Übersichtsarbeiten - OUP 06/2023

Distale Humerusfrakturen

Nicht selten treten distale Humerusfrakturen in Verbindung mit Nerven- und Gefäßverletzungen auf. Daher ist es unerlässlich, im Rahmen der Erstuntersuchung den Gefäß- und Nervenstatus zu erheben, zumal diese schwerwiegenden Begleitverletzungen Einfluss auf die Dringlichkeit der Akuttherapie haben. Zudem ist die Dokumentation von neurovaskulären Verletzungen zwingend notwendig, um verletzungsbedingte von postoperativen Schädigungen abzugrenzen. Primär traumatische Nervenschädigungen treten in etwa 20 % aller distaler Humerusfrakturen auf und können alle 3 Hauptnerven der oberen Extremität (Nn. radialis, ulnaris et medianus) betreffen [3]. Die häufigste Nervenläsion bei bikondylären Frakturen ist eine Schädigung des Nervus ulnaris und wird in bis zu 24,8 % der Fälle beobachtet [8].

Gefäßverletzungen werden in Abhängigkeit des einwirkenden Traumamechanismus und durch Frakturfragmente verursacht, hierbei ist insbesondere die A. brachialis verletzungsgefährdet. Die Palpation der A. radialis und A. ulnaris als Endarterien ist daher ebenfalls im Rahmen der Erstuntersuchung unabdingbar. Bei unsicherer Beurteilbarkeit sollte die Perfusion gegebenenfalls durch eine ergänzende CT-Angiographie überprüft werden.

Zur Schmerztherapie, aber auch zur Vermeidung sekundärer Dislokationen und neurovaskulärer Sekundärsschäden sollte unmittelbar im Anschluss an die klinische Untersuchung eine Ruhigstellung erfolgen, insbesondere wenn Fehlstellungen klinisch erkennbar sind.

Diagnostik

Konventionelle Röntgenbilder des Ellenbogengelenks mit Darstellung des Humerusschaftes in 2 Ebenen stellen die Basisdiagnostik dar. Bei entsprechender Klinik muss die Diagnostik um eine zusätzliche Bildgebung der angrenzenden Knochen und Gelenke erweitert werden, um knöcherne Begleitverletzungen zu erkennen [2].

Bei intraartikulären oder mehrfragmentären Frakturen, bei der die einzelnen Fragmente nicht sicher voneinander abzugrenzen sind, ist eine Computertomografie (CT) durchzuführen, um den Frakturverlauf und Dislokationsgrad besser beurteilen zu können. Je komplexer die Fraktur, umso mehr Bedeutung gewinnt die CT-Bildgebung zur Planung der operativen Therapie [9]. Ebenso können ergänzende 3D-Rekonstruktionen hilfreich sein.

Die MRT-Diagnostik hingegen hat bei distalen Humerusfrakturen keinen Stellenwert, da in der Regel knöcherne Bandausrisse vorliegen und isolierte ligamentäre Läsionen kaum beobachtet werden. Wird in der klinischen Untersuchung eine Gefäßverletzung evident oder vermutet, so sollte zeitnah eine angiographische Darstellung der Extremität (z.B. CT-Angiographie) erfolgen.

Klassifikation

Die am häufigsten verwendete Klassifikation zur Einteilung distaler Humerusfrakturen ist die AO-Klassifikation (Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen), aus der sich die weiteren Behandlungsstrategien ableiten lassen. Distale Humerusfrakturen entsprechen dem Segment 13 nach AO, und werden entsprechend der Schweregrade weiter in extraartikuläre (Typ A1–A3), partiell intraartikuläre (ein Teil des Gelenkes ist noch mit dem Schaft verbunden; Typ B1–B3) und vollständig intraartikuläre (das Gelenk ist vollständig vom Schaft abgetrennt; Typ C1–C3) Frakturen unterteilt (Abb. l).

Die seltenen koronaren Abscherfrakturen des distalen Humerus (Typ B3-Verletzungen) beinhalten Frakturen des Capitulum humeri, der Trochlea oder beider Anteile. Diese können nach Dobberly in 3 Typen eingeteilt werden, die separate Fragmente des Capitulums und der Trochlea in der sagittalen Ebene sowie dorsale kondyla?re Frakturen berücksichtigt. Typ l beschreibt eine Fraktur des Capitulum humeri als koronare Abscherverletzung mit oder ohne Beteiligung der trochlearen Kante. Die Typ II-Fraktur ist eine Abscherfraktur, die das Capitulum und die Trochlea als ein Fragment beinhaltet. Die Typ III-Fraktur besteht aus separaten Fragmenten des Capitulums und der Trochlea. Die
3 Frakturtypen werden in Typ A oder B subklassifiziert, je nachdem ob eine dorsale Tru?mmerzone vorliegt oder nicht [10].

Therapie

Individuelle Patientinnen-/Patientenfaktoren wie Alter, Nebenerkrankungen, Beruf, funktioneller Anspruch und Erwartungen der Patientin/des Patienten sollten bei der Therapieplanung immer berücksichtigt werden.

Konservative Therapie

Die konservative Therapie ist bei nicht dislozierten Frakturen grundsätzlich möglich, birgt allerdings aufgrund der eingeschränkten Möglichkeiten einer frühfunktionellen Nachbehandlung ein hohes Risiko für erhebliche Bewegungseinschränkungen. Daten aus
2 Level-III-Studien an älteren Patientinnen und Patienten zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit eines inakzeptablen Ergebnisses bei konservativer Therapie im Gegensatz zu einer operativen Therapie um fast das Dreifache erhöht ist [3]. Zudem ist die konservative Therapie mit einem sechsfach erhöhten Risiko einer Non-union und einem vierfach erhöhten Risiko einer delayed union vergesellschaftet [1]. Daher ist die konservative Therapie derzeit Patientinnen und Patienten vorbehalten, die einer operativen Versorgung nicht zustimmen oder deren perioperatives Risikoprofil einen operativen Eingriff verbietet.

Die konservative Behandlung beinhaltet eine Ruhigstellung in Funktionsstellung in einer Oberarmgipsschiene oder Ellenbogenorthese. Abhängig vom Frakturtyp und der Stabilität sollten passive Beübungen aus der Schiene heraus zum frühestmöglichen Zeitpunkt begonnen werden, um das Risiko einer Ellenbogengelenksteife zu reduzieren. In der Regel kann nach
6 Wochen mit aktiv-assistierten bzw. aktiven Bewegungsübungen und in Abhängigkeit der Röntgenkontrollen auch der schrittweisen Wiederaufnahme leichter Alltagsbelastungen begonnen werden. Insbesondere bei älteren Patientinnen und Patienten ist die Mitbeübung der angrenzenden Gelenke durch die Physiotherapie von entscheidender Bedeutung, um Bewegungs- und Belastungseinschränkungen zu vermeiden. Bei fortgeschrittener Osteoporose oder Incompliance bezüglich der Einhaltung von Belastungseinschränkungen sollte die Ruhigstellung entsprechend länger erfolgen. Regelmäßige klinische Kontrollen haben hier eine besondere Bedeutung, um Weichteilkomplikationen durch die Ruhigstellungsmaßnahme zu vermeiden.

Operative Therapie

Die offene Reposition und interne
Fixierung entsprechend der AO-Prinzipien stellt heutzutage die Standardtherapie distaler Humerusfrakturen dar. Idealerweise erfolgt die primäre definitive operative Versorgung der Fraktur innerhalb der ersten 24 (–48) Stunden nach Trauma, um Komplikationen wie Infektionen oder heterotope Ossifikationen zu reduzieren und die Patientinnen und Patienten frühzeitig in die Beübung des Ellbogengelenks überführen zu können [11].
Offene Frakturen, schwere Weichteil-, Gefäß- oder Nervenverletzungen stellen ebenso wie ein Kompartmentsyndrom eine operative Notfallindikation dar. Sofern aufgrund von Begleitverletzungen oder kritischer Weichteilschäden keine primäre Versorgung möglich ist, sollte die Anlage eines gelenkübergreifenden Fixateur externe erfolgen, um eine temporäre Reposition und Retention zu erzielen.

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