Übersichtsarbeiten - OUP 06/2023

Frakturassoziierte Infektionen an der oberen Extremität
Was gibt es zu beachten?

Die histopathologische Untersuchung von infiziertem Gewebe, welches intraoperativ entnommen wird, gehört zum diagnostischen Standard. Mindestens eine Probe sollte aus der Frakturregion entnommen werden. Die Autorinnen und Autoren raten zudem zur Entnahme einer Probe aus dem Plattenlager und dem infizierten Weichteilgewebe. Bei der pathologischen Untersuchung selbst gelten aktuell zum einen das Vorhandensein mithilfe spezieller Färbetechniken sichtbare Mikroorganismen in tiefen Gewebeproben als entscheidendes Kriterium für die Diagnosesicherung, zum anderen wird die Anzahl der polymorphkernigen neutrophilen Granulozyten (PMNs) in einer gewissen Region sich zur Diagnostik zu Nutze gemacht. Es sollten 10 Hauptgesichtsfelder (High power fields, HPF) untersucht werden. Bei 5 oder mehr PMNs pro HPF kann von einer FRI ausgegangen werden [15].

Therapie

Interdisziplinärer Ansatz

Jegliche FRI, ob an der oberen oder unteren Extremität, sollte möglichst im interdisziplinären Austausch behandelt werden. Dies umfasst die
Beurteilung der Weichteilsituation, der lokalen Durchblutung, das Management von Grunderkrankungen wie z.B. Diabetes Mellitus, die speziellen Bedürfnisse älterer Patientinnen und Patienten, sowie die psychische Verarbeitung der Infektion und Funktionseinschränkungen, bis hin zur mehrwöchigen antibiotischen Therapie. In Anbetracht dieser Vielschichtigkeit erscheint die Einbindung verschiedener Fachdisziplinen sinnvoll. Die Einrichtung von multidisziplinären Gremien, wie beispielsweise eines „Infektionsboards“ oder eines „Extremitätenboards“, ähnlich den Tumorboards in der Onkologie, sowie regelmäßige gemeinsame interdisziplinäre Visiten stellen bewährte Maßnahmen dar, um Diagnose und Therapie im besten Interesse der Patientin/des Patienten eng und effizient abzustimmen [16]. Die Wirksamkeit einer strukturierten interdisziplinären Therapie bei FRI wurde anhand von signifikant verringerten Revisions- und Amputationsraten nachgewiesen [17].

Allgemeine Aspekte der
chirurgischen und
antibiotischen Therapie

Die Therapie einer FRI sollte grundsätzlich immer eine Kombination aus chirurgischem Eingriff und antibiotischer Behandlung umfassen. Wenn
eine FRI durch die oben genannten bestätigenden Kriterien festgestellt wird oder wenn aufgrund der angedeuteten Parameter der Verdacht auf eine FRI besteht, müssen verschiedene Fragen berücksichtigt werden, die die Therapie maßgeblich beeinflussen (Tab. 2). Ein Unterschied zwischen FRIs und periprothetischen Infektionen liegt darin, dass die eingesetzten Implantatmaterialien nur vorübergehend benötigt werden und nach
erfolgreicher Frakturheilung entfernt werden können. Dies steht im Gegensatz zur Endoprothetik, bei der es sich um dauerhafte Implantate handelt und eine Entfernung derselben nicht möglich ist. Die Akuität der FRI, also die Dauer der bestehenden Infektion nach der Fraktur findet ebenfalls Beachtung, da mit zunehmender Dauer der Infektion Bakterien reife Biofilme bilden und sich so vor Antibiotika schützen können [8]. Es gibt keine klare zeitliche Grenze zwischen akuten und chronischen Infektionen. Daher wird in der aktuellen Konsensusdefinition zwischen akuten (< 3 Wochen), verzögerten (3–10 Wochen) und chronischen Infektionen (> 10 Wochen) unterschieden [5]. Die Relevanz dieser Einteilung ist jedoch fraglich, da sich das nachgewiesene Keim- und Resistenzspektrum zwischen den einzelnen Zeiträumen nicht ändert und auch chirurgische Resultate nicht von der Infektionsdauer abhängen [2].

Weichteil- und Knochendefekte stellen eine besondere Herausforderung bei der Behandlung von FRIs dar. Eine ausreichende Weichteilabdeckung des Knochens ist entscheidend für die Heilung. Bei Unsicherheiten darüber, ob eine plastische Deckung erforderlich ist, sollte frühzeitig Expertise aus der plastisch-rekonstruktiven Chirurgie eingeholt werden, um ein individuelles Therapiekonzept für die Patientin/den Patienten zu erstellen. Knochendefekte können entweder mit einem ein- oder zweizeitigen Konzept behandelt werden. Bei einem einzeitigen Vorgehen wird der Defekt nach der Entfernung von nekrotischem Weichteil- und Knochengewebe durch
Debridement mit Autograft oder Knochenersatzmaterial, idealerweise mit Antibiotikabeimischung, aufgefüllt. Bei FRIs mit größeren Knochendefekten, auch als „critical size defects“ bezeichnet, kommen entweder die Masquelet-Technik zum Einsatz, die auf einem zweistufigen Vorgehen basiert, oder Segmenttransportverfahren mittels externer Fixateur-Systeme. Die in frühen Zeiten empfohlenen Etappen-Debridements, mit Intervallen von ca. 48 Stunden, oder Debridements bis zum Erhalt von 3 negativen Wundabstrichen, gelten mittlerweile als obsolet und sollten nicht mehr zur Anwendung kommen. Einerseits wurde gezeigt, dass wiederholte Debridements zu Keimwechseln während der chirurgischen Therapie führen [18]. Andererseits sind Wundabstriche insbesondere unter antibiotischer Therapie nicht empfindlich genug, um eine Verbesserung der Infektion anzuzeigen [14]. Daher raten wir zu einem sogenannten zielgerichteten einzeitigen Therapieansatz. Ein zweizeitiges (oder mehrzeitiges) Procedere wird nur in Fällen von komplizierenden Faktoren wie großen Knochendefekten, einem notwendigen Weichteilersatz oder Infektionen mit speziellen Bakterienstämmen verfolgt. Letztere sind sogenannte „difficult-to-treat“ Erreger (Bakterien mit Resistenz gegenüber biofilmwirksamen Antibiotika, wie z.B. Rifampicin bei Staphylokokken bzw. Chinolonen bei gram-negativen Erregern) oder aber auch Pilzinfektionen.

Infektionsverursachende Erreger sind in der Regel zunächst unbekannt. Daher sollte direkt nach der Entnahme der Gewebeproben aus der Frakturzone bei FRI eine empirische antibiotische Therapie mit Ampicillin/Sulbactam und Vancomycin begonnen werden. Ein Abwarten mit der Gabe von Antibiotika bis zum Vorliegen mikrobiologischer Ergebnisse sollte unbedingt vermieden werden [19]. Die antibiotische Therapie bei einliegenden Implantaten sollte 12 Wochen betragen, um so das Implantat – bildlich gesprochen – vor der Besiedlung mit Erregern und Biofilmbildung abzuschirmen. In dieser Zeit ist die Fraktur in der Regel verheilt. Kommt es nach Absetzen der antibiotischen Therapie zu einer erneuten Infektion, kann bei verheilter Fraktursituation, das Implantat entfernt werden.

Besonderheiten an der
oberen Extremität

Gelenkfrakturen

Bei Gelenkfrakturen, wie z.B. einer proximalen Humerusfraktur oder bei Frakturen des Ellenbogens, müssen unbedingt die angrenzenden Gelenke hinsichtlich einer begleitenden septischen Arthritis, mit evaluiert werden. Wenn dies nicht der Fall ist, dann muss entschieden werden, ob ein implantatherhaltendes Vorgehen möglich und sinnvoll ist. Das sogenannte DAIR (debridement, antibiotics, implant retention) zeichnet sich durch ein gründliches Debridement der Infektregion, die Gabe von Antibiotika (systemisch und lokal) und den Erhalt des einliegenden Implantates aus. Voraussetzung hierfür ist die Stabilität der Osteosynthese und der adäquaten Reposition und Stellung der Fraktur, die eine Heilung der Fraktur erwarten lässt. Alternativ kann ein einzeitiges Vorgehen mit Wechsel des Osteosynthesematerials erwogen werden. Hierbei muss die Frakturreposition gesichert und die Reosteosynthese entsprechend im Knochen sicher verankert werden können.

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