Übersichtsarbeiten - OUP 06/2023

Distale Humerusfrakturen

Vera Jaecker, Annika Steinmeier, Ji Won Kim, Ulrich Stöckle, Sven Märdian

Lernziele:

Kenntnisse über Epidemiologie, Unfallmechanismus, Diagnostik und Therapie distaler Humerusfrakturen

Die Klassifikation distaler Humerusfrakturen und die sich hieraus ableitende Therapie

Den aktuellen Stand der operativen Therapie distaler Humerusfrakturen mit unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten und Implantaten entsprechend des Frakturtyps

Zusammenfassung:
Distale Humerusfrakturen stellen schwerwiegende, gelenkbeteiligende Verletzungen, die nicht selten mit neurovaskulären Begleitverletzungen und Weichteilschäden einhergehen, dar. In der Regel ist eine osteosynthetische Versorgung zur Frakturstabilisierung erforderlich und um eine möglichst frühzeitige funktionelle Nachbehandlung zu ermöglichen. Ziel ist eine anatomische und stabile Rekonstruktion der Fraktur, um die Funktion und Belastungsfähigkeit des Ellbogengelenks wiederherzustellen. Bei den meisten Frakturtypen sind Schrauben- oder Plattenosteosynthesen die Therapie der Wahl. Bei gelenkbeteiligenden Frakturen werden meistens anatomisch vorgeformte Doppelplattenosteosynthesen durchgeführt, die in einer 90°- oder 180°-Konfiguration positioniert werden können. Der operativen Therapie sollte eine genaue Analyse der Fraktur vorausgehen, die Patientenlagerung, operative Zugangswege und die Art der Osteosynthese umfasst. Bei komplexen, osteoporotischen Frakturen, bei denen die Gelenkfläche nicht rekonstruierbar ist, kann ein endoprothetischer Gelenkersatz erwogen werden. Die klinischen Ergebnisse operativ versorgter distaler Humerusfrakturen hängen wesentlich von der Komplexität der Fraktur und dem Repositionsergebnis sowie dem Vorhandensein begleitender Nervenverletzungen ab. Zu den häufigsten postoperativen Komplikationen zählen eine Ellbogengelenkteilsteife, heterotope Ossifikationen, eine posttraumatische Arthrose und proximale Ulnarisparesen.

Schlüsselwörter:
Distale Humerusfraktur, Unfallmechanismus, Nervenverletzung, operative Techniken,
operative Zugänge, Doppelplattenosteosynthese, Komplikationen

Zitierweise:
Jaecker V, Steinmeier A, Kim JW, Stöckle U, Märdian S: Distale Humerusfrakturen
OUP 2023; 12: 288–296
DOI 10.53180/oup.2023.0288-0296

Summary: Distal humerus fractures are often severe, joint-involving injuries that frequently present with
concomitant neurovascular injuries and soft tissue damage. Most fractures require surgical treatment to allow for an early range of motion follow-up. The surgery aims to achieve an anatomic, stable reconstruction as a
prerequisite for restoring function and weight-bearing of the elbow joint. Open reduction and internal fixation is usually performed for most fracture types, with anatomically bicolumnar locking plates that can be
positioned in a 90° or 180° configuration most commonly performed for joint-involving fractures. A detailed fracture analysis with planning of patient positioning, approaches and the choice of implants should precede the surgical treatment. Total elbow replacement may be considered in comminuted osteoporotic fractures where the articular surface cannot be reconstructed. Clinical outcomes of surgically treated distal humerus
fractures depend primarily on the fracture type and the anatomical reduction, as well as the presence of
concomitant nerve injury. The most common postoperative complications include partial elbow joint stiffness, heterotopic ossification, posttraumatic osteoarthritis, and damage to the ulnar nerve.

Keywords: Distal humerus fractures, trauma mechanism, nerve injury, surgical techniques,
surgical approaches, double-plate fixation, complications

Citation: Jaecker V, Steinmeier A, Kim JW, Stöckle U, Märdian S: Distal humerus fractures
OUP 2023; 12: 288–296. DOI 10.53180/oup.2023.0288-0296

V. Jaecker: Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie, Charité – Universitätsmedizin Berlin & Universität Witten/Herdecke

A. Steinmeier, J. W. Kim, U. Stöckle, S. Märdian: Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie, Charité – Universitätsmedizin Berlin

Einleitung

Frakturen des distalen Humerus stellen schwerwiegende Verletzungen dar, deren Inzidenz mit 5,7 pro 100.000 Einwohner pro Jahr angegeben wird [1]. Wenngleich sie nur einen Anteil von 0,5–7 % aller Frakturen beim Erwachsenen ausmachen, betreffen ca. 30 % aller ellenbogengelenknahen Frakturen den distalen Humerus [2].

Epidemiologische Daten zeigen eine bimodale Verteilung und betreffen einerseits junge Erwachsene nach Hochenergietraumen und andererseits ältere Patientinnen und Patienten, häufig assoziiert mit Niedrigenergietraumen und herabgesetzter Knochenqualität [2, 3]. Distale Humerusfrakturen treten am häufigsten durch eine direkte Krafteinwirkung bei einem mehr als 110° gebeugtem Ellbogengelenk auf. Sturzereignisse mit Krafteinwirkungen bei geringerer Flexion im Ellbogengelenk führen hingegen typischerweise eher zu Frakturen des Olecranons oder Radiuskopfes. Bei osteoporotischem Knochen finden sich auch distale Humerusfrakturen, die in Verbindung mit Stauchungsmechanismen durch Stürze auf den ausgestreckten Arm beobachtet werden [1, 4]. Bei Patientinnen und Patienten ohne Einschränkung der Knochenqualität und entsprechendem Dislokationsgrad gilt die offene Reposition und interne Fixation als Standardtherapie. Bei geriatrischen Frakturen stellen die osteoporotische Knochenstruktur, weit distal gelegene Frakturen und größere Trümmerzonen eine Herausforderung für eine ausreichend stabile, osteosynthetische Versorgung dar. Hier kann ein endoprothetischer Gelenkersatz erwogen werden und führt bei älteren Patientinnen und Patienten zu guten Kurzzeitergebnissen [5]. Eine konservative Therapie geht mit einer schlechteren Gelenkfunktion und dem erhöhten Risiko einer Non-union einher und wird in der Regel nur Patientinnen und Patienten zugeführt, bei denen das perioperative Risikoprofil keinen operativen Eingriff erlaubt [3].

Klinische Untersuchung

Neben der Anamnese ist eine umfassende klinische Untersuchung unabdingbar. Hierbei sollte eine zirkumferente Inspektion erfolgen, um Weichteilschäden und offene Frakturen zu identifizieren, die sich am häufigsten dorsal befinden [6]. Insgesamt sind
offene Frakturen am Ellenbogen mit einem Anteil von bis zu 14 % nicht selten [7]. Da distale Humerusfrakturen in der Regel zu starken Schmerzen führen ist eine Untersuchung des
Bewegungsumfangs und der Stabilität zumeist nur eingeschränkt möglich, und sollte nicht forciert erfolgen, um Schmerzen und sekundäre Dislokationen zu vermeiden.

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6