Übersichtsarbeiten - OUP 03/2019

Rekonstruktion der originären Beinachse und Gelenklinie in der Knietotalendoprothetik

Carsten O. Tibesku, Tarik Ait Si-Selmi, Michel Bonnin

Zusammenfassung:

Konventionelle Knieprothesen verfolgen i.d.R. die Ziele der mechanischen Achsausrichtung (180°) und verändern die Gelenklinie zu 90° (klassische Ausrichtung). Versuche, die native Achse und Gelenklinie mit konventionellen Prothesen zu rekonstruieren (kinematisches Alignment), stoßen aufgrund der nicht anatomischen Form konventioneller Prothesen schnell an Grenzen. Die Implantation einer mechanisch ausgerichteten Prothese erzeugt ligamentäre Imbalance, veränderten Patellalauf und Steifigkeit. Diese Nachteile werden adressiert durch technisch-operative Tricks wie Band-Release, zusätzliche Außenrotation der femoralen Komponente und z.B. kinematisches Alignment, welche alle eine „palliative“ Lösung für die nicht anatomische Form der Prothesen und die Veränderung des nativen Alignments darstellen. Moderne Technologien, wie die neu entwickelte patientenspezifische Origin-Prothese, und die verbesserte Kenntnis über die für die Funktion und Kinematik des Kniegelenks wichtigen morphologischen Parameter ermöglichen die Rekonstruktion des arthrotischen Gelenks mit der originären Beinachse und Gelenklinie unter Vermeidung von Prothesenüberständen und Kompromissen oder technisch-operativen Tricks, die für eine Standardprothese stets notwendig sind. Diese mit der Origin-Prothese umgesetzten Ziele führen zu guten Frühergebnissen. Mittel- bis langfristige Ergebnisse und randomisierte Studien müssen dies noch bestätigen.

Schlüsselwörter:
Gonarthrose, operative Therapie, Knie-TEP, Knietotalendoprothese, patientenspezifisch, Individualprothese

Zitierweise:

Tibesku CO, Ait Si-Selm T, Bonnin M: Rekonstruktion der originären Beinachse und Gelenklinie in der Knietotalendoprothetik. OUP 2019, 8: 152–159

DOI 10.3238/oup.2019.0152–0159

Summary: Conventional TKA usually uses mechanical alignment (180°) and changes the joint line to 90° (classical alignment with orthogonal cuts). Attempts to reconstruct the native alignment and joint line with conventional implants (kinematic alignment) quickly encounter limitations due to the non-anatomical shape of conventional prostheses. Implantation of mechanically aligned TKA leads to ligamentous imbalance, patella maltracking and stiffness. The disadvantages are adressed by technical-surgical tricks, such as ligament releases, additional external rotation and kinematic alignment, all of which are „palliative“ solutions for the non-anatomical shape of prostheses and the changed native alignment. Modern technologies, as the newly developed custom Origin TKA, and the improved knowledge about the morphological parameters important for function and kinematics of the knee joint allow for the reconstruction of the arthritic joint with its origin alignment and joint line, thereby avoiding overhang and compromises of standard prostheses. These aims, facilitated by the Origin TKA, lead to good early results that still need to be verified by mid- and long-term results and randomized studies.

Keywords: ostoarthritis of the knee, surgical therapy, TKA, total knee arthroplasty, total knee replacement, patient-specific, custom, individualized, knee arthroplasty

Citation: Tibesku CO, Ait Si-Selm T, Bonnin M: Reconstruction of the origin leg alignment and joint line obliquity in total knee replacement.
OUP 2019, 8: 152–159 DOI 10.3238/oup.2019.0152–0159

Carsten Tibesku: KniePraxis Prof. Dr. Tibesku, Straubing, Deutschland

Tarik Ait Si-Selmi, Michel Bonnin: Centre Orthopédiqe Santy, Jean Mermoz Private Hospital, Lyon, Frankreich

Mit dem bevorstehenden 50. Geburtstag der modernen Knieendoprothetik machen neue Technologien und neue industrielle Prozesse die Herstellung vollständig patientenangepasster Prothesen möglich. Während dies als technologischer Durchbruch angesehen werden kann, der zahlreiche Beschränkungen der konventionellen Knieprothetik adressiert, muss noch diskutiert werden, ob diese kostenintensivere Technologie auch lohnend für den Patienten ist.

Patientenspezifisch hergestellte Custom-made-Implantate werden bereits seit vielen Jahren genutzt. Während diese Technologie anfänglich für Patienten mit extremen anatomischen oder posttraumatischen Varianten verwendet wurde, wird sie zunehmend auch im primären Bereich eingesetzt. Bei der Implantation sog. konventioneller Implantate müssen stets operative Kompromisse geschlossen werden, z.B. bei der Wahl der ap- und ml-Dimension, der Veränderung der individuellen Gelenklinie auf 0°, der Rotation der femoralen Komponente usw. Neben den vorbeschriebenen, in den OP-Manualen bereits berücksichtigten Nachteilen konventioneller Implantate gibt es allerdings noch eine Fülle weiterer Unzulänglichkeiten, die eventuell für Unzufriedenheit des Patienten verantwortlich sein können, wie z.B. der veränderte Patellalauf durch die medialisierte Trochlea, Überstände von femoraler und tibialer Komponente, kompromittierte Rotationseinstellung der Tibia durch nicht anatomische Implantate, Erhöhung der medialen und Erniedrigung der lateralen Gelenklinie, Mid-Flexion-Instabilität durch nicht patientenadaptierte femorale Krümmungsradien, Notwendigkeit von Band-Releasen aufgrund nicht anatomischer Rekonstruktion usw. Den vielen theoretischen Vorteilen steht gegenüber, dass die Datenlage zu diesen Implantaten momentan noch nicht sehr ausgeprägt ist, wenngleich die wenigen Studien sehr gute klinische Ergebnisse aufweisen [2, 23].

Kurzgeschichte der
Knieprothetik

Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts probierten die Pioniere des Gelenkersatzes Operationen für arthrotische Kniegelenke, die als „resurfacing“ bezeichnet werden können, unter Verwendung von Weichgeweben oder Kobalt-Chrom-Interpositionsimplantaten [12]. Inspiriert vom Erfolg Smith-Petersens [22] mit Hüftgelenken aus Gussformen an der Hüfte, führten Campbell und Boyd die erste Alloarthroplastik des Kniegelenks durch [17]. Der Aufbruch der „modernen Knieprothetik“ in den frühen 1970er-Jahren war geprägt von Standardisierung, Präzision und Reproduzierbarkeit sowohl des Herstellungsprozesses als auch der Operationstechnik, verließ aber das Konzept der personalisierten Oberflächenerneuerung. Wegen der begrenzten Anzahl an verfügbaren Größen, während der ersten Dekade der total condylar knee arthroplasty existierte nur eine einzige Größe [16], war es sehr schwierig, eine optimale Passform zu finden. Während der 1980er- und 1990er-Jahre wurde zwar die Anzahl der verfügbaren Größen erhöht, aber unter der Annahme, alle Kniegelenke hätten dieselbe Form, waren alle Größen proportional zum ursprünglichen Design. Erst in den frühen 2000er-Jahren wurde die morphologische Variabilität anhand der sog. aspect-ratio untersucht [13], und die Hersteller entwickelten schmalere Versionen der femoralen Komponenten, welche als Gender-Knieprothesen bekannt wurden.

Die Grenzen der modernen Knieprothetik

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