Übersichtsarbeiten - OUP 05/2020
Multimodale Komplex- behandlung des Bewegungssystems im ANOA-KonzeptSpezifische Differentialdiagnostik und befundegerechte Therapie von chronischen Rückenschmerzen
Hierbei geht es um das motorische Lernen, welches eine große Zahl an Wiederholungen über lange Zeit hinweg erfordert. Diese Übungen sollen vom Patienten in täglichen Übungseinheiten praktiziert werden, auch wenn keine Symptome vorliegen. Die Bewegungs- und Haltungskontrolle soll in den Alltagssituationen beeinflusst werden. Daher reichen tägliche Übungszeiten hierfür nicht aus. Der Patient muss einen Weg finden, Selbstwahrnehmung und übende Elemente in seinen Alltag zu integrieren, um im Resultat zu einer Etablierung neuer Muster zu gelangen.
Dauer der
Komplexbehandlung
Nicht selten wird bei der Begutachtung der stationären Behandlungsfälle die Meinung vertreten, der Patient hätte nach Erreichen einer Schmerzlinderung in den erträglichen Bereich aus der stationären Behandlung entlassen werden können. Das zeugt von fehlendem Sachverstand bezüglich der multimodalen Komplexbehandlung des Bewegungssystems, welche ihre Wirkung gerade nicht in erster Linie einer symptomatischen Behandlung, sondern der Beeinflussung der grundlegenden Störungen verdankt. Wenn diese Krankheitsanteile nicht verändert werden, wird der Patient keine anhaltenden Effekte erreichen können.
Im OPS 8–977 ist für die Behandlungsdauer eine Untergrenze von 12 Tagen vorgegeben [6]. Bei in der Regel vorliegenden komplexen Befundkonstellationen ist oft eine deutlich längere Behandlungsdauer erforderlich. Edukation und Training zur Beeinflussung von Verhaltensweisen, von Bewegungs- und Haltungsgewohnheiten stellen einen Lernprozess dar, der nicht innerhalb weniger Tage mit der ausreichenden Qualität erarbeitet werden kann. Hinzu kommt, dass physikalische Maßnahmen ihre Wirkungen über Adaptationsvorgänge der körpereigenen Regulationssysteme entfalten. Die Umstellung funktioniert ebenfalls schrittweise. Für die Behandlungsanteile, die der Symptomkontrolle dienen (s.o.), sind in der Regel bereits mehrere Tage erforderlich, um die Voraussetzungen für die weitergehenden Therapieinhalte zu schaffen.
Auch die Anpassung der Schmerzmedikation ist meist nicht innerhalb weniger Tage abzuschließen Eine Reduktion von Betäubungsmitteln ist nicht selten eine Voraussetzung für die Verbesserung kognitiver und koordinativer Fähigkeiten. Sie muss mit den anderen Behandlungsanteilen Hand in Hand gehen und bedarf einer umfassenden ärztlichen, pflegerischen und psychologischen Begleitung.
Strukturvoraussetzungen für die multimodale
Komplexbehandlung
des Bewegungssystems
An erster Stelle steht eine ausreichende Personalausstattung in allen im Abschnitt zum Thema Teamarbeit genannten Berufsgruppen mit den erforderlichen Qualifikationen und Erfahrungen. Neben den patientenbezogenen Terminen müssen auch Zeitkontingente für die interdisziplinären Besprechungen bei allen therapeutisch beteiligten Berufsgruppen enthalten sein. Die Berufsgruppen müssen im Team fest integriert sein. Lediglich sporadische oder formale Mitarbeit bzw. konsiliarische Tätigkeit wird den Erfordernissen nicht gerecht.
Wichtig ist ebenso die räumliche Situation. Jedem Arzt und jedem Psychologen muss ein eigener Raum zur Verfügung stehen. In den therapeutischen Bereichen sind Möglichkeiten für Einzel- und Gruppenkrankengymnastik, für Manuelle Therapie und Trainingstherapie sowie für hydro-, elektro- und thermotherapeutische Anwendungen erforderlich.
Die Durchführung der Komplextherapie stellt hohe organisatorische Ansprüche an die Klinik, da in einem hochgradig strukturierten System alle beteiligten Berufsgruppen Hand in Hand im Team arbeiten müssen. Ressourcen bei Personal, Räumlichkeiten und Technik müssen inhaltlich passend für den Patienten geplant werden. Zu planen sind auch Termine für Teambesprechungen, Visiten, Diagnostik, ärztliche und psychologische Einzelgespräche sowie Pausenzeiten für den Patienten. Weiterhin müssen physiotherapeutische Behandlungen inhaltlich und zeitlich zusammenpassen und in Serien erfolgen.
Im ANOA-Konzept durchgeführt, ist die Komplexbehandlung des Bewegungssystems wirksam und zeigt nicht nur einen unmittelbaren positiven Effekt, sondern nachhaltige und sogar zunehmende Wirkungen nach einem Jahr [19].
Zusammenfassung
Die multimodale Komplextherapie des Bewegungssystems im ANOA-Konzept stellt eine wirksame Methode in der Behandlung von Patienten mit chronischen Rückenschmerzen dar. Das Ziel der Komplexbehandlung geht über eine Schmerzlinderung weit hinaus. Vielmehr ist die Symptomkontrolle, die auf verschiedenen Wegen erreicht werden kann, als Bedingung für die Etablierung einer Selbstwirksamkeitsüberzeugung, Motivation und Umsetzung von Eigenaktivitäten durch den Patienten anzusehen, mit dem Ziel einer aktiven Beeinflussung von krankheitsrelevanten Faktoren im Alltag.
Die diagnostische Erfassung und Bewertung der krankheitsrelevanten Faktoren auf den relevanten Befundebenen stellt die Voraussetzung für eine individuell befundgerechte Behandlung dar. Kern des Konzeptes ist die echte Interdisziplinarität im multiprofessionellen Team.
Die Bedingungen für die Durchführung der multimodalen Komplextherapien des Bewegungssystems sind im OPS 8–977 und für die interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie im OPS 8–918 abgebildet. Die Einordnung der Patienten in Subgruppen ermöglicht eine befundgerechte Therapie. Für eine sinnvolle und nachhaltige Komplexbehandlung sind hohe strukturelle und organisatorische Voraussetzungen zu erfüllen.
Interesenkonflikte
Keine angegeben.
Das Literaturverzeichnis zu diesem Beitrag
finden Sie auf: www.online-oup.de
Korrespondenzadresse
Dr. med. Jan Emmerich
Sana-Kliniken Sommerfeld
Klinik für Manuelle Medizin
Waldhausstraße 44
16766 Kremmen
jan.emmerich@sana-hu.de