Übersichtsarbeiten - OUP 04/2024
Schmerz, ein Symptom in unserer Kulturgeschichte
Schmerz ist ein Symptom, dass mit einer Vielzahl von Krankheitsbildern verbunden ist, seine Beschreibungen sind so alt wie die Menschheit selbst. Er ist ein Warnsignal und als solches sehr nützlich, wie die meisten Reaktionen in unserem Körper. Dennoch wird er oft als ein unnötiges und unerwünschtes Symptom behandelt. Seine Definition lautet, dass es sich um ein unangenehmes sensorisches und emotionales Erlebnis handelt, das mit einem akuten oder potenziellen Gewebeschaden verbunden ist – Schmerz ist immer subjektiv.
In einigen Bereichen der Medizin, wie z.B. der Stomatologie, käme niemand auf die Idee, Zahnschmerzen zu unterdrücken, ohne vorher zu klären, was die Ursache ist. Im Gegensatz dazu werden beispielsweise Kopfschmerzen in der Regel mit Analgetika unterdrückt, ohne die Ursache zu erforschen. Hier wird der Schmerz als in gewisser Weise normal angesehen, in dem Sinne, dass jeder manchmal Kopfschmerzen hat, „es passiert einfach“. Schmerzen sind der häufigste Grund, eine Ärztin oder einen Arzt aufzusuchen, sie sind also auch ein medizinisch-wirtschaftliches Problem. Komplizierend kommt hinzu, dass Schmerzen nicht genau quantifiziert werden können, und jeder Mensch Schmerzen anders empfindet. Das Gefühl, wie stark der Schmerz ist, wird in erster Linie durch die Persönlichkeit des Einzelnen, seine Gefühle, Erwartungen und persönliche Erfahrungen sowie die eigene Lebenssituation bestimmt. Schmerz ist aber auch ein wichtiges Warnsignal unseres Körpers, sodass er in gewisser Weise unser Beschützer ist, aber einer, den wir gar nicht wollen.
Geschichte der Schmerzbehandlung
Frühe Anfänge und Altertum
Wenn wir uns mit der Geschichte der Schmerzbehandlung befassen, müssen wir uns zumindest bis in die Steinzeit begeben. Hier sind die paläontologischen Funde von Beweisen für therapeutische Experimente in Form von Bohrlöchern im menschlichen Schädel zu finden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich dabei um eine Form der Behandlung von Kopfschmerzen handelte, denn eine vergleichbare Methode findet sich auch heute noch bei afrikanischen Ureinwohnern. Die Grundlage dieser Therapie war die Annahme, dass der „böse Geist des Schmerzes“ durch diese Öffnung entweichen könne und die Patientin/der Patient von den Schmerzen geheilt werden würde (Abb. 1). Das Hauptziel der Behandlung von Krankheit und Schmerz war es, diese Geister aus dem Körper zu vertreiben. Diese Aufgabe wurde zunächst häufig von Schamanen und „Zauberern“ übernommen. Sie verwenden für die Schmerzbehandlung Amulette, Talismane, Figuren, Zaubertänze und andere Rituale [1]. Die Eintrittslöcher in den Körper gewähren oft Einblicke in historische Heilungsansätze. Zur Therapie gehört z.B. das Einritzen enger Wunden in die Haut als ein Weg zur Flucht für den Schmerz. Bei der Schmerzbehandlung war es üblich, Beschwörungsformeln zu nutzen, die im Rahmen archäologischer Ausgrabungen gefunden wurden. Wir gehen davon aus, dass die ersten Algesiologen den Status von Priester-Heilern hatten [1].
Auch in anderen Kulturen des Altertums, z.B. in der ägyptischen Kultur, war das magisch-religiös Verständnis von Schmerz vorhanden, z.B. wurde der Schmerz nach einer Verletzung im Kampf durch die Götter und Geister der Toten verursacht [2]. Im alten Ägypten drangen nach deren Vorstellungen böse Geister durch die Nasen- oder Ohrenöffnungen in den Körper ein. Daran schlossen sich direkt Heilverfahren an, so z.B. in Beschreibungen der Behandlungen durch Erbrechen, Niesen oder Urinieren, um die Geister dazu zu bringen, den Körper zu verlassen [3]. Schmerzen im Bereich der Haut wurden bspw. behandelt, indem ein in Öl gebratener Frosch auf die betroffene Stelle gelegt wurde, wo die Verbrennung dann Blasen verursachte [4].
In Mesopotamien wurde die Erklärung von Krankheiten mit der sog. Dämonologie in Verbindung gebracht. Die Ursache von Schmerzen und Krankheiten war der Zauber böser Dämonen, wandernder Geister der Toten oder der Zorn der Götter [5]. Böse Dämonen wurden als Ungeheuer und schreckliche Bestien mit Flügeln, Klauen und Tierköpfen dargestellt. Die Kranken galten als unrein und ansteckend. Vor jeder Behandlung wurde daher versucht, den Körper, das Bett des Kranken und die Wohnung rituell zu reinigen. Hunderte von Beschwörungstexten sind auf Tafeln erhalten geblieben und bilden eine ganze Reihe von Listen und Handbüchern [6]. Neben den Ritualen wurden auch echte Arzneimittel verwendet, sowohl zur äußeren als auch zur inneren Anwendung. Sie basierten auf verschiedenen Kräutern, Mineralien und tierischen Exkrementen, die in Getränken mit Wein, Milch, Bier, Öl und Wasser vermischt wurden. Medizinische Substanzen wurden nicht nur Getränken und Speisen zugesetzt, sondern die Babylonier waren offenbar auch in der Lage, Pillen herzustellen [5].
Schmerzen, insbesondere Kopfschmerzen, plagten auch die Römer, deren Schmerzmittel waren aber eher ekelerregend. Gegen Schmerzen in Form von Kopfschmerzen empfahl der Gelehrte Plinius im ersten Jahrhundert nach Christus „die Köpfe von Schnecken abzuschneiden, die noch keine Schale haben und nicht voll entwickelt sind“ und diese zu verzehren [7].
Der Beginn der Zivilisation in China geht auf das 3.–2. Jahrtausend v. Chr. zurück. Es war eine Zeit, um die sich viele Mythen und Legenden ranken. Zwei Kaiser, die mit der Geschichte des Schmerzes in Verbindung gebracht werden, sind aus dieser Zeit bekannt: Kaiser Sheng Nung, der ein umfangreiches Herbarium von Heilpflanzen anlegte, von denen viele zur Schmerzlinderung eingesetzt wurden, und Kaiser Huang Ti, bekannt als der „Gelbe Kaiser“, während dessen Herrschaft die Zivilisation im wahrsten Sinne des Wortes begann. Er ist auch der Autor des Buches der inneren Organe, des „Nej Jing“, das als das erste und grundlegende Standardwerk der chinesischen Medizin gilt. Es handelt sich um ein 17-bändiges Buch, das 11.000 Rezepte enthält und die Arbeit und den Zweck der Medizin definiert. Es fasst die ältesten medizinischen Texte zusammen und stellt diagnostische und therapeutische Methoden in Form von Fragen und Antworten vor [7].