Übersichtsarbeiten - OUP 05/2020
Multimodale Komplex- behandlung des Bewegungssystems im ANOA-KonzeptSpezifische Differentialdiagnostik und befundegerechte Therapie von chronischen Rückenschmerzen
Jan Emmerich
Zusammenfassung:
Dem Symptom Rückenschmerz liegen vielfältige pathogenetische Mechanismen zugrunde. Chronische Rückenschmerzen sind komplex bedingt, da sie ihre auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren auf mehreren definierten Befundebenen mit multiplen Wechselwirkungen haben. Die multimodale Komplexbehandlung des Bewegungssystems ist die adäquate Therapieform für jene Patienten mit chronischen Rückenschmerzen, bei denen die somatischen Befunde und insbesondere die Funktionspathologie des Bewegungssystems im Vordergrund stehen. Die Bildung von Subgruppen erlaubt die erfolgreiche Behandlung dieser Patienten in klinischen Pfaden nach dem ANOA-Konzept. Für die erfolgreiche interdisziplinäre Arbeit im Team sind hohe strukturelle und konzeptionelle Anforderungen zu erfüllen.
Schlüsselwörter:
Rückenschmerz, Funktionsstörungen, Funktionspathologie, Subgruppen, ANOA-Konzept
Zitierweise:
Emmerich J: Multimodale Komplexbehandlung des Bewegungssystems im ANOA-Konzept.
OUP 2020; 9: 309–317 DOI 10.3238/oup.2020.0309–0317
Summary: The symptom of back pain is caused by a variety of pathogenetic mechanisms. Chronic back pain is caused by a variety of interacting factors, at multiple levels with multiple interactions. The multimodal complex treatment of the musculoskeletal system is the appropriate form of therapy for patients with chronic back pain caused primarily by somatic dysfunctions/functional pathology of the locomotor system. The differentiation in subgroups allows the successful treatment of these patients in clinical pathways according to the ANOA concept. For the successful interdisciplinary work in the team, high structural and conceptual standards have to be met.
Keywords: low back pain, somatic dysfunction, functional pathology, subgroups, ANOA-concept
Citation: Emmerich J: Complex treatment of the locomotor system according to the ANOA concept.
OUP 2020; 9: 309–317 DOI 10.3238/oup.2020.0309–0317
Sana-Kliniken Sommerfeld, Klinik für Manuelle Medizin, Kremmen
Einführung
In der Nationalen Versorgungsleitlinie „Nicht-spezifischer Kreuzschmerz“ wird nach spezifischen und nicht-spezifischen Schmerzursachen klassifiziert. Die Formulierung „Bei nicht-spezifischen Kreuzschmerzen lassen sich keine eindeutigen Hinweise auf eine spezifische zu behandelnde Ursache erkennen“ [1] führt zu dem grundlegenden Missverständnis bezüglich der Optionen für eine gezielte Behandlung der weitaus überwiegenden Zahl der Patienten mit Rückenschmerzen. Sowohl Ärzte als auch Patienten schließen daraus, dass bei fehlender „spezifischer“ Schmerzursache eine gezielte und befundgerechte Therapie nicht möglich sei. Ein Resultat dieses Missverständnisses ist die häufige monomodal, überwiegend auf die Strukturbefunde ausgerichtete Therapie bei Schmerzen des Bewegungssystems. Die S2-Leitlinie Spezifischer Rückenschmerz hingegen benennt funktionspathologische Faktoren eindeutig als eigenständige spezifische Ursachen für Rückenschmerzen [7]. Der Begriff „spezifisch“ ist hier also auf weitere Faktoren angewendet worden, die diagnostizierbar und gezielt behandelbar sind.
Ebenso relevant für Rückenschmerzen sind psychische und soziale Faktoren, die definitionsgemäß ebenfalls nicht zu den spezifischen (somatischen) Ursachen von Rückenschmerzen zählen, obwohl auch sie diagnostizierbar und therapeutisch beeinflussbar sind (siehe Beitrag Niemier in diesem Heft).
Das ANOA-Konzept für die Behandlung von Schmerz- und Funktionserkrankungen des Bewegungssystems wurde entwickelt, um der häufigen monomodalen Fehlversorgung [19] von Patienten mit multifaktoriell bedingten Schmerzen des Bewegungssystems ein Modell entgegenzusetzen, bei dem die relevanten Einflussfaktoren systematisch identifiziert und gezielt behandelt werden. In der vollstationären Krankenhausbehandlung spiegelt sich das Konzept in den Prozedurenschlüsseln OPS 8–977 und 8–918 wider [6]. Die Indikation für eine multimodale Komplexbehandlung liegt vor bei akuten, exazerbierten, chronifizierungsgefährdeten und chronischen Schmerzen des Bewegungssystems, die multifaktoriell bedingt und damit komplex zu behandeln sind. Da die funktionellen Aspekte der Erkrankungen des Bewegungssystems bislang völlig unzureichend berücksichtigt werden, finden sich diese in der multimodalen Komplexbehandlung des Bewegungssystems mit herausgehobener Bedeutung wieder, während sie in weiteren Komplexbehandlungen (z.B. interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie oder rheumatologische Komplextherapie) ebenfalls enthalten sind.
Multifaktorielle Erkrankungen des Bewegungssystems –
Komplexität auf
mehreren Ebenen
Die Komplexität von chronischen Rückenschmerzen ist in der Beteiligung von Befunden auf mehreren Befundebenen begründet, die relevant für den Krankheitsverlauf sind und sich gegenseitig beeinflussen:
Strukturpathologie/Morphologie
Funktionspathologie des Bewegungssystems
Störungen der körperlichen Leistungsfähigkeit, z.B.
vegetative Regulation
psychische Faktoren
soziale Faktoren
Komorbidität
Akuter Schmerz ist bis auf Ausnahmen das Ergebnis nozizeptiver Reize und der sich anschließenden Schmerzverarbeitung im zentralen Nervensystem. Ein chronischer Schmerz hingegen ist nicht lediglich das Resultat einer fortbestehenden Nozizeption. Zentralnervöse Sensibilisierungsvorgänge und andauernde emotionale Effekte sind Zeichen der Veränderungen neuronaler Netze im Zusammenhang mit Schmerzen. Diese beginnen bereits bei einem Akutschmerzereignis, aber auch schon deutlich früher, solange bestehende Nozizeption noch keinen Schmerz auslöst [2].
Zusammenhang zwischen Funktions- und
Strukturpathologie
Als grundlegende Funktionsstörungen [15] verstehen wir Störungen unter anderem der Bewegungs- und Haltungskontrolle, erkennbar an Bewegungs- und Haltungsmustern. Dazu gehören auch Komplexbefunde wie die gekreuzten Syndrome nach Janda [10] und regionale manualmedizinische Syndrome [4], aber auch die konstitutionelle Hypermobilität ist als grundlegende Funktionsstörung zu werten (siehe auch Beitrag Liefring in diesem Heft) (Tab. 1).
Das Wesen der grundlegenden Funktionsstörungen besteht darin, dass Kompensationsleistungen des Bewegungssystems erforderlich sind, um dessen Funktionsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Beim Überschreiten der Kompensationsfähigkeiten kommt es sekundär zu symptomatischen (schmerzhaften) Funktionsstörungen (Tab. 1) [15].
Typische Bewegungsmusterstörungen bei chronischen Rückenschmerzen finden sich bei der Hüftextension, der Oberkörperaufrichte und der Beckenstabilisation im Einbeinstand [12, 13, 18].
Morphologische Veränderungen des Bewegungssystems entstehen zu großen Teilen als Resultat der über die Zeit kumulierenden Beanspruchung der Strukturen. Langandauernde Fehlbelastungen und Überlastungen gelenkiger, knöcherner und bindegewebiger Strukturen haben ihre Ursachen in grundlegenden Funktionsstörungen des Bewegungssystems (Abb. 1).