Übersichtsarbeiten - OUP 04/2024
Schmerz, ein Symptom in unserer Kulturgeschichte
Marcela Lippert-Grüner, Stephan Grüner
Zusammenfassung:
Schmerz ist ein Phänomen, dessen Erkennung historisch unterschiedliche Sichtweisen auf den Menschen widerspiegelt. Die verschiedenen medizinischen Praktiken der Antike und des Mittelalters bei der Behandlung von Schmerzen bis hin zur Spätaufklärung sind ein eindrucksvolles Zeugnis der Zeit ihrer Entstehung. Wenn wir uns mit der Geschichte der Schmerzbehandlung befassen, müssen wir uns zumindest bis in die Steinzeit begeben. Hier sind die paläontologischen Funde von Beweisen für therapeutische Experimente in Form von Bohrlöchern im menschlichen Schädel zu finden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich dabei um eine Form der Behandlung von Kopfschmerzen handelte, denn eine vergleichbare Methode findet sich auch heute noch bei afrikanischen Ureinwohnern. Die Grundlage dieser Therapie war die Annahme, dass der „böse Geist des Schmerzes“ durch diese Öffnung entweichen könne und die Patientin/der Patient von den Schmerzen geheilt werden würde. Das Hauptziel der Behandlung von Krankheit und Schmerz war es, diese Geister aus dem Körper zu vertreiben. Auch in anderen Kulturen des Altertums, z.B. der ägyptischen Kultur, war das magisch-religiöse Verständnis von Schmerz vorhanden, z.B. wurde der Schmerz nach einer Verletzung im Kampf durch die Götter und Geister der Toten verursacht. Im alten Ägypten drangen nach deren Vorstellungen böse Geister durch die Nasen- oder Ohrenöffnungen in den Körper ein. Daran schlossen sich direkt Heilverfahren an, so z.B. in Beschreibungen der Behandlungen durch Erbrechen, Niesen oder Urinieren, um die Geister dazu zu bringen, den Körper zu verlassen. Obwohl der Schmerz also gewöhnlich als göttliche Strafe angesehen wurde, wurde er jedoch bereits frühzeitig behandelt. Schmerztherapeutische Bemühungen durch die Verwendung des Opiums können bis zu den Assyrern, Sumerern und alten Ägyptern zurückverfolgt werden. In den folgenden Jahrhunderten des Mittelalters verschwanden viele der Erkenntnisse aus der Antike. Der Schmerz wurde weitgehend als Strafe Gottes für die Sünden oder als Prüfung durch Gott angesehen. Dementsprechend suchte man Heilung und Linderung vor allem bei Gott und den Heiligen. Erst die Möglichkeit der Entwicklung von Kenntnissen über die anatomischen und physiologischen Funktionen des Körpers und insbesondere die Identifizierung des Gehirns als Sitz aller Wahrnehmung (auch der Schmerzwahrnehmung) befreit die Schmerztherapie von magischen historischen Elementen. Hier beginnt die rationale Phase der Medizin, die sich auf die Erweiterung der Entwicklung der therapeutischen Möglichkeiten des Schmerzes konzentriert.
Schlüsselwörter:
Schmerz, Geschichte der Medizin, kultureller Hintergrund, Therapiestrategien
Zitierweise:
Lippert-Grüner M, Grüner S: Schmerz, ein Symptom in unserer Kulturgeschichte
OUP 2024; 13: 155–159
DOI 10.53180/oup.2024.0155-0159
Summary: Pain is a phenomenon whose recognition reflects historically different views of the human being. The various medical practices in the treatment of pain from antiquity and the Middle Ages to the late Enlightenment are an impressive testimony to the time of their emergence. When we look at the history of pain treatment, we have to go back at least as far as the Stone Age. This is where the palaeontological evidence of therapeutic experiments in the form of boreholes in the human skull can be found. It is very likely that this was a form of treatment for headaches, as a similar method can still be found today among African natives. The basis of this therapy was the assumption that the „evil spirit of pain“ could escape through this opening and the patient would be cured of the pain. The main aim of treating illness and pain was to expel these spirits from the body. The magical-religious understanding of pain was also present in other ancient cultures, e.g. Egyptian culture, for example the pain after an injury in battle was caused by the gods and spirits of the dead. In ancient Egypt, they believed that evil spirits entered the body through the nostrils or ears. This was directly followed by healing methods, for example in descriptions of treatments using vomiting, sneezing or urination to make the spirits leave the body. So although pain was usually seen as divine punishment, it was treated early on. Pain therapeutic endeavours through the use of opium can be traced back to the Assyrians, Sumerians and ancient Egyptians. In the following centuries of the Middle Ages, many of the findings from antiquity disappeared. Pain was largely seen as God‘s punishment for sins or as a test from God. Accordingly, healing and relief were sought primarily from God and the saints. Only the possibility of developing knowledge about the anatomical and physiological functions of the body and in particular the identification of the brain as the seat of all perception (including the perception of pain) freed pain therapy from magical historical elements. This is where the rational phase of medicine begins, focussing on expanding the development of the therapeutic possibilities of pain.
Keywords: Pain, history of medicine, cultural background, therapeutic strategies
Citation: Lippert-Grüner M, Grüner S: Pain, a symptome in our cultural history
OUP 2024; 13: 155–159. DOI 10.53180/oup.2024.0155-0159
M. Lippert-Grüner: 3. Medizinische Fakultät Karls-Universität Prag, CZ
S. Grüner: Praxis Dr. Grüner, Köln
Einleitung
Schmerz ist ein Symptom, dass mit einer Vielzahl von Krankheitsbildern verbunden ist, seine Beschreibungen sind so alt wie die Menschheit selbst. Er ist ein Warnsignal und als solches sehr nützlich, wie die meisten Reaktionen in unserem Körper. Dennoch wird er oft als ein unnötiges und unerwünschtes Symptom behandelt. Seine Definition lautet, dass es sich um ein unangenehmes sensorisches und emotionales Erlebnis handelt, das mit einem akuten oder potenziellen Gewebeschaden verbunden ist – Schmerz ist immer subjektiv.
In einigen Bereichen der Medizin, wie z.B. der Stomatologie, käme niemand auf die Idee, Zahnschmerzen zu unterdrücken, ohne vorher zu klären, was die Ursache ist. Im Gegensatz dazu werden beispielsweise Kopfschmerzen in der Regel mit Analgetika unterdrückt, ohne die Ursache zu erforschen. Hier wird der Schmerz als in gewisser Weise normal angesehen, in dem Sinne, dass jeder manchmal Kopfschmerzen hat, „es passiert einfach“. Schmerzen sind der häufigste Grund, eine Ärztin oder einen Arzt aufzusuchen, sie sind also auch ein medizinisch-wirtschaftliches Problem. Komplizierend kommt hinzu, dass Schmerzen nicht genau quantifiziert werden können, und jeder Mensch Schmerzen anders empfindet. Das Gefühl, wie stark der Schmerz ist, wird in erster Linie durch die Persönlichkeit des Einzelnen, seine Gefühle, Erwartungen und persönliche Erfahrungen sowie die eigene Lebenssituation bestimmt. Schmerz ist aber auch ein wichtiges Warnsignal unseres Körpers, sodass er in gewisser Weise unser Beschützer ist, aber einer, den wir gar nicht wollen.
Geschichte der Schmerzbehandlung
Frühe Anfänge und Altertum
Wenn wir uns mit der Geschichte der Schmerzbehandlung befassen, müssen wir uns zumindest bis in die Steinzeit begeben. Hier sind die paläontologischen Funde von Beweisen für therapeutische Experimente in Form von Bohrlöchern im menschlichen Schädel zu finden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich dabei um eine Form der Behandlung von Kopfschmerzen handelte, denn eine vergleichbare Methode findet sich auch heute noch bei afrikanischen Ureinwohnern. Die Grundlage dieser Therapie war die Annahme, dass der „böse Geist des Schmerzes“ durch diese Öffnung entweichen könne und die Patientin/der Patient von den Schmerzen geheilt werden würde (Abb. 1). Das Hauptziel der Behandlung von Krankheit und Schmerz war es, diese Geister aus dem Körper zu vertreiben. Diese Aufgabe wurde zunächst häufig von Schamanen und „Zauberern“ übernommen. Sie verwenden für die Schmerzbehandlung Amulette, Talismane, Figuren, Zaubertänze und andere Rituale [1]. Die Eintrittslöcher in den Körper gewähren oft Einblicke in historische Heilungsansätze. Zur Therapie gehört z.B. das Einritzen enger Wunden in die Haut als ein Weg zur Flucht für den Schmerz. Bei der Schmerzbehandlung war es üblich, Beschwörungsformeln zu nutzen, die im Rahmen archäologischer Ausgrabungen gefunden wurden. Wir gehen davon aus, dass die ersten Algesiologen den Status von Priester-Heilern hatten [1].
Auch in anderen Kulturen des Altertums, z.B. in der ägyptischen Kultur, war das magisch-religiös Verständnis von Schmerz vorhanden, z.B. wurde der Schmerz nach einer Verletzung im Kampf durch die Götter und Geister der Toten verursacht [2]. Im alten Ägypten drangen nach deren Vorstellungen böse Geister durch die Nasen- oder Ohrenöffnungen in den Körper ein. Daran schlossen sich direkt Heilverfahren an, so z.B. in Beschreibungen der Behandlungen durch Erbrechen, Niesen oder Urinieren, um die Geister dazu zu bringen, den Körper zu verlassen [3]. Schmerzen im Bereich der Haut wurden bspw. behandelt, indem ein in Öl gebratener Frosch auf die betroffene Stelle gelegt wurde, wo die Verbrennung dann Blasen verursachte [4].
In Mesopotamien wurde die Erklärung von Krankheiten mit der sog. Dämonologie in Verbindung gebracht. Die Ursache von Schmerzen und Krankheiten war der Zauber böser Dämonen, wandernder Geister der Toten oder der Zorn der Götter [5]. Böse Dämonen wurden als Ungeheuer und schreckliche Bestien mit Flügeln, Klauen und Tierköpfen dargestellt. Die Kranken galten als unrein und ansteckend. Vor jeder Behandlung wurde daher versucht, den Körper, das Bett des Kranken und die Wohnung rituell zu reinigen. Hunderte von Beschwörungstexten sind auf Tafeln erhalten geblieben und bilden eine ganze Reihe von Listen und Handbüchern [6]. Neben den Ritualen wurden auch echte Arzneimittel verwendet, sowohl zur äußeren als auch zur inneren Anwendung. Sie basierten auf verschiedenen Kräutern, Mineralien und tierischen Exkrementen, die in Getränken mit Wein, Milch, Bier, Öl und Wasser vermischt wurden. Medizinische Substanzen wurden nicht nur Getränken und Speisen zugesetzt, sondern die Babylonier waren offenbar auch in der Lage, Pillen herzustellen [5].
Schmerzen, insbesondere Kopfschmerzen, plagten auch die Römer, deren Schmerzmittel waren aber eher ekelerregend. Gegen Schmerzen in Form von Kopfschmerzen empfahl der Gelehrte Plinius im ersten Jahrhundert nach Christus „die Köpfe von Schnecken abzuschneiden, die noch keine Schale haben und nicht voll entwickelt sind“ und diese zu verzehren [7].
Der Beginn der Zivilisation in China geht auf das 3.–2. Jahrtausend v. Chr. zurück. Es war eine Zeit, um die sich viele Mythen und Legenden ranken. Zwei Kaiser, die mit der Geschichte des Schmerzes in Verbindung gebracht werden, sind aus dieser Zeit bekannt: Kaiser Sheng Nung, der ein umfangreiches Herbarium von Heilpflanzen anlegte, von denen viele zur Schmerzlinderung eingesetzt wurden, und Kaiser Huang Ti, bekannt als der „Gelbe Kaiser“, während dessen Herrschaft die Zivilisation im wahrsten Sinne des Wortes begann. Er ist auch der Autor des Buches der inneren Organe, des „Nej Jing“, das als das erste und grundlegende Standardwerk der chinesischen Medizin gilt. Es handelt sich um ein 17-bändiges Buch, das 11.000 Rezepte enthält und die Arbeit und den Zweck der Medizin definiert. Es fasst die ältesten medizinischen Texte zusammen und stellt diagnostische und therapeutische Methoden in Form von Fragen und Antworten vor [7].
In Indien gab es die Vorstellung von bösen Dämonen, die von zornigen Göttern gesandt wurden, als Verursacher verschiedener Krankheiten und Schmerzen. Der eigentlichen Behandlung gingen daher immer Fürbittgebete voraus, um die bösen Geister und die „Besessenheit des Körpers“ zu vertreiben. Im Ayurveda werden 4 Arten von Ärzten genannt – Ärzte für die Wundversorgung, Ärzte für innere Krankheiten, Ärzte gegen Gifte und Beschwörer der bösen Geister [5]. Die buddhistischen Lehren glaubten an die Allgegenwärtigkeit und Universalität des Schmerzes im menschlichen Leben [8].
Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass aus dem überlieferten Wissen der frühen Hochkulturen, wie die im alten Ägypten, Griechenland, Indien und den von jüdischen Völkern bewohnten Gebieten, dass das Vorhandensein von Krankheit und Schmerz als Werk einer höheren Macht angesehen wurde, die den Menschen für Übertretungen bestraft, für die Verletzung von „heiligen Regeln”.
Antike Philosophen spekulierten oft aber auch in eine andere Richtung: Nach Demokrit von Abdera (Hälfte des 5. Jh. v. Chr.) muss der Schmerz das Ergebnis einer Störung der harmonischen Beziehungen zwischen den Atomen des Körpers sein.
Obwohl der Schmerz also gewöhnlich als göttliche Strafe angesehen wurde, wurde er jedoch bereits frühzeitig behandelt. Schmerztherapeutische Bemühungen durch die Verwendung des Opiums können bis zu den Assyrern, Sumerern und alten Ägyptern zurückverfolgt werden [4, 8]. Opium gilt als eines der ersten Schmerzmittel – eine gummiartige Masse aus getrocknetem Saft von unreifem Mohn, insbesondere der weißen Variante des Mohns (Papaver somniferum album). Es unterschied sich von anderen Substanzen durch seinen unerträglichen Geruch, seine helle Flamme beim Verbrennen und seine Löslichkeit in Wasser. Der Saft wurde äußerlich auf schmerzende Gelenke aufgetragen, bei Ohrenschmerzen verwendet, und in Milch gelöstes Opium sollte zur Verbesserung der Schlafqualität dienen [12]. Die Wiege des Mohns ist wahrscheinlich Mesopotamien. Es gibt Hinweise auf die erste schriftliche Erwähnung dieser Pflanze auf sumerischen Tafeln. Der Mohn wurde „hul-gil“ oder „Freudenpflanze“ genannt [13]. Die Verwendung von Opium breitete sich von Ägypten rasch im gesamten Mittelmeerraum aus, hier durch die Griechen und ihren Handel mit den Ägyptern. Im 13. Jh. v. Chr. tauchen im antiken Kreta Figuren der „Mohngöttin und Mohnblumen“ auf, die ein indirekter Beweis für die Verbreitung von Opium sind [5]. Aus der Literatur der antiken Autoren geht hervor, dass Opium in Form von Pillen, Zäpfchen, Einläufen und Umschlägen verwendet wurde, und auch an den Wänden der sog. „Opiumhäuser“ wurden Spuren von Opium gefunden. Ebenso wurden Opiumkrüge – kleine, mohnförmige Gefäße, in denen Opium erhitzt wurde – in der Literatur erwähnt [6]. Die berühmteste Opiumzubereitung der Antike war das sog. thebanische Opium, das von Oberägypten aus in den gesamten Mittelmeerraum exportiert wurde [9].
Ebenso war die Verwendung von Elektrizität zur Schmerzlinderung bei rheumatischen Beschwerden bereits im alten Ägypten und später auch bei den Griechen und Römern bekannt. So gibt es Beschreibungen von Patientinnen und Patienten, die ihre schmerzenden Glieder in ein Gefäß mit elektrisierendem Fisch aus dem Nil oder aus dem Meer (Malopterus electricus, Torpedo mamorata, Gymnotus electric) halten mussten [10, 11], und der Arzt Scribonius Largus beschreibt in seinem Werk „Compositiones medicae“ (ca. 50 n. Chr.) die Verwendung von elektrisierenden Fischen auch zur Behandlung von chronischen Kopfschmerzen. Im Übrigen ist die Verwendung von vergleichbaren Fischen als Teil der Elektrotherapie in der Medizin bis ins 19. Jh. nachweisbar [11].
Erst Hippokrates brachte um 400 v. Chr. eine rationale Sichtweise der Therapie, und ersetzte die religiösen und übernatürlichen Ansichten. Nach Hippokrates Ansicht wurde der Schmerz verursacht durch eine schlechte Mischung (Dyskrasie) der 4 Körpersäfte Blut, Lymphe, gelbe und schwarze Galle. Im Corpus Hippocraticum, geschrieben zwischen 430 und 350 v. Chr., wurde der Behandlung von Schmerzen ein großer Platz eingeräumt: „Divinum opus sedare dolorem“ [3].
Daneben wurde auch die physikalische Medizin zur schmerzlindernden Behandlung eingesetzt, meist in Form von Wärme und Kälte und verschiedenen Bädern [10]. Aristoteles (384–322 v. Chr.) betrachtete das Herz als ein „sensorium commune“, das Zentrum der Sinneswahrnehmung und des Schmerzempfindens. Für ihn bestand die Funktion des Gehirns in erster Linie in der Kühlung der Wärme, die aus dem Herzen kommt [14].
Erst der römische Arzt Galen von Pergamon (130–201 v. Chr.) lokalisierte das sensorische Zentrum des Gehirns als Ausgangspunkt der Nerven und unterschied verschiedene Arten von Schmerzen je nach Ursache [10]. Galen war auch der bekannteste Vertreter der Schule der Dyskrasie, die auf der Erkenntnis beruhte, dass Krankheiten durch ein Ungleichgewicht von Körperflüssigkeiten verursacht werden. Um die Körperflüssigkeiten wieder ins Gleichgewicht zu bringen, empfahl er Reinigung, Spannungsabbau sowie Relaxation. Die Vorstellung einer gestörten Körperharmonie als Ursache von Schmerzen herrschte in vielen Variationen unter Ärzten bis in die frühe Neuzeit vor. Eine plausible (aber unwirksame) Therapie als Folge dieser Ideen war die Verwendung des Aderlasses, um die Mischung der Körpersäfte zu regulieren.
Etwas anders als heute war die weit verbreitete Aufforderung, das Leiden des Schmerzes zu ertragen. Aristoteles (4. Jh. v. Chr.) postulierte: wer Schmerzen klaglos erträgt, zeigt Mut. Der frühe Kirchenvater Augustinus aus dem 5. Jh. pries den Glauben als einzigen Trost bei Schmerzen, eine Position, die wahrscheinlich aus der Verehrung der Tradition der christlichen Märtyrer herrührte.
An Möglichkeiten der Schmerztherapie gab es zur Zeit des antiken Roms die Verwendung von Mischungen aus verschiedenen Pflanzenextrakten wie Wein, Nieswurz, Hanf, Mohn oder Alraune (Abb. 2). Diese Kräuterlösungen wurden dann mit einem „Schlafschwamm“ (ein mit der Lösung getränkter Schwamm) oder als Getränk („Schlaftrunk“) angewendet. Der antike Arzt Plinius bevorzugte hier zum Beispiel die Verwendung von Alraunenwein, der seiner Meinung nach sehr sicher angewendet werden kann, wenn man die richtige Dosierung beachtete. Plinius beschrieb sowohl seine schmerzlindernden als auch seine beruhigenden Eigenschaften. Analog geht auch die Verwendung der Blätter der Pflanze Koka zur Behandlung von Schmerzen in Südamerika als Rauschmittel und schmerzstillende Substanz zurück [8].
Frühes Mittelalter
In den folgenden Jahrhunderten des Mittelalters verschwanden viele der Erkenntnisse aus der Antike. Der Schmerz wurde weitgehend als Strafe Gottes für die Sünden oder als Prüfung durch Gott angesehen. Dementsprechend suchte man Heilung und Linderung vor allem bei Gott und den Heiligen. Die Verwendung von Mischungen verschiedener Pflanzenextrakte wurde jedoch weiterhin verwendet, welche auf empirischen Erfahrungen beruhten.
Weg zur Neuzeit
Erst die Möglichkeit der Entwicklung von Kenntnissen über die anatomischen und physiologischen Funktionen des Körpers und insbesondere die Identifizierung des Gehirns als Sitz aller Wahrnehmung (auch der Schmerzwahrnehmung) befreit die Schmerztherapie von magischen historischen Elementen. Hier beginnt die rationale Phase der Medizin, die sich auf die Erweiterung der Entwicklung der therapeutischen Möglichkeiten des Schmerzes konzentriert. Die Schmerztherapie spielte hier vor allem in der Militärmedizin eine bedeutende Rolle, in der nach der Einführung der Schusswaffen sowohl die Zahl als auch das Spektrum der schmerzhaften Verletzungen und damit der Bedarf an effektiver Analgesie anstieg. Es war René Descartes (1596–1650), ein französischer Philosoph, der als Erster die Idee vom Schmerz und dem Gehirn entwickelte. Sie beruhte auf der Vorstellung, dass das Ende des Nervs in der Peripherie durchtrennt und dieses Signal an das Gehirn weitergeleitet wird, wo in der Zirbeldrüse, als Kreuzung zwischen Körper und Geist, diese Irritation verarbeitet und als Schmerz wahrgenommen wird. Was früher als ein Zeichen von bösen Dämonen oder göttlicher Strafe galt, wurde nun plötzlich analytisch betrachtet: Schmerz als Zeichen der Gefahr, als Signal an den Arzt, und als Problem, das man bekämpfen kann und sollte, ohne göttlichen Zorn auf sich zu ziehen. Die gezielte Wundversorgung hatte sich vor allem seit dem 16. Jh. weiterentwickelt, als die Wunde nicht mehr nur mit heißem Öl und „Brand“ behandelt wurde. Dem französischen Chirurgen Ambroise Paré war es zu verdanken, dass die Bedeutung der Blutgefäße für die Blutstillung und die Reinigung der Wunde erkannt wurde. In diesem Bereich wurden weiterhin pflanzliche Heilmittel zur Analgesie und Schlafinduktion eingesetzt. Diese Änderung der Therapie führt zu einer schnelleren Heilung und einer Verringerung der Schmerzen. Paré war auch einer der ersten, welcher erkannte, dass positives Denken der Patientinnen und Patienten das Ergebnis der Operation verbesserte. Paré postulierte auch, dass Gott dem Arzt die Fähigkeit gibt, Schmerzen zu lindern, und die Schmerztherapie eine Form der Ehrung Gottes ist.
Im Jahr 1540 entdeckt der Schweizer Arzt und Alchemist Paracelsus den Äther: „Er ist so süß, dass sogar Hühner ihn essen, dann einschlafen und wieder aufwachen, ohne Schaden zu nehmen. Seine vielleicht berühmteste These „dosis facit venenium“ – die Menge macht das Gift – gilt noch heute [10]. Paracelsus bezeichnet Opium als „Laudanum“, d.h. als lobenswertes Mittel.
19. und 20. Jahrhundert
Das 19. Jh. war das Jahrhundert der Entdeckung von Analgetika: Im Jahr 1804 beschrieb der deutsche Apotheker Wilhelm Sürner das Morphin. Der nächste Fortschritt war die Ätheranästhesie durch William Morton und Horace Wells im Jahr 1846 (Abb. 3). Horace Wells hatte die Gelegenheit, auf amerikanischen Jahrmärkten Séancen mit Lachgas zu beobachten. Zahnärzte waren die ersten, die das Lachgas zur Anästhesie bei zahnärztlichen Eingriffen verwendeten [15]. 1867 führten sie im Massachusetts General Hospital die weltweit erste Ätheranästhesie durch. In Boston wurde die Substanz mit einem Denkmal geehrt, auf dem zu lesen war: „Pain shall be no more“. 1897 synthetisierte Bayer in Elberfeld (heute Wuppertal) zum ersten Mal reine Acetylsalicylsäure, das Aspirin war geboren; viele weitere Analgetika folgten.
Im Jahr 1884 verwendete der Augenarzt Carl Koller Kokaintropfen bei der Operation des Grauen Stars und wurde Pionier der Lokalanästhesie.
Einer der nächsten wichtigen Schritte in der Entwicklung der Schmerztherapie waren die Studien von Maximilian Frey, der um 1900 postulierte, dass im Unterhautgewebe Schmerzrezeptoren und Rezeptoren der Temperaturwahrnehmung vorhanden sind.
Der französische Chirurg René Leriche war der erste, der im Jahr 1937 den Begriff „douleur malade“ definierte und sich der Forschung über Phantomschmerzen nach Amputation von Gliedmaßen widmete. In der ersten Hälfte des 20. Jh. wurden neurochirurgische Eingriffe als invasive Schmerztherapie eingeführt.
In der Geburtshilfe wurde 1947 die Ätheranästhesie eingesetzt, besonders bedeutsam nachdem Königin Victoria mit seiner Hilfe ihr 8. Kind gebar [15, 16].
Auf dem Weg zur modernen Schmerztherapie
In den 1960er und 1970er Jahren war man allgemein der Meinung, dass Schmerzen kein Problem mehr darstellten. Manche Patientinnen und Patienten mit Schmerzen, insbesondere chronischen Schmerzen, litten jedoch trotz allen Fortschritten in der analgetischen Behandlung weiter unter den Beschwerden, allen Analgetika zum Trotz. Langsam reifte der Gedanke, dass die Behandlung von Schmerzen als rein körperliches Phänomen zu eindimensional war. Die Psyche hat einen erheblichen Einfluss auf den Schmerz, dies war wahrscheinlich eine der wichtigsten Erkenntnisse, die zu einigen der wichtigsten Praktiken wie Entspannung, Stressabbau und ein ausgeglichenes Leben allmählich ihren Weg in die Konzepte der modernen Algesiologie fanden.
Nach seinen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg war John Bonica der erste, der eine interdisziplinäre Schmerzklinik eröffnete und als Begründer der modernen multimodalen Schmerztherapie gilt [3, 17–19]. Seine Klinik war ein Zusammenschluss von Anästhesisten, Neurologen und Neurochirurgen, Psychologen und Physiotherapeuten. Im Jahre 1965 kam es dann zur Veröffentlichung der „Gate-control-theory“ [20], die unter anderem auf die Bedeutung des limbischen Systems hinweist. Allmählich vollzog sich ein Wandel in der Sichtweise der Schmerztherapie. Der amerikanische Psychiater Jonathan Engel postuliert den Schmerz erstmals als eine psychophysische Interaktion. In den späten 1970er Jahren erfolgt dann die Entwicklung des biopsychosozialen Modells des Schmerzes [21].
Interessenkonflikte:
Keine angegeben.
Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf:
www.online-oup.de.
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