebilder und somit auch auf Patientinnen und Patienten mit einem Knorpelschaden übertragbar und kann in die postoperative Nachbehandlung implementiert werden. Die 5 Domänen des Treibermodells sind nozizeptive Treiber (strukturelle Schäden und funktionelle Defizite) [1, 14], neurale Treiber (Sensibilisierungsprozesse) [15], Komorbiditäten (muskuloskelettal, internistisch, psychiatrisch) [16] kognitiv-emotionale Treiber (Kinesiophobie, Angst-Vermeidung, ungünstige Glaubensbekenntnisse) und Kontextfaktoren (therapeutisches Team, Familie) [17]. Mit Hilfe des Modells können beitragende Faktoren in der Rehabilitation erkannt und in die Behandlung integriert werden.