Übersichtsarbeiten - OUP 04/2024
Schmerz, ein Symptom in unserer Kulturgeschichte
Marcela Lippert-Grüner, Stephan Grüner
Zusammenfassung:
Schmerz ist ein Phänomen, dessen Erkennung historisch unterschiedliche Sichtweisen auf den Menschen widerspiegelt. Die verschiedenen medizinischen Praktiken der Antike und des Mittelalters bei der Behandlung von Schmerzen bis hin zur Spätaufklärung sind ein eindrucksvolles Zeugnis der Zeit ihrer Entstehung. Wenn wir uns mit der Geschichte der Schmerzbehandlung befassen, müssen wir uns zumindest bis in die Steinzeit begeben. Hier sind die paläontologischen Funde von Beweisen für therapeutische Experimente in Form von Bohrlöchern im menschlichen Schädel zu finden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich dabei um eine Form der Behandlung von Kopfschmerzen handelte, denn eine vergleichbare Methode findet sich auch heute noch bei afrikanischen Ureinwohnern. Die Grundlage dieser Therapie war die Annahme, dass der „böse Geist des Schmerzes“ durch diese Öffnung entweichen könne und die Patientin/der Patient von den Schmerzen geheilt werden würde. Das Hauptziel der Behandlung von Krankheit und Schmerz war es, diese Geister aus dem Körper zu vertreiben. Auch in anderen Kulturen des Altertums, z.B. der ägyptischen Kultur, war das magisch-religiöse Verständnis von Schmerz vorhanden, z.B. wurde der Schmerz nach einer Verletzung im Kampf durch die Götter und Geister der Toten verursacht. Im alten Ägypten drangen nach deren Vorstellungen böse Geister durch die Nasen- oder Ohrenöffnungen in den Körper ein. Daran schlossen sich direkt Heilverfahren an, so z.B. in Beschreibungen der Behandlungen durch Erbrechen, Niesen oder Urinieren, um die Geister dazu zu bringen, den Körper zu verlassen. Obwohl der Schmerz also gewöhnlich als göttliche Strafe angesehen wurde, wurde er jedoch bereits frühzeitig behandelt. Schmerztherapeutische Bemühungen durch die Verwendung des Opiums können bis zu den Assyrern, Sumerern und alten Ägyptern zurückverfolgt werden. In den folgenden Jahrhunderten des Mittelalters verschwanden viele der Erkenntnisse aus der Antike. Der Schmerz wurde weitgehend als Strafe Gottes für die Sünden oder als Prüfung durch Gott angesehen. Dementsprechend suchte man Heilung und Linderung vor allem bei Gott und den Heiligen. Erst die Möglichkeit der Entwicklung von Kenntnissen über die anatomischen und physiologischen Funktionen des Körpers und insbesondere die Identifizierung des Gehirns als Sitz aller Wahrnehmung (auch der Schmerzwahrnehmung) befreit die Schmerztherapie von magischen historischen Elementen. Hier beginnt die rationale Phase der Medizin, die sich auf die Erweiterung der Entwicklung der therapeutischen Möglichkeiten des Schmerzes konzentriert.
Schlüsselwörter:
Schmerz, Geschichte der Medizin, kultureller Hintergrund, Therapiestrategien
Zitierweise:
Lippert-Grüner M, Grüner S: Schmerz, ein Symptom in unserer Kulturgeschichte
OUP 2024; 13: 155–159
DOI 10.53180/oup.2024.0155-0159
Summary: Pain is a phenomenon whose recognition reflects historically different views of the human being. The various medical practices in the treatment of pain from antiquity and the Middle Ages to the late Enlightenment are an impressive testimony to the time of their emergence. When we look at the history of pain treatment, we have to go back at least as far as the Stone Age. This is where the palaeontological evidence of therapeutic experiments in the form of boreholes in the human skull can be found. It is very likely that this was a form of treatment for headaches, as a similar method can still be found today among African natives. The basis of this therapy was the assumption that the „evil spirit of pain“ could escape through this opening and the patient would be cured of the pain. The main aim of treating illness and pain was to expel these spirits from the body. The magical-religious understanding of pain was also present in other ancient cultures, e.g. Egyptian culture, for example the pain after an injury in battle was caused by the gods and spirits of the dead. In ancient Egypt, they believed that evil spirits entered the body through the nostrils or ears. This was directly followed by healing methods, for example in descriptions of treatments using vomiting, sneezing or urination to make the spirits leave the body. So although pain was usually seen as divine punishment, it was treated early on. Pain therapeutic endeavours through the use of opium can be traced back to the Assyrians, Sumerians and ancient Egyptians. In the following centuries of the Middle Ages, many of the findings from antiquity disappeared. Pain was largely seen as God‘s punishment for sins or as a test from God. Accordingly, healing and relief were sought primarily from God and the saints. Only the possibility of developing knowledge about the anatomical and physiological functions of the body and in particular the identification of the brain as the seat of all perception (including the perception of pain) freed pain therapy from magical historical elements. This is where the rational phase of medicine begins, focussing on expanding the development of the therapeutic possibilities of pain.
Keywords: Pain, history of medicine, cultural background, therapeutic strategies
Citation: Lippert-Grüner M, Grüner S: Pain, a symptome in our cultural history
OUP 2024; 13: 155–159. DOI 10.53180/oup.2024.0155-0159
M. Lippert-Grüner: 3. Medizinische Fakultät Karls-Universität Prag, CZ
S. Grüner: Praxis Dr. Grüner, Köln