Übersichtsarbeiten - OUP 03/2024

Moderne prä- und postoperative Rehabilitation vor und nach Knorpeltherapie und Patientenprofiling
Ein Leitfaden für eine progressive Belastungssteigerung

Frank Diemer, Julia Benitz, Wolfgang Schoch

Zusammenfassung:
Eine moderne prä- und postoperative Rehabilitation orientiert sich am strukturellen Schaden, den funktionellen Einschränkungen und den Begleiterkrankungen. Darüber hinaus muss die kognitiv-emotionale Situation der Betroffenen und ihre Lebenssituation (Familie, Arbeit, Sport) beachtet werden. Um dem Anspruch einer patientenzentrierten Rehabilitation gerecht zu werden, sollten aus diesem Grund alle möglichen Maßnahmen anhand klinischer und funktioneller Kriterien an das Individuum angepasst werden. Eine Nachbehandlung „von der Stange“ ist daher weder realistisch noch zielführend. In der Praxis haben sich dennoch Phasenmodelle etabliert. Hierbei wird ein grober zeitlicher Rahmen geschaffen, der als Orientierung für die Rehabilitation nach knorpelregenerativen Eingriffen angesehen werden kann. Neben einer präoperativen Vorbereitung stehen dabei die progressive Belastungssteigerung und das Training der motorischen Hauptbeanspruchungsformen Beweglichkeit, Ausdauer, Koordination und Kraft im Vordergrund.

Schlüsselwörter:
ICF-Klassifikation, Treibermodell, Edukation, prä- und postoperative Phase,
zeit- und kriterienbasierte Therapie

Zitierweise:
Diemer F, Benitz J, Schoch W: Moderne prä- und postoperative Rehabilitation vor und nach Knorpeltherapie und Patientenprofiling. Ein Leitfaden für eine progressive Belastungssteigerung
OUP 2024; 13: 122–128
DOI 10.53180/oup.2024.0122-0128

Summary: Modern pre- and post-operative rehabilitation is geared towards structural damage, functional limitations and concomitant comorbidity. In addition, the cognitive-emotional situation of those affected and their life situation (family, work, sport) must be taken into account. In order to meet the requirement of patient-centered rehabilitation, all possible measures should therefore be adapted to the individual based on clinical and functional criteria. Off-the-shelf follow-up treatment is therefore neither realistic nor effective. Nevertheless, phase models have become established in practice. These create a rough time frame that can be seen as a guide for rehabilitation after cartilage regenerative surgery. In addition to preoperative preparation, the focus is on progressively increasing the load and training the main forms of motor basic skills – mobility, endurance, coordination and strength.

Keywords: ICF-classification, drivers of pain and disability model, education,
pre- and postoperative rehabilitation, time- and criterion-based rehabilitation

Citation: Diemer F, Benitz J, Schoch W: Modern pre- and postoperative rehabilitation before and after cartilage therapy and patient profiling. A guide to progressive load increase
OUP 2024; 13: 122–128. DOI 10.53180/oup.2024.0122-0128

F. Diemer: Digotor GbR, Brackenheim

J. Benitz, W. Schoch: PULZ im Rieselfeld, Freiburg

Einführung

Eine erfolgreiche Knorpeltherapie hängt von verschiedenen Faktoren ab. Neben der korrekten Indikation, der knorpelregenerativen Operation inkl. ggf. kausalen Begleittherapien und dem Profil der Patientin/des Patienten ist die physiotherapeutische Rehabilitation ein elementarer Bestandteil. Die prä- und postoperative Rehabilitation trägt dazu bei, zufriedenstellende Outcomes zu erreichen. Es fehlen qualitativ hochwertige Studien aus diesem Fachbereich. Die aktuellen Nachbehandlungsprotokolle beruhen auf Expertenmeinungen, angewandter Biomechanik und Grundlagenforschung [1–4].

Das primäre Ziel von Rehabilitation ist es, Alltags- und Freizeitaktivitäten zu ermöglichen und die damit verbundene Selbstbestimmung und Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten wiederzuerlangen (WHO). Die Rehabilitation wird maßgeblich von physiologischen, psychologischen, sozialen und umweltbedingten Aspekten beeinflusst. Beispielsweise zeigt sich ein Zusammenhang zwischen präoperativer mentaler Gesundheit und postoperativem Schmerz und Funktion [5]. Monokausale Erklärungsmodelle zeigen nur einen Teil der komplexen multikausalen Realität [6]. Das biopsychosoziale Modell „International Classification of Function, Disability and Health” klassifiziert Gesundheit in Körperfunktion und -struktur, Aktivitäten und Teilhabe, Umwelt- und persönliche Faktoren (ICF). Um Patientinnen und Patienten bestmöglich zu rehabilitieren, erfordert es eine individuelle Betrachtung der Patientin/des Patienten. Zum Beispiel sollten bestehende Ängste vor einer Operation im Gespräch adressiert werden [7, 8]. Die Sicherstellung der Behandlungsqualität erfolgt nicht nur durch die Anwendung von Assessments und Interventionen auf physiologischer Ebene, sondern auch hinsichtlich psychologischer, sozialer Einflüsse und Umwelteinflüsse. Postoperative Rehabilitationsempfehlungen können einen Rahmen schaffen, motivieren, Progressionen vorgeben, Lebensstilanpassungen adressieren und schmerztreibende Faktoren miteinbeziehen. Guideline-Vorgaben beinhalten Interventionen zur Bewegungserweiterung, Kräftigung, Wiederherstellen der Alltagsfunktion, bis hin zu sportlicher Aktivität [9, 10]. Mit Hilfe der Guidelines sollen die Ziele der Patientin/des Patienten schnellstmöglich erreicht werden. Die Vorgehensweise der Guidelines unterliegt häufig ausschließlich zeitlichen Vorgaben, was in Bezug auf die Phasen der Gewebeheilung nachvollziehbar ist [11]. Jede Patientin/jeder Patient bringt jedoch unterschiedliche Voraussetzungen wie Alter, Aktivitätsstatus, Lokalisation des Defekts und andere Voraussetzungen mit und ist daher unterschiedlich belastbar. Die Belastbarkeit des Gelenks unterscheidet sich auch an den unterschiedlichen klinischen und funktionellen Kriterien. Zeigt ein Gelenk Entzündungszeichen oder z.B. ein unsauberes Gangbild, muss eine Pause oder Regression der Belastung erfolgen. Exzessive Inflammation im Gelenk kann sich ungünstig auf die Nachbehandlung auswirken [12]. Reizfreiheit des Gelenks ermöglicht eine Progression und zudem eine Annäherung an das Rehabilitationsziel. Erfolge wirken sich positiv auf die Patientin/den Patienten im gesamten biopsychosozialen Ansatz aus. Zeit- und Kriterien basiertes Vorgehen schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich und ermöglichen eine sichere Rückkehr zum Arbeitsplatz oder in den Sport. Eine weitere Ursache für unterschiedliches Tempo in der Nachbehandlung, könnten sog. „Treiber“ sein, welche die Rehabilitation fundamental beeinflussen [13].

Ergänzend zum ICF-Modell wurde dieses Treibermodell implementiert. Die Ursprünge des Treibermodells liegen im Zusammenhang mit chronischen Rückenschmerzpatientinnen/-patienten. Es dient dazu, die Patientin/den Patienten in seiner gesamten Komplexität darzustellen. Das Paradigma ist neben chronischen Rückenschmerzen auch auf andere muskuloskelettale Beschwerdebilder und somit auch auf Patientinnen und Patienten mit einem Knorpelschaden übertragbar und kann in die postoperative Nachbehandlung implementiert werden. Die 5 Domänen des Treibermodells sind nozizeptive Treiber (strukturelle Schäden und funktionelle Defizite) [1, 14], neurale Treiber (Sensibilisierungsprozesse) [15], Komorbiditäten (muskuloskelettal, internistisch, psychiatrisch) [16] kognitiv-emotionale Treiber (Kinesiophobie, Angst-Vermeidung, ungünstige Glaubensbekenntnisse) und Kontextfaktoren (therapeutisches Team, Familie) [17]. Mit Hilfe des Modells können beitragende Faktoren in der Rehabilitation erkannt und in die Behandlung integriert werden.

Präoperative Phase

Die Zeit zwischen Diagnosestellung und chirurgischem Eingriff sollte genutzt werden, um die Patientinnen und Patienten optimal auf die langwierige, herausfordernde Rehabilitation vorzubereiten. Die Prähabilitation bietet uns die Möglichkeit, prognostische Faktoren für das Outcome nach knorpelregenerativen Eingriffen zu identifizieren und die Patientinnen und Patienten entsprechend zu informieren, zu beraten und anzuleiten [18].

Die Evaluation und präoperative Optimierung von Komorbiditäten findet auch in der Rehabilitation immer mehr Beachtung als ein wichtiges Element für das chirurgische Outcome [19]. Bisher haben wir uns dabei vor allem auf die physischen Faktoren, wie Kraftdefizite, unspezifische und chronische Schmerzen, wiederkehrende Gelenkergüsse und veränderte motorische Kontrolle fokussiert. Daraus resultierende körperliche Inaktivität führt zu einer Akkumulation von viszeralem Fettgewebe, was wiederum eine chronisch systemische Entzündung auf den Weg bringen kann. Diese hat negativen Einfluss u.a. auf die Muskelkraft und die Gelenkgesundheit und damit auf das postoperative Outcome [20].

Ein Patientenprofil ergibt sich jedoch nicht nur aus physischen Faktoren. Zusätzlich sind in den letzten Jahren vermehrt wissenschaftliche Erkenntnisse in den Fokus gerückt, die sich mit dem Einfluss psychischer Faktoren und deren Einfluss auf präoperative Funktion und auf das postoperative Outcome beschäftigen. Ängste, Angstvermeidungsverhalten, Katastrophisierung, Depressionen, Somatisierung, übersteigerte Erwartungen und die eigene Perspektive auf Gesundheit nehmen darauf Einfluss [21–29]. So sind bspw. psychosoziale Faktoren assoziiert mit einer höheren Konzentration an Entzündungsmarkern [30].

Um diese, auf die Heilung Einfluss nehmenden Faktoren, zu identifizieren und das postoperative Outcome zu messen, ist es erforderlich, entsprechende Messinstrumente wie Patient-Reported Outcome Measures (PROMs), systematisch einzusetzen. PROMs bieten Informationen über die Auswirkungen von Krankheit und Behandlung aus Patientenperspektive, die herkömmliche Verfahren wie körperliche Befunde, Funktionstests, Bildgebung oder Labortests ergänzen können [31]. Nur wenn PROMs in die Beurteilung von Versorgungsprozessen einfließen, ergibt sich ein umfassendes Bild der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität. Beispiele für PROMs, die eingesetzt werden können, um psychosoziale Faktoren abzubilden sind die Pain Catastrophizing Scale (PCS), die Tampa Scale of Kinesiophobia, der PROMIS 29 und der Short-Form-Health-Survey-12 (SF-12).

Inhalte der präoperativen
Edukation

Biomechanisch:

Darstellung von biomechanisch belastenden Aktivitäten und Aufzeigen entsprechender Modifikationsmöglichkeiten (z.B. Einfluss von Scherkräften durch dynamischen Valgus im Kniegelenk oder unphysiologische Hüftadduktion durch Schwäche der Hüftabduktoren)

Motorisch:

Vorbereitung von essenziellen Bewegungsmustern im Alltag (u.a. Gangschule und Gebrauch von Gehstützen)

Instruktion von rehabilitationsrelevanten Übungen, die schon in der Frühphase der Rehabilitation trainiert werden können

Kognitiv:

Umgang mit Schmerz beim Training

Zeitlicher Ablauf der postoperativen Heilungsphasen

Operationstechniken erklären

Wichtigkeit von körperlichem Training gegen die Inflammation betonen

Auf Komorbiditäten und ihren negativen Einfluss auf Heilung aufmerksam machen

Psychosozial:

Erklärung von wichtigen Zusammenhängen zwischen persistierenden Schmerzen und Glaubensbekenntnissen, Ängsten oder Kontextfaktoren

Auf Erwartungshaltung eingehen und eventuell realistisch einordnen

Auf schwierige Phasen in der Rehabilitation vorbereiten

Ermutigung

Sollte es der aktuelle Reizzustand des betroffenen Gelenkes zulassen, so werden weiter die Aktivierung und Kräftigung von Schlüsselmuskeln angeleitet, um das postoperative Defizit so gering wie möglich zu halten (Beweglichkeit und Kraft im Seitenvergleich, posturale Kontrolle (z.B. Gleichgewichtstests wie den mod. Star Excursion Balance Test), dynamische Kontrolle (z.B. Zwei- oder Einbeinsprungtests). Im Optimalfall stehen sog. „pre-injury-Werte“ zur Verfügung. Es könnten dann individuell ausgeprägte sportartspezifische Anpassungen in die Planung mit aufgenommen werden.

Postoperative Phase

Alle physio- und sporttherapeutischen Interventionen orientieren sich an der Art des Eingriffs (Knochenmarksstimulation mit und ohne Matrixaugmentation, autologe Chondrozytentransplantion, autologe osteochondrale Transplantation), der Größe und Lokalisation der Läsion, sowie der Qualität der Läsionsränder (contained, noncontained Läsionen). Darüber hinaus nimmt die langsame Entwicklung des Knorpelersatzgewebes eine Schlüsselrolle für die Planung der Rehabilitation ein.

Entwicklung des Knorpelregenerats

Das Knorpelregenerat entwickelt sich nach dem operativen Eingriff in bestimmten Phasen [11]:

Implantation – Akutphase (bis ca. 2. Woche)

Protektion – frühe Proliferation (2. bis ca. 6. Woche)

Übergang – späte Proliferation (6.–12. Woche)

Remodellierung (12.–26. Woche)

Maturation (> 26. Woche)

Die Phasen ergeben einen groben zeitlichen Rahmen, dem Ziele und Maßnahmen zugeordnet werden können. Um der Forderung einer individualisierten und patientenzentrierten Rehabilitation nachzukommen, werden die Interventionen durch klinische und funktionelle Kriterien angepasst. Die Primärstabilität verbleibt bis zur 12. Woche auf einem geringen Niveau. Alle therapeutischen Maßnahmen sollten sich daher an der Maßgabe von geringer zu hoher mechanischer Belastung orientieren, um die Gewebeentwicklung nicht zu gefährden (Abb. 1).

Kontrolle der
inflammatorischen Reaktion

Eine physiologische Entzündungsreaktion produziert einen optimalen Rahmen für die Einheilung des Transplantats und die weiteren anabolen Vorgänge. Im Gegensatz dazu hat eine exzessive intraartikuläre Entzündung einen bionegativen (katabolen) Einfluss auf die eingesetzten Knorpelzellen. Dies kann sich durch eine geringere Proliferation, eine reduzierte Matrixsynthese und auch eine Zellmutation in einen eher entzündlichen Phänotyp äußern [32]. Diese lokale Reaktion kann durch einen systemischen Entzündungsstoffwechsel potenziert werden [20]. Eine reine Fokussierung auf den betroffenen Gelenkkomplex wäre daher sehr kurzsichtig und wird der Komplexität der Akutphase nicht gerecht. Das Management einer postoperativen Entzündungsphase sollte daher auf der Basis einer holistischen Sichtweise erfolgen.

Das Ausmaß der Entzündungsreaktion kann von außen nicht beurteilt werden. Eine Beurteilung ist daher nur anhand klinischer Symptome möglich. Der Ausprägungsgrad der Entzündungszeichen Schmerz, Erwärmung und Schwellung (jeweils im Seitenvergleich), sowie die Beurteilung von Sensibilisierungsprozessen (Central Sensitization Inventory – CSI) erlaubt aber zumindest eine praxistaugliche Einschätzung des entzündlichen Prozesses sowie eine Unterscheidung in eine geringe bzw. starke Entzündung [33–35].

Zum Schutz des Knorpelregenerats wird in der Regel eine Teilbelastungsvorgabe über mindestens 6 Wochen empfohlen. Ausnahme stellt das Patellofemoralgelenk dar. Hier kann in Streckstellung eine progressivere Aufbelastung erfolgen [36–39].

Der intraartikuläre Entzündungsstoffwechsel kann insb. durch physikalische (Kühlung) und medikamentöse (entzündungshemmende) Maßnahmen beeinflusst werden. Letztere werden in ausgewählten Fällen auch durch eine Injektionstherapie ergänzt. Dabei kommen entweder PRP (Plättchenreiches Blutplasma aus Eigenblut) und/oder auch Hyaluronsäureinjektionen zum Einsatz. Beide Medikamente zeigen in der Grundlagenforschung einen antiinflammatorischen oder anabolen Effekt und werden in (Konsensus-)Arbeiten nach Eingriffen am Kniegelenk und evtl. am Hüft- und Sprunggelenk als optionale Maßnahmen empfohlen [36, 40–42].

Erhalt der Gelenkhomöostase

Der Turnover von Knorpelzellen ist im großen Maße vom biochemischen Milieu innerhalb der Matrix abhängig. Diese physiologische Mikroumgebung ist sowohl für den Erhalt des Phänotyps der Knorpelzellen als auch für die Produktion spezifischer Matrixmoleküle essenziell. Einem geringen Sauerstoffpartialdruck kann diesbezüglich eine Schlüsselrolle zugeschrieben werden [43]. Zyklische Gelenkbewegungen sind in der Lage, die intraartikuläre Nährstoffversorgung positiv zu beeinflussen und die Heilung von Knorpelgewebe zu unterstützen [44, 45]. In diversen Übersichtsarbeiten findet sich daher die Empfehlung für eine frühzeitige Mobilisation [46–48].

Die Frühmobilisation kann passiv (Continous Passive Motion, manualtherapeutisch) oder auch aktiv durch eine Automobilisation erfolgen. In beiden Fällen sind die genauen Trainingsparameter nicht ausreichend erforscht. Dementsprechend sind die Empfehlungen in den gesichteten Nachbehandlungsschemata auch nicht konsistent [37, 49, 50]. Für die CPM lassen sich in der Literatur dennoch Gemeinsamkeiten bezüglich möglicher Parameter finden (Tab. 1):

Dauer in Wochen: bis 6 Wochen postoperativ

Dauer/Tag: Empfehlungen variieren zwischen 1–8 h. Konsens Expertenempfehlung der AG Geweberegeneration DGOU > 3 h/Tag

ROM: von gering zu groß und angepasst an Lokalisation und Größe des Defekts

Aktivierung Schlüsselmuskeln/Atrophieprophylaxe

Die Gelenkfunktion ist abhängig von der Suffizienz einzelner Schlüsselstabilisatoren. In diesem Zusammenhang ist das Kniegelenk sicher am besten untersucht und dementsprechend ist die übergeordnete Bedeutung des Quadrizeps anerkannt. Gerade nach einer knorpelregenerativen Maßnahme ermitteln diverse Arbeiten massive Defizite vor und nach der Operation bis zu einem 7-Jahres-Follow-up [52–54]. Verbleibende Defizite sind darüber hinaus mit der subjektiven Patientenzufriedenheit und dem Ergebnis in PROMs korreliert [1].

Am Hüftgelenk ist das muskuläre Defizit insb. bei Patientinnen und Patienten mit einem femuroazetabulären Impingement bestimmt worden. Die Daten diverser Autoren zeigen ein variables Defizit in allen Ebenen der das Hüftgelenk betreffenden Muskulatur (sowohl prä- als auch postoperativ) [55–58]. Analog zum Kniegelenk bestehen Korrelationen zwischen der Suffizienz der Stabilisatoren und dem Schmerz, der Funktion, der Lebensqualität und dem Ergebnis in Scores (HAGOS, [56]).

Für den Fuß und die Sprunggelenke stehen am wenigsten Daten zur Verfügung. Sicher ist allerdings, dass das Alignment (Fußgewölbe und Rückfußstellung) einen großen Einfluss auf den Erfolg einer knorpelregenerativen Operation hat [59]. Dementsprechend können der kurzen Fußmuskulatur („foot core“) und dem M. tibialis posterior ein großer Stellenwert eingeräumt werden [60–63].

Die Defizite in genannten Muskeln liegen häufig nicht als einfache Kraftreduktion oder banale Schmerzhemmung vor. Vielmehr sind sie als zentrale Hemmungen mit manifesten neuroplastischen Veränderungen zu interpretieren. Einen großen Anteil an diesen zentralen Veränderungen scheint die traumatisch oder degenerativ bedingte Deafferentation durch Sensorenverlust und die daraus resultierende Neuorganisation im zentralen Nervensystem zu haben. Der Reaktivierungsprozess gestaltet sich dementsprechend komplex und langwierig [64, 65].

Evidenzbasierte Maßnahmen für die Aktivierung der Schlüsselmuskeln sind [66, 67]:

Mentales Training: Die mentale Vorstellung von aktiven Übungen, sowie deren visuelle Darstellung in Bildern oder Videos führt zu einer relevanten Aktivierung und Kraftsteigerung.

Cross-over Training: Ein intensives Training über die nicht betroffene Seite beeinflusst über zentrale Mechanismen die Aktivierung der Stabilisatoren auf der betroffenen Seite.

Isolierte Aktivierungsübungen: Defizitäre bzw. gehemmte Muskelgruppen sollten so isoliert wie möglich, mit hoher Aufmerksamkeit und großem Trainingsvolumen beübt werden. Bei einer suffizienten Aktivierung kann der Übertrag in funktionelle Übungen erfolgen.

Elektrostimulation (EMS): Die funktionelle EMS erhöht die Aktivierung gehemmter Muskeln, erhält die Kontraktilität der Muskelfasern und beugt einer postoperativen Atrophie vor.

Übergangsmethoden: Zu den Übergangsmethoden zählen das Blood Flow Restriction Training (Training unter reduzierter vaskulärer Versorgung) und niederintensive Kraftausdauermethoden. In beiden Fällen verbleibt die mechanische Belastung auf das Gelenk auf einem geringen Niveau bei guter Adaption (Hypertrophie und Kraftsteigerung). Neben den klassischen Anwendungsbereichen des Knie- und Oberen Sprunggelenkes werden auch an den Muskeln proximal der den Blutfluss reduzierenden Manschette positive Effekte beobachtet (z.B. Hüftgelenk).

Posturale Kontrolle/
ökonomisches Gangbild

Betroffene zeigen nach muskuloskelettalen Verletzungen an den Gelenken der unteren Extremität häufig kinematische und kinetische Veränderungen bei alltäglichen Leistungen auf [68–70]. Die meisten Untersuchungen beschäftigen sich dabei mit dem Gangbild. Die Ergebnisse zeigen ein variables Kompensationsmuster, das über Monate bis Jahre anhalten kann. Die Abweichungen sind mit einem schlechteren klinischen Ergebnis (Werte in Patient Reported Outcome Measures) und einer beschleunigten Degeneration des Gelenkknorpels assoziiert und haben daher eine hohe Relevanz [68, 71]. Identische Resultate können für die posturale Kontrolle (statisch und dynamisch) konstatiert werden. Einschränkungen stellen darüber hinaus einen potenten Risikofaktor für ein primäres oder sekundäres Trauma dar und sollten daher innerhalb der Rehabilitation adressiert werden [72, 73].

Evidenzbasierte Maßnahmen für die Verbesserung der posturalen Kontrolle und dem Gangbild sind [66, 67, 74]:

Multimodales Balancetraining: Ein Balancetraining sollte variabel (auf unterschiedlichen Unterstützungsflächen) und mit visuellen, vestibulären, kognitiven und motorischen Aufgaben abwechslungsreich gestaltet werden. Ein externes Feedback und implizite Lernprozesse können die Adaption positiv beeinflussen. Anpassungserscheinungen sollten durch funktionelle Testverfahren, wie dem Einbeinstandtest oder dem Star Excursion Balance-Test dargestellt werden.

Gangschule: Bei Bedarf unter Abnahme des Körpergewichts, um die mechanische Belastung zu reduzieren. Kinematische Veränderungen können durch Videoaufzeichnungen verifiziert werden.

Gehen ohne Gehstützen sollte nach der notwendigen Entlastungsphase zum Schutz des Regenerates und nach dem Erreichen folgender funktioneller und klinischer Meilensteine freigegeben werden:

Kein Hinkmechanismus (Trendelenburg, Duchenne)

Adäquate Kinematik (insb. Knie- und Hüftextension)

Suffiziente Aktivierung der Schlüsselmuskeln (Quadrizeps, Glutäen)

Keine Irritierbarkeit (Schmerz und Schwellung während bzw. nach der Belastung)

Kontrolle dynamischer
Bewegungsmuster/Ausbildung von Kraftqualitäten

Verletzungen im Sport sind häufig der ursächliche Hintergrund für fokale Knorpelschäden. Die Auslöser sind für das Sprung- und Kniegelenk durch dynamische Bewegungen (z.B. Abstoppen, Richtungswechsel, Landung nach einem Sprung) in Kombination mit kinematischen Abweichungen (z.B. größerer Plantarflexionswinkel bzw. Valgusbeinachse) gekennzeichnet. Erschwerend kommen individuell ausgeprägte neuromuskuläre Veränderungen (z.B. reduzierte oder spätere Aktivierung des M. peronaeus bzw. der ischiokruralen Muskeln) dazu. Bei Kniegelenksverletzungen dominieren in 85 % der Fälle sog. non-contact Verletzungen oder ein indirekter Gegnerkontakt. Traumen des Sprunggelenks sind häufig mit einem direkten Kontakt assoziiert [75, 76]. Vor diesem Hintergrund hat es sich etabliert, dass o.g. Bewegungsmuster innerhalb der Rehabilitation trainiert und automatisiert werden sollten [74, 77, 78].

Evidenzbasierte Maßnahmen für die Verbesserung der dynamischen Bewegungskontrolle und der Ausbildung von Kraftqualitäten sind [79, 80]:

Dynamisches Koordinationstraining: Potenziell gefährliche Bewegungsmuster sollten in den Mittelpunkt gestellt werden und mit steigender Anforderung (Dynamik, Antizipation) beübt werden. Der Lernprozess sollte individuell angepasst werden, sich an den Erkenntnissen des motorischen Lernens orientieren (externes Feedback, implizites oder differenzielles Lernen) und den späteren Kontext des Sportlers (Bodenbeschaffenheit, Taktik, Spielerposition, kognitive Belastung) integrieren. Anpassungserscheinungen sollten durch qualitative (Darstellung der Bewegungsqualität durch Video) oder quantitative Testverfahren (Sprungtests in unterschiedlichen Ebenen) dargestellt werden.

Progressives Krafttraining: Die Intensität der Krafttrainingsmethoden sollte im Sinne einer linearen Periodisierung gesteigert und über 6–9 Monate aufrecht erhalten werden und aus geführten und freien Übungen bestehen (Kraftausdauer – Hypertrophie – intramuskuläre Koordination – Schnell- und Reaktivkraft). Anpassungserscheinungen sollten durch apparative Messungen (Dynamometrie) oder pragmatische Tests über ein Wiederholungsmaximum erhoben werden.

Return to sport, Return to play, Return to competition

Die Rückkehr in den Sport stellt ein Kontinuum mit ansteigender Anforderung und Intensität dar. Die Freigabe sollte grundsätzlich zeit- und kriterienbasiert erfolgen. Allerdings stehen für einzelne Funktionen (z.B. Return to running) oder Stufen (z.B. Return to play) in diesem Prozess bis heute keine validen Kriterien zur Verfügung. Entscheidungen sollten daher innerhalb eines shared decision-Prozesses vom therapeutischen Team und den Athletinnen und Athleten auf einer individuellen Basis getroffen werden. Einigkeit besteht darüber, dass eine uneingeschränkte Partizipation nur bei einer weit fortgeschrittenen Heilung, einer guten neuromuskulären Funktion und ohne Ängste erfolgen soll [36, 81].

Interessenkonflikte:

Keine angegeben.

Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf:
www.online-oup.de.

Korrespondenzadresse

Frank Diemer

Im Rehling 6

87466 Oy-Mittelberg

frank_diemer@web.de

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4