Übersichtsarbeiten - OUP 05/2020

Multimodale Komplex- behandlung des Bewegungssystems im ANOA-Konzept
Spezifische Differentialdiagnostik und befundegerechte Therapie von chronischen Rückenschmerzen

Die Befundlage bei Rückenschmerzen ist uneinheitlich. Neben dem Muster von Funktions- und Strukturpathologien sind auch das Schmerzempfinden, das Beeinträchtigungserleben und Bewältigungsstrategien sowie psychosoziale Belastungsfaktoren individuell unterschiedlich ausgeprägt und relevant. Allerdings gibt es auch Befundkonstellationen, welche bei den Patienten häufiger in ähnlicher Ausprägung gefunden werden und die Unterteilung in Subgruppen ermöglichen. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, strukturierte Behandlungsprogramme (Tab. 3) zu etablieren, um die grundsätzliche Ausrichtung der Komplexbehandlung festzulegen.

Die Zuordnung zu einer Subgruppe und einem klinischen Pfad ist nicht gleichbedeutend mit einer fixen Zuordnung zu Therapiegruppen. Diese werden in Abhängigkeit von organisatorischen Gegebenheiten durchaus von Patienten verschiedener klinischer Pfade in Abhängigkeit von der individuellen Befundlage genutzt. Die Behandlung in der Gruppe hat für die Patienten auch wichtige, therapeutisch nutzbare motivierende und kommunikative Aspekte.

Jeder klinische Pfad beinhaltet ein Basisprogramm, das an die Befunde individuell angepasst wird. Zusätzliche Verordnungen von Therapiemaßnahmen in Abhängigkeit von den erhobenen Befunden lösen den scheinbaren Widerspruch zwischen der Behandlung der Patienten in Pfaden und den individuellen Erfordernissen einer befundgerechten Behandlung auf.

Im ANOA-Konzept steht der klinische Pfad 1 für den Therapiekomplex mit Schwerpunktsetzung auf die somatischen Befunde des Bewegungssystems.

Stehen die neurophysiologischen und psychologischen Aspekte der Schmerzverarbeitung, Chronifizierungsprozesse und gestörte Regulation der Körperfunktionen (vegetative Dysregulation) im Vordergrund, kommt der klinische Pfad 2 zum Einsatz. Dieser ist stärker auf psychosomatische Zusammenhänge, Beeinflussung der vegetativen, Stress- und Schmerzregulation ausgerichtet.

Die Subgruppen und die klinischen Pfade können weiter differenziert werden (Tab 3).

Teamarbeit und interdisziplinäre Teambesprechung – Herzstück der multimodalen Komplextherapie

Die multimodale Komplexbehandlung des Bewegungssystems ist eine Teamleistung unter ärztlicher Leitung. Mitglieder des Behandlerteams sind immer:

Arzt

Psychologe

Pflege

Physiotherapeut/Krankengymnast/Masseur

Sporttherapeut/Sportlehrer/Trainer/Sportphysiotherapeut

Zusätzlich können andere Berufsgruppen (z.B. Ergotherapeut, Sozialdienst) das Team ergänzen.

„Diagnostik und Therapie erfolgen im multiprofessionellen Team. Therapeuten verschiedener Fachdisziplinen (interdisziplinär) arbeiten nicht nur ,gleichzeitig am selben Patienten‘, sondern eng untereinander vernetzt gemeinsam mit dem Patienten“ [18].

Im Grunde ist auch der Patient als Mitglied des Teams anzusehen, denn ohne seine Mitarbeit ist weder eine aussagekräftige Diagnostik noch eine nachhaltige Therapie umsetzbar.

Das Herzstück der multimodalen Komplexbehandlung ist die interdisziplinäre Teambesprechung. Sie dient 3 wichtigen Zielen:

  • 1. Erarbeitung eines gemeinsamen Patientenbildes im Team durch den interdisziplinären Austausch über die erhobenen Befunde und anamnestische und biographische Informationen, subjektive Eindrücke, beobachtete Verhaltensweisen und Interaktionen des Patienten mit den Mitarbeitern der verschiedenen Berufsgruppen.
  • 2. Besprechung des Krankheitsmodelles, das dem Patienten von den einzelnen Teammitgliedern konsistent vermittelt wird.
  • 3. Beurteilung des Therapieverlaufes, ggf. Korrekturen des Behandlungsprogrammes und Erarbeitung weiterer Empfehlungen.

Für eine echte Interdisziplinarität sind die Teambesprechungen aller beteiligten Berufsgruppen unerlässlich. Sie stellen die Plattform für den Informationsaustausch unter ärztlicher Leitung dar. Die interdisziplinären Teambesprechungen sind zeitintensiv und daher bei der Personalplanung zu berücksichtigen.

Eine besondere Rolle in der multimodalen Komplextherapie des Bewegungssystems spielen die Mitarbeiter der Pflege. Mit ihnen hat der Patient die häufigsten Kontakte. Die Pflege übernimmt daher einen Teil der Informationsvermittlung an den Patienten und liefert viele für das Team wichtige Informationen aus Gesprächen und Beobachtungen. Therapeutische Maßnahmen können an die Pflege delegiert werden. Durch die Qualifikation als „Algesiologische Fachassistenz“ bzw. „Pain nurse“ sind die Pflegenden in die Lage versetzt, wichtige Teile der Diagnostik, Therapie und Verlaufsbeurteilung beizutragen.

Ablauf der Komplexbehandlung – zielgerichtete Nutzung therapeutischer Möglichkeiten

Nach dem Abschluss der interdisziplinären Aufnahmediagnostik und Einordnung des Patienten in einen klinischen Pfad mit Individualisierung des Behandlungsprogrammes sind zunächst die Weichen für die Therapie gestellt.

In der multimodalen Komplextherapie des Bewegungssystems sind folgende Behandlungsinhalte enthalten:

Physikalische Therapie

Manuelle Therapie

Physiotherapie

Trainingstherapie

Entspannungsverfahren

Edukation

Die Komplexbehandlung läuft in mehreren Phasen ab, die allerdings zeitlich nicht strikt voneinander abgegrenzt werden. Nach der Diagnostikphase besteht das Ziel der ersten Phase der Behandlung darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen der Patient objektiv und subjektiv in der Lage ist, selbst aktiv zu werden. Die Behandlung symptomatischer Einzelbefunde unter Nutzung manualtherapeutischer, physikalischer, medikamentöser und invasiv-interventioneller Behandlungsmethoden ist auf die Symptomkontrolle ausgerichtet. Schmerzen und Einschränkungen der Beweglichkeit, die einer Verbesserung der Bewegungsabläufe entgegenstehen, werden reduziert. Die Verträglichkeit und Kompatibilität der verordneten Behandlungsinhalte werden evaluiert und ggf. angepasst.

In der zweiten Therapiephase werden aktive Behandlungsanteile intensiviert. Unter verbesserten Bedingungen stehen übende Verfahren und das Training im Vordergrund. Die Anleitung des Patienten zu individuell abgestimmten Eigenübungen und Trainingsinhalten stellt die Voraussetzung für die nachhaltigen Effekte der Komplexbehandlung des Bewegungssystems dar. Unter Begleitung und Anleitung des Behandlerteams erlangt der Patient die notwendigen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, die als Voraussetzung für eine Eigenmotivation erforderlich sind. In diesem Rahmen kommen die psychologischen Behandlungsanteile maßgeblich zum Tragen, die je nach Schwere psychosozialer Krankheitsaspekte das ganze Spektrum von der psychosomatischen Grundversorgung über Edukation und Entspannungsverfahren bis hin zu psychologischen Einzelkontakten beinhalten können (Tab. 4) (siehe auch Beitrag J. Schulz, Seite 295).

Eigenübungen

Das Erlernen eines Eigenübungsprogrammes ist für die Erhaltung und Erweiterung der Ergebnisse der Komplexbehandlung notwendig. Eigenübungen werden mit unterschiedlichen Zielen durchgeführt.

  • 1. Übungen zur Erhaltung und Verbesserung der in der Manuellen Therapie erarbeiteten Beweglichkeit, Unterstützung der Physiotherapie. Diese Übungen erfolgen therapiebegleitend und in Übungseinheiten regelmäßig.
  • 2. Möglichkeiten der Selbsthilfe im Falle einer wiederkehrenden Symptomatik. Es werden Übungen und Selbstbehandlungen vermittelt, die im Falle der Exazerbation von Beschwerden symptomatisch eingesetzt werden können (z.B. Triggerpunktbehandlungen, Selbstmobilisationen, physikalische Maßnahmen).
  • 3. Übungen, die der Beeinflussung der Haltungs- und Bewegungskontrolle dienen.
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