Übersichtsarbeiten - OUP 03/2014

Differenzialindikation zur Hallux valgus-Therapie

Das Gangbild des Patienten sowie seine Fußstellung (Fußgewölbe, Rückfußstellung, Spreizfuß) sind zu untersuchen. Die Diagnose des Hallux valgus erfolgt zunächst am stehenden Patienten unter voller Belastung beider Füße. Eine valgische Achsabweichung der Großzehe im Grundgelenk nach fibular ist erkennbar. Ein Fußinnenrandwinkel (Winkel am Fußinnenrand mit Scheitelpunkt am Metatarsale I Köpfchen, der die Abweichung der Großzehe von der Achse des Metatarsale I misst) von > 15° beschreibt definitionsgemäß einen Hallux valgus.

Die von den Patienten beklagte Pseudoexostose, die der medialen Prominenz des Metatarsaleköpfchens I entspricht, ist häufig Ausgangspunkt der Beschwerden. Diese steht unter einer fortwährenden mechanischen Druckbelastung. Infolge dieser mechanisch-entzündlichen Reizung entwickeln sich hier oftmals Keratosen oder eine Bursa, die in einer äußerst schmerzhaften, entzündlichen Bursitis gipfeln kann.

Des Weiteren kann die Fehlstellung der Großzehe so groß sein, dass sie die Stellung der übrigen Zehen kompromittiert. Die Großzehe kann über oder häufiger unter die 2. Zehe ragen (Digitus II superductus oder infraductus). Der Hallux valgus ist mit Hammer- oder Krallenzehen oder infolge der vorhandenen Spreizfußdeformität und resultierender Fehlbelastung mit metatarsalgiformen Beschwerden (Transfermetatarsalgie) und entsprechender plantarer Beschwielung oder einem 5. Zeh in Varusstellung kombiniert. Der zuletzt genannte Digitus quintus varus oder Bunionette wird in seiner Entstehung ebenfalls durch den zugrundeliegenden Spreizfuß begünstigt. Die Aufspreizung des Mittelfußes lässt die Prominenz der Pseudoexostose noch größer erscheinen.

Der Nagel der Großzehe zeigt bei Hallux valgus-Deformität durch deren rotatorische Komponente in Pronation nach medial. Eine parallele Nagelstellung zur Belastungsebene ist als normal zu werten.

Es bleibt festzustellen, ob die Hallux valgus-Fehlstellung flexibel und somit reponierbar und manuell korigierbar ist, oder ob bereits eine fixierte Deformität vorliegt.

Die Beweglichkeit im Großzehengrundgelenk (ROM, range of motion) ist in Fehl- und Korrekturstellung zu prüfen. Hierzu wird das Metatarsale I mit einer Hand flächig geführt, während die andere Hand den Zeh in Dorsalextensions- und Plantarflexionsstellung bringt. Das Bewegungsausmaß ist für die Wahl des später gegebenenfalls zu wählenden operativen Vorgehens entscheidend und gibt Hinweise auf das Vorliegen eines Hallux rigidus und somit einer Arthrose. Die durchschnittliche freie Beweglichkeit für Dorsalextension/Plantarflexion beträgt im Großzehengrundgelenk 60–0–50°. Bei der Durchbewegung ist auf Bewegungsschmerz und Krepitation zu achten.

Ebenfalls die benachbarten Gelenke sind orientierend zu beurteilen (oberes und unteres Sprunggelenk, Interphalangealgelenk I, Metatarsophalangealgelenke II-V, Tarsometatarsalgelenk I). Insbesondere das Tarsometatarsalgelenk I sollte genaue Beachtung finden und dessen Stabilität geprüft werden, ebenso wie die Stellung des Rückfußes in den Sprunggelenken und die Vorfuß-Rückfußbeziehung (zum Beispiel Funktionsprüfung mit dem Einbein-Zehen-Spitzenstand). Anlagebedingt und damit den Hallux valgus fördernd, gibt es den Pes adductus. Dieser beschreibt die Medialabweichung insbesondere der Mittelfußknochen 1–3, teils auch 4 und 5. Hieraus resultiert eine Lateralabweichung der Zehen. Trotz deutlichem Hallux valgus ist hier der Intermetatarsal-Winkel I/II eher wenig pathologisch.

Die Berücksichtigung trophischer Haut- und Nagelveränderungen sowie eine Prüfung von peripherer Motorik, Sensibilität und Durchblutung sind obligat. Auffälligkeiten erfordern dringlich eine weitere Abklärung [5, 9, 10, 14].

Bildgebende Diagnostik

Standardmäßig sollte ein Nativ-Röntgenbild [15] des Vor- und Mittelfußes im dorsoplantaren Strahlengang im 15°-Winkel zur Senkrechten unter Belastung des Fußes durchgeführt werden. Ergänzend ist ein seitliches Röntgenbild ohne Belastung erforderlich. Bei möglicher Instabilität des 1. Strahls sollte eine seitliche Belastungsaufnahme ebenfalls erfolgen.

In Einzelfällen sind folgende apparativen Untersuchungen zusätzlich erforderlich:

  • Röntgenaufnahmen in schräger Projektion von Mittel- und Vorfuß oder eine tangentiale Sesambeinaufnahme,
  • Pedobarografie,
  • Podografie,
  • Kernspintomografie.

Neben der Beurteilung der Kongruenz (Subluxation?) und dem Arthrosegrad des Metatarsophalangealgelenks I und des Tarsometatarsalgelenks I sowie orientierend auch der weiteren Fußgelenke, sollten die folgenden Winkel bestimmt bzw. Messungen durchgeführt werden, s. Abbildung 2:

  • der Hallux valgus- (HV) Winkel (Abweichung der Achse des Metatarsale I zum Phalangen I),
  • der Intermetatarsal- (IMT) Winkel I/II (Winkel des 1. zum 2. Metatarsale),
  • der Metatarsaleindex (Länge der Metatarsalia: Index –, Index +, Index +/–),
  • der distale Metatarsaleartikulationswinkel (DMAA, distaler Gelenkflächenwinkel),
  • die Dezentrierung des Metarsale I-Köpfchens im Verhältnis zu den Sesambeinen in 4 Stadien (normal bis dezentiert) [16].

Diese Winkel und Messungen dienen intraoperativ und bei postoperativen Belastungsaufnahmen im zeitlichen Verlauf zur Erfolgskontrolle.

Eine Einteilung in Abhängigkeit des Schweregrads in die Kategorisierung mild, moderat oder schwer ist über die Winkelgrade möglich. Eine mögliche Einteilung gibt Tabelle 1 [16, 17].

Die folgenden weiteren Schemata können Verwendung finden und sind für Studien essenziell und eingeführt:

  • Foot Function Index [18],
  • AOFAS-Vorfuß Score [19].

Differenzialdiagnosen

Differenzialdiagnostisch abzuklären sind – neben neurogenen Fußdeformitäten und fehlverheilten Frakturen – eine Arthritis des Großzehengrundgelenks sowie eine Podagra [20]. Die rheumatoide Arthritis kann zu einer komplexen Fehlstellung mit Hallux valgus–Deformität führen. Die im Rahmen einer Gicht durch Harnsäurekristalle verursachte Arthritis des Großzehengrundgelenks ist meist mit einer ausgeprägten Bursitis und einer schmerzhaften Einschränkung der Beweglichkeit verbunden.

Der Hallux valgus ist des Weiteren vom Hallux valgus interphalangeus zu unterscheiden. Hier liegt eine valgische Fehlstellung zwischen der Gelenkfläche der Grundgliedbasis und dem Interphalangealgelenk I vor. Bei der operativen Therapie muss hier ein anderes Operationsverfahren gewählt werden. Handelt es sich um einen Hallux valgus et interphalangeus, ist ein ergänzendes Operationsverfahren zu wählen.

Therapie

Der Patient allein steht im Mittelpunkt unseres Vorgehens. Die Therapie sollte – wie überall in der Medizin – individuell angepasst sein und sich an den Wünschen und Erwartungen des Patienten orientieren. Seine Beschwerden, seine eventuell vorliegenden Grunderkrankungen, die Möglichkeit seiner Compliance sind nur einzelne Aspekte eines Gesamtbilds, das zu erkennen unsere Aufgabe ist. Ziel einer maßgeschneiderten konservativen und/oder operativen Therapie ist ein zufriedener Patient mit reduzierten oder gar keinen Schmerzen, einer Verbesserung oder zumindest einem Erhalt der Funktion sowie gegebenenfalls einer Korrektur der vorliegenden Deformität. Grundlegend ist es erforderlich, den Patienten über potenzielle Formen der Therapie, deren Vor- und Nachteile, realistische Therapieergebnisse und angepasste Verhaltensweisen aufzuklären. Ausdrücklich wollen wir auf die Notwendigkeit der Aufklärung über die realistische Zeitdauer der Rehabilitation hinweisen, ebenso sollte das zu erwartende Ergebnis auch bezüglich des Tragens modischen Schuhwerks erläutert werden. Es ist wichtig, eine Diskrepanz vom Anspruch an das Schuhwerk und den morphologischen Gegebenheiten zu erkennen und offenzulegen [21].

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