Übersichtsarbeiten - OUP 03/2014

Differenzialindikation zur Hallux valgus-Therapie

M. Gabel1, H. Kirch2

Zusammenfassung: Die Entität des Hallux valgus ist komplex. Er stellt eine kombinierte Deformität der Großzehe mit resultierender valgischer Fehlstellung im Großzehengrundgelenk und Metatarsus primus varus dar. Obwohl der Hallux valgus zum „Alltagsgeschäft“ des Orthopäden gehört – es existieren allein über 150 beschriebene Operationsverfahren speziell für den Hallux valgus – und eine beinahe unüberschaubare Anzahl an Studien/Nachuntersuchungen durchgeführt wurde, sind prospektive, randomisierte Studien, die verschiedene operative und/oder konservative Therapieverfahren miteinander vergleichen, kaum auffindbar.

Die konservative Therapie zielt auf eine Beschwerdelinderung ab. Bei Beschwerdepersistenz und entsprechendem
Leidensdruck des Patienten unter konservativen Maßnahmen sind elektive Operationsmaßnahmen nach gründlicher
Patientenaufklärung zur dauerhaften Stellungskorrektur
indiziert.

Die Selektion des Behandlungsverfahrens, sei es konservativ und/oder operativ, orientiert sich an Leitlinien, bleibt letztlich jedoch abhängig von der Person des behandelnden Orthopäden, seinen Präferenzen und dem im Alltag gewonnenen Erfahrungswissen.

Schlüsselwörter: Hallux valgus, operative/konservative Therapie, Metatarsale I Osteotomie, Deformität der Großzehe, Fußfehlstellung

Zitierweise
Gabel M, Kirch H. Differenzialindikation zur Hallux valgus-Therapie. OUP 2014; 3: 105–113. DOI 10.3238/oup.2014.0105–0113

Abstract: The entity of hallux valgus is complex. Hallux
valgus represents a combined deformity of the big toe with a valgus malalignment in the first metatarsophalangeal joint as well as metatarsus primus varus formation. In its occurrence hallux valgus can be largely described as „day-to-day“ business for orthopaedic surgeons. More than 150 different surgical approaches have been documented for the treatment of hallux valgus. A considerable number of follow-up examinations and studies have been completed. However, prospective and randomised control studies comparing surgical and non-surgical therapeutic methods are hard to find.

A non-operative treatment aims to relieve the associated symptoms. Indication for elective surgery with correction of the deformity follows the patient’s pain intensity which is not adequately controlled by non-surgical means. Reliable
patient information has to be provided in advance.

The selection of treatment, whether operative or non-operative, is based on guidelines. Finally, the choice of treatment depends on the orthopaedic specialist himself, his preferences and experience-based knowledge.

Keywords: Hallux valgus, operative/non-operative treatment, osteotomies of the first metatarsal, big toe malalignment, foot deformity

Citation
Gabel M, Kirch H. Differential indication in therapy of hallux valgus OUP 2014; 3: 105–113. DOI 10.3238/oup.2014.0105–0113

Definition und Epidemiologie

Der Hallux valgus, die laterale/valgische Achsabweichung der Großzehe (Subluxation) im Grundgelenk nach fibular mit gleichzeitig medialer Achsabweichung und somit varischer Stellung des Os metatarsale I (Metatarsus primus varus), sowie Subluxation des Metatarsophalangealgelenks I und Pronation der Großzehe, ist die häufigste und wohl bedeutsamste Vorfußdeformität und somit Alltag in unseren orthopädischen Sprechstunden [1]. Bei den über 65-Jährigen ist bereits eine Prävalenz von ca. 35 % zu verzeichnen [2].

Die Entität Hallux valgus ist im Wesentlichen eine Problematik unseres westlichen Kulturkreises. Der Übergang zwischen normaler und pathologischer Stellung der Großzehe ist fließend. Inadäquates, den Fuß einengendes Schuhwerk hat einen großen Einfluss auf die Ausbildung eines symptomatischen Hallux valgus. Eine genetische Komponente mit familiärer Disposition, das häufigere Betroffensein des weiblichen Geschlechts – neben genetischen Ursachen tritt hier oftmals das Tragen enger, spitzer und schmaler Schuhe mit hohen Absätzen hinzu – koinzidente Fußdeformitäten (Spreizfuß mit Metatarsus primus varus/Pes planovalgus, Instabilität des Tarsometatarsalgelenks I), muskuläre Dysbalancen, Adipositas, posttraumatische oder postarthritische Deformitäten sowie neuropathische Erkrankungen sind ursächlich zu diskutieren [3, 4, 5, 6, 7, 8].

Pathogenese des Hallux valgus

Die Pathogenese des Hallux valgus ist vielschichtig. Das muskuläre Gleichgewicht am Fuß wird meist durch äußere Einflüsse gestört. Es kommt zu einer Dezentrierung der Streck- und Beugesehnen nach lateral, einer Dysbalance zwischen extrinsischer und in den Vordergrund tretender intrinsischer Fußmuskulatur. Das Metatarsale I kippt nach medial in eine varische Fehlstellung und führt zu einer Verbreiterung des Intermetatarsale-Winkels I/II mit Verbreiterung des Vorfußes. Gleichzeitig dezentrieren die Sesambeine. Eine supinatorische Drehkomponente des Metatarsale I führt zu einer Verlagerung der Sehne des Musculus abductor hallucis nach plantar, der hierdurch flektierend und pronierend auf das in der Transversalebene nicht mehr stabilisierte Großzehengrundgelenk einwirkt. Die vormals das Großzehengrundgelenk stabilisierende Kapsel wird medialseitig gedehnt. Die laterale Gelenkkapsel retrahiert und verstärkt gemeinsam mit dem sich verkürzenden, an der Grundphalanx inserierenden Musculus adductor hallucis die Deformität der Großzehe [9, 10, 11, 12, 13].

Diagnostik und Klinik

Belastungs- und/oder Ruheschmerzen oder auch Schuhkonflikte ebnen den Weg in die orthopädische Sprechstunde. Die subjektiven Beschwerden des Patienten korrelieren meist nicht mit dem Ausmaß der Fehlstellung.

Die Untersuchung beginnt mit einer ausführlichen Anamnese. Fragen, die die Familienanamnese abdecken, gehören zur Grundlage. Angeborene sind von erworbenen Fußdeformitäten zu unterscheiden. Im Rahmen der allgemeinen Anamnese sollten insbesondere der Diabetes mellitus, neuropathische/neurogene Erkrankungen, Fußmykosen und Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises Beachtung finden. Es sollte abgeklärt werden, ob kürzlich stattgehabte Traumata, eine Veränderung Freizeit- oder Berufsbedingter Aktivitäten oder Veränderungen der Art und Intensität von Aktivitäten vorliegen. Die Schmerzevaluation mit Fragen nach der Qualität, Dauer, Lokalisierung, Schwere, Ausstrahlung sowie Exazerbationszeitpunkt kann entscheidende Hinweise auf dem Weg zur genauen Diagnose bieten. Das Schuhwerk (Brandsohle, Einlagen) sollte auf Passgenauigkeit hin überprüft werden.

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