Übersichtsarbeiten - OUP 04/2024

Schmerz, ein Symptom in unserer Kulturgeschichte

An Möglichkeiten der Schmerztherapie gab es zur Zeit des antiken Roms die Verwendung von Mischungen aus verschiedenen Pflanzenextrakten wie Wein, Nieswurz, Hanf, Mohn oder Alraune (Abb. 2). Diese Kräuterlösungen wurden dann mit einem „Schlafschwamm“ (ein mit der Lösung getränkter Schwamm) oder als Getränk („Schlaftrunk“) angewendet. Der antike Arzt Plinius bevorzugte hier zum Beispiel die Verwendung von Alraunenwein, der seiner Meinung nach sehr sicher angewendet werden kann, wenn man die richtige Dosierung beachtete. Plinius beschrieb sowohl seine schmerzlindernden als auch seine beruhigenden Eigenschaften. Analog geht auch die Verwendung der Blätter der Pflanze Koka zur Behandlung von Schmerzen in Südamerika als Rauschmittel und schmerzstillende Substanz zurück [8].

Frühes Mittelalter

In den folgenden Jahrhunderten des Mittelalters verschwanden viele der Erkenntnisse aus der Antike. Der Schmerz wurde weitgehend als Strafe Gottes für die Sünden oder als Prüfung durch Gott angesehen. Dementsprechend suchte man Heilung und Linderung vor allem bei Gott und den Heiligen. Die Verwendung von Mischungen verschiedener Pflanzenextrakte wurde jedoch weiterhin verwendet, welche auf empirischen Erfahrungen beruhten.

Weg zur Neuzeit

Erst die Möglichkeit der Entwicklung von Kenntnissen über die anatomischen und physiologischen Funktionen des Körpers und insbesondere die Identifizierung des Gehirns als Sitz aller Wahrnehmung (auch der Schmerzwahrnehmung) befreit die Schmerztherapie von magischen historischen Elementen. Hier beginnt die rationale Phase der Medizin, die sich auf die Erweiterung der Entwicklung der therapeutischen Möglichkeiten des Schmerzes konzentriert. Die Schmerztherapie spielte hier vor allem in der Militärmedizin eine bedeutende Rolle, in der nach der Einführung der Schusswaffen sowohl die Zahl als auch das Spektrum der schmerzhaften Verletzungen und damit der Bedarf an effektiver Analgesie anstieg. Es war René Descartes (1596–1650), ein französischer Philosoph, der als Erster die Idee vom Schmerz und dem Gehirn entwickelte. Sie beruhte auf der Vorstellung, dass das Ende des Nervs in der Peripherie durchtrennt und dieses Signal an das Gehirn weitergeleitet wird, wo in der Zirbeldrüse, als Kreuzung zwischen Körper und Geist, diese Irritation verarbeitet und als Schmerz wahrgenommen wird. Was früher als ein Zeichen von bösen Dämonen oder göttlicher Strafe galt, wurde nun plötzlich analytisch betrachtet: Schmerz als Zeichen der Gefahr, als Signal an den Arzt, und als Problem, das man bekämpfen kann und sollte, ohne göttlichen Zorn auf sich zu ziehen. Die gezielte Wundversorgung hatte sich vor allem seit dem 16. Jh. weiterentwickelt, als die Wunde nicht mehr nur mit heißem Öl und „Brand“ behandelt wurde. Dem französischen Chirurgen Ambroise Paré war es zu verdanken, dass die Bedeutung der Blutgefäße für die Blutstillung und die Reinigung der Wunde erkannt wurde. In diesem Bereich wurden weiterhin pflanzliche Heilmittel zur Analgesie und Schlafinduktion eingesetzt. Diese Änderung der Therapie führt zu einer schnelleren Heilung und einer Verringerung der Schmerzen. Paré war auch einer der ersten, welcher erkannte, dass positives Denken der Patientinnen und Patienten das Ergebnis der Operation verbesserte. Paré postulierte auch, dass Gott dem Arzt die Fähigkeit gibt, Schmerzen zu lindern, und die Schmerztherapie eine Form der Ehrung Gottes ist.

Im Jahr 1540 entdeckt der Schweizer Arzt und Alchemist Paracelsus den Äther: „Er ist so süß, dass sogar Hühner ihn essen, dann einschlafen und wieder aufwachen, ohne Schaden zu nehmen. Seine vielleicht berühmteste These „dosis facit venenium“ – die Menge macht das Gift – gilt noch heute [10]. Paracelsus bezeichnet Opium als „Laudanum“, d.h. als lobenswertes Mittel.

19. und 20. Jahrhundert

Das 19. Jh. war das Jahrhundert der Entdeckung von Analgetika: Im Jahr 1804 beschrieb der deutsche Apotheker Wilhelm Sürner das Morphin. Der nächste Fortschritt war die Ätheranästhesie durch William Morton und Horace Wells im Jahr 1846 (Abb. 3). Horace Wells hatte die Gelegenheit, auf amerikanischen Jahrmärkten Séancen mit Lachgas zu beobachten. Zahnärzte waren die ersten, die das Lachgas zur Anästhesie bei zahnärztlichen Eingriffen verwendeten [15]. 1867 führten sie im Massachusetts General Hospital die weltweit erste Ätheranästhesie durch. In Boston wurde die Substanz mit einem Denkmal geehrt, auf dem zu lesen war: „Pain shall be no more“. 1897 synthetisierte Bayer in Elberfeld (heute Wuppertal) zum ersten Mal reine Acetylsalicylsäure, das Aspirin war geboren; viele weitere Analgetika folgten.

Im Jahr 1884 verwendete der Augenarzt Carl Koller Kokaintropfen bei der Operation des Grauen Stars und wurde Pionier der Lokalanästhesie.

Einer der nächsten wichtigen Schritte in der Entwicklung der Schmerztherapie waren die Studien von Maximilian Frey, der um 1900 postulierte, dass im Unterhautgewebe Schmerzrezeptoren und Rezeptoren der Temperaturwahrnehmung vorhanden sind.

Der französische Chirurg René Leriche war der erste, der im Jahr 1937 den Begriff „douleur malade“ definierte und sich der Forschung über Phantomschmerzen nach Amputation von Gliedmaßen widmete. In der ersten Hälfte des 20. Jh. wurden neurochirurgische Eingriffe als invasive Schmerztherapie eingeführt.

In der Geburtshilfe wurde 1947 die Ätheranästhesie eingesetzt, besonders bedeutsam nachdem Königin Victoria mit seiner Hilfe ihr 8. Kind gebar [15, 16].

Auf dem Weg zur modernen Schmerztherapie

In den 1960er und 1970er Jahren war man allgemein der Meinung, dass Schmerzen kein Problem mehr darstellten. Manche Patientinnen und Patienten mit Schmerzen, insbesondere chronischen Schmerzen, litten jedoch trotz allen Fortschritten in der analgetischen Behandlung weiter unter den Beschwerden, allen Analgetika zum Trotz. Langsam reifte der Gedanke, dass die Behandlung von Schmerzen als rein körperliches Phänomen zu eindimensional war. Die Psyche hat einen erheblichen Einfluss auf den Schmerz, dies war wahrscheinlich eine der wichtigsten Erkenntnisse, die zu einigen der wichtigsten Praktiken wie Entspannung, Stressabbau und ein ausgeglichenes Leben allmählich ihren Weg in die Konzepte der modernen Algesiologie fanden.

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