Übersichtsarbeiten - OUP 05/2024
Medial pivotierende KnieendoprothesenEine sinnvolle Weiterentwicklung?
Lars Victor von Engelhardt
Zusammenfassung:
Die totale Kniearthroplastik ist in der großen Mehrheit der Fälle effizient, um Schmerzen zu beseitigen und die Gelenkfunktion zu verbessern. Dennoch gibt es immer noch einen Anteil an Patientinnen und Patienten, die mit der endoprothetischen Versorgung nicht zufrieden sind. Als Ursachen werden u.a. anhaltende Schmerzen, ein eingeschränktes Bewegungsgefühl, ein unnatürliches Kniegefühl und Instabilitätsbeschwerden angegeben. Auch berichten aktive Patientinnen und Patienten von Einschränkungen bei der Ausübung von High Level-Aktivitäten. Traditionelle Designs von Totalendoprothesen des Kniegelenkes können die physiologische Kinematik des Kniegelenkes nicht vollständig reproduzieren. Sog. medial pivotierende Systeme haben das Ziel, die normale Biomechanik des Kniegelenkes nachzubilden. Innenseitig sind sie so gestaltet, dass sie einer in einem passenden hochkongruenten Sockel einliegenden Kugel ähneln. Dies sichert, ähnlich wie bei einem natürlichen, gesunden Knie, in allen Ebenen die Stabilität und erlaubt eine konstante Bandspannung an der inneren Seite. Außen sind die Implantate wenig kongruent, was die natürliche rotierende Bewegung des Kniegelenkes erlaubt. Die Kombination aus einer natürlichen, nicht kompromittierten Kniebeweglichkeit und einer hohen Stabilität reproduziert die natürliche Biomechanik des Kniegelenkes. Dies ist die Basis für eine gute Kniefunktion im Alltag und im Sport. In Deutschland finden diese Versorgungskonzepte im Vergleich zu anderen Ländern eher selten, aber mit deutlich steigender Tendenz, Anwendung. Dieser Übersichtsartikel soll einen Einblick zu diesen, in Deutschland teilweise noch nicht sehr bekannten Versorgungskonzepten geben.
Schlüsselwörter:
Knieendoprothese, medial pivotierend, ball-in-socket, Kniekinematik, sagittale Stabilität, klinisches Outcome
Zitierweise:
von Engelhardt LV: Medial pivotierende Knieendoprothesen. Eine sinnvolle Weiterentwicklung?
OUP 2024; 13: 203–209
DOI 10.53180/oup.2024.0203-0209
Summary: In the vast majority of cases total knee arthroplasty is efficient for pain relief and improving the joint function. However, there is still a subset of patients who are not satisfied with their replacement surgery. Reasons cited include persistent pain, restricted movement, an unnatural feeling of the knee and complaints of instability. Additionally, active patients sometimes report limitations in performing high-level activities. Traditional designs of total knee prostheses cannot fully replicate the physiological kinematics of the knee joint. Medial pivot systems aim to reproduce the physiological biomechanics of the knee joint. Medially, they resemble, similar to a natural and healthy knee, a ball fitting into a highly congruent socket, ensuring stability in all planes and allowing for a constant ligament tension on the medial side. Externally, these implants are less congruent, permitting the natural rotational movement of the knee joint. The combination of natural, uncompromised knee mobility and high stability is intended to reproduce a physiological biomechanic of knee joint. This is the basis for good knee function in daily activities and sports. In Germany, these treatment concepts are used relatively infrequently compared to other countries, although their use has increased significantly. This review article aims to provide insight into these concepts, which are still relatively unknown in Germany.
Keywords: Knee arthroplasty, medial pivot, ball-in-socket, knee kinematics, sagittal stability, clinical outcome
Citation: von Engelhardt LV: Medial Pivot in Knee Arthroplasty. A meaningful advancement?
OUP 2024; 13: 203–209. DOI 10.53180/oup.2024.0203-0209
Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Sportmedizin am Klinikum Peine, Akademisches Lehrkrankenhaus der Medizinischen Hochschule Hannover & Universität Witten/Herdecke
Einleitung
Die Erwartungen der Patientinnen und Patienten an die Ergebnisse einer Endoprothese des Kniegelenkes sind hoch. Dies umfasst gleichermaßen kniespezifische als auch allgemeine gesundheitliche Aspekte der Patientin/des Patienten [37]. Ein ähnliches Bild besteht auch auf Seiten der ärztlichen Kolleginnen und Kollegen. Beispielsweise erwartet, bzw. empfiehlt die Mehrheit der Chirurginnen und Chirurgen eine Rückkehr zu gelenkschonenden Sportarten bereits nach 3 Monaten, spätestens aber nach 6 Monaten. Mehr als 50 % empfehlen darüber hinaus, sofern die Patientin/der Patient die allgemeinen Voraussetzungen dazu hat und ein angemessenes Training bzw. eine Schulung sichergestellt ist, auch High Impact-Sportarten wie Fußball, Basketball, Volleyball, Squash, Handball, Skifahren etc. [70]. Auch finden sich bei den Patientinnen und Patienten, die wegen einer Knieendoprothese zu uns kommen, zunehmend sehr aktive Patientinnen und Patienten mit logischerweise hohen Erwartungen. Die Ziele für eine Rückkehr in Alltag und Sport sind somit hoch gesetzt. Auch vor diesem Hintergrund wird auf vielfältige Art und Weise nach Verbesserungen im Bereich der Knieendoprothetik gesucht. Hinsichtlich vieler Aspekte, wie bspw. Zugangstechnik und Weichteilmanagement, der Frage nach einem mechanischen oder kinematischen Alignement, dem Umgang mit der Kniescheibe und insb. zur Implantatwahl, ist die Philosophie im Kollegenkreis weltweit äußerst kontrovers. Ähnlich kontrovers sind die Studienergebnisse. Eindeutige Empfehlungen lassen sich derzeit allenfalls eingeschränkt ableiten. Letztlich basieren die Entscheidungen oft auf der Ausbildung und den individuellen Erfahrungen der Chirurginnen und Chirurgen [55].
Die große Mehrheit der Knieendoprothesen sind kreuzbanderhaltende, engl. cruciate retaining (CR) oder posterior stabilisierte (PS) Implantate. Im Vergleich zu diesen gängigen Modellen zeichnen sich medial pivotierende Kniegelenke durch eine andere Implantatphilosophie aus. Im angloamerikanischen Bereich, in der Schweiz und in Österreich wurden sie derzeit stetig weiterentwickelt und mit deutlich wachsenden Zahlen eingesetzt. Bspw. liegt der Anteil medial pivotierender Implantate in der Schweiz bereits bei 15,1 % [64]. Auch im australischen Endoprothesenregister hat der Einsatz von Prothesen mit medialem Pivot-Design seit 2013 deutlich zugenommen. Im Jahr 2022 machten Prothesen mit medialem Pivot-Design bereits 9,9 % der primären Eingriffe aus, wobei die Implantationszahlen in Australien von Jahr zu Jahr deutlich zunehmen [3]. In Deutschland sind sie hingegen nicht allzu bekannt; hier werden sie bis dato vglw. selten eingesetzt.
CR, PS und medial pivotierend
Die Designs von Knieendoprothesen und Inlays unterscheiden sich hinsichtlich Kongruenz, Kinematik und dem Ausmaß der gegebenen Stabilisierung (Abb. 1). In Deutschland erfolgten im Jahr 2022 44,5 % der Primärversorgungen mit CR-Endoprothesen [19]. Hier finden sich femoral sowohl “single radius” als auch “multi-radius”-Konzepte (Abb. 1d). Die tibiale Komponente der CR-Implantate hat eine Aussparung im hinteren, mittleren Bereich, um hier das erhaltene hintere Kreuzband zu schonen (Abb. 1a). Ein wesentliches Problem dieser, das hintere Kreuzband erhaltende Modelle ist, dass der tibiale Ansatz in der Mehrheit der Fälle einer regulären Resektion des Kreuzbandes entfernt wird. Somit gelingt der für diese Implantate wichtige Erhalt der Funktion des hinteren Kreuzbandes nicht zuverlässig. Entsprechend häufig zeigt sich eine hintere Instabilität der CR-Endoprothesen [41, 66]. Somit gleitet das Femur bei der Beugung nicht wie üblich nach hinten, sondern nach vorne. Diese unphysiologische anteriore Translation wird auch als paradoxe Bewegung bezeichnet. Nachdem das vordere, paradoxe Abgleiten während der frühen Beugung auftritt, wird dieses Phänomen auch als Midflexion-Instabilität bezeichnet [6, 15, 69]. Entsprechend der Literatur ist dies mit Schmerzen, Instabilitätsgefühlen und einem reduzierten klinischen Outcome-Score assoziiert [40, 43, 62].
An zweiter Stelle, mit 24,3 %, werden in Deutschland posterior stabilisierte (PS) Prothesen verwendet, die das hintere Kreuzband ersetzen [19]. Hier findet sich am hinteren Inlay ein Zapfen (Abb. 1b), der in einem Kasten mit Steg in der Femurkomponente (Abb. 1e) einsitzt und so die Gelenkpartner gegeneinander stabilisiert. Diese, im englischen Sprachraum als “post-cam“-Mechanismus bezeichnete Kopplung, soll während der Kniebeugung die anteriore Translation des Femurs nach vorne bzw. der Tibia nach hinten verhindern [68]. Auch wurde bei den PS-Kniegelenken ein femorales Rollback beschrieben, dass die Möglichkeit der tiefen Beugung unterstützen soll [31]. Aufgrund der hinteren Stabilisierung erlaubt dies eine vglw. tiefe Beugung [30, 36, 49]. Dies ist bei kontrakten Kniegelenken wertvoll, um im Rahmen der Operation zu einer guten Beweglichkeit zu kommen. Darüber hinaus ist auch eine eher tiefe tibiale Resektion problemlos möglich, was wiederum eine adäquate femuro-tibiale Distraktion mit einer entsprechend guten Beweglichkeit erlaubt. Unabhängig von der Diskussion zu dem vermeintlichen Erhalt des hinteren Kreuzbandes bietet das femorale Rollback der PS-Endoprothesen gegenüber CR-Endoprothesen den Vorteil, überhöhte retropatellare Stressspitzen mit etwaigen Problemen im Retropatellargelenk zu vermeiden [8, 75]. Argumente gegen PS-Endoprothesen sind der erhöhte Knochen- und Blutverlust durch die Boxpräparation sowie der erhöhte Abrieb und Schäden am Zapfen [16, 52]. So zeigte eine in-vivo-Studie anhand von Proben aus der Synovialflüssigkeit, dass die PS-Versorgungen gegenüber medial pivotierenden Implantaten signifikant vermehrt Abriebpartikel aufweisen [42]. Trotz der hinteren Stabilisierung bei den PS-Versorgungen ist anzumerken, dass sich auch hier gar nicht selten eine Instabilität des Kniegelenkes in mittleren Beugegraden findet [39, 54, 61].
Zusätzlich zu den PS- und CR-Konzepten sind noch Implantate mit mobilen, rotierenden Inlays sowie besonders stark geführte Prothesen, wie gekoppelte Designs und oder Varus-Valgus stabilisierenden Komponenten, die bspw. bei größeren Band- und Knochenschäden und/oder erheblichen Achskorrekturen verwendet werden, zu nennen [31].
Fortschritte im Verständnis der Kniebiomechanik haben zu andersartigen Ansätzen geführt, die die natürliche, dreidimensionale Kinematik gezielter nachahmen sollen. Neben Kadaverstudien, Studien im Röntgen sowie offenen Magnetresonanztomografien etc. haben v.a. die Arbeiten von Freeman und Pinskerova aus dem Jahr 2005 zu dem Verständnis beigetragen, dass sich die tibiofemorale Beugeachse während der Kniebeugung auf der äußeren Seite erheblich nach hinten verlagert, wohingegen im inneren Gelenkkompartiment der tibiofemorale Kontakt nahezu punktgenau konstant bleibt [22, 32]. Hierbei gleitet der äußere Femurkondylus während der Kniebeugung von vorne nach hinten. Er dreht er sich dabei um das Zentrum im medialen Kompartiment. Das mediale Kompartiment bleibt in seinem Drehpunkt stabil (Abb. 2b). Somit ähnelt das innere Kompartiment einem Kugelgelenk, das eine pivotierende Bewegung erlaubt [14]. Diese Kombination aus einem fix geführten Kugelgelenk innenseitig und einem sich frei vor- und zurückbewegenden Gelenk außen hat zu dem Begriff “ball-in-Socket“-Kinematik geführt.
Mit dem Ziel, die physiologische Kinematik eines gesunden Kniegelenkes nachzubilden, wurden Endoprothesen entwickelt, bei denen die mediale Seite als hochkongruentes Kugelgelenk mit einem fixen Krümmungsradius gestaltet ist (Abb. 1c, 3a–c). Dies erlaubt innenseitig eine konstante Spannung des Seitenbandkomplexes mit einer entsprechend hohen Stabilität (Abb. 2a). Die äußere Seite weist hingegen, ähnlich wie beim gesunden Knie, eine reduzierte Kongruenz auf, so dass sich diese Seite unlimitiert vor- und zurückbewegen kann (Abb. 2a) [28]. Letztlich pivotiert das Kniegelenk bei der Flexions-Extensionsbewegung um eine Achse durch den inneren Gelenkanteil, was zu dem Begriff der “medial pivotierenden“ Endoprothese geführt hat (Abb. 2b). Dieses ball-in-socket-Konzept, das im Vergleich zu anderen Endoprothesen am ehesten der physiologischen Kniegelenkskinematik entspricht, wurde im angloamerikanischen Bereich und in der Schweiz eingeführt und stetig weiterentwickelt. Diese Endoprothesen werden von wenigen Firmen mit steigender Nachfrage angeboten. Der Einkaufspreis liegt deutlich im oberen Preissegment. In Deutschland werden die Endoprothesen mit steigender Tendenz, bis dato in 4,5 % der Primärversorgungen, verwendet [19].
Kinematik, Stabilität und Outcome
Eine aktuelle Studie verglich die Kinematik bei medial pivotierender Versorgungen mit Knie-gesunden Probanden entsprechenden Alters. Die endoprothetisch versorgte Gruppe zeigte in den unterschiedlichen Beugegraden und unter Gewichtsbelastung, ebenso wie die Knie-gesunde Gruppe, keine paradoxe anteriore Translation. Innenseitig war die Stabilität sogar geringfügig höher als in der Kontrollgruppe [25]. Diese vglw. physiologische und sehr stabile Kinematik der ball-in-socket-Systeme soll bei der Kniefunktion und hinsichtlich des klinischen Outcomes Vorteile bieten. Einige Autoren erhoffen, dass hiermit die bei den häufiger verwendeten CR- und PS-Systemen beobachtete Rate zufriedener Patientinnen und Patienten von etwa 80 % gesteigert wird [65].
Viele Patientinnen und Patienten mit konventionellen Endoprothesen beklagen eine reduzierte Stabilität, einen Verlust des natürlichen Kniegefühls, sowie eine verminderte Funktion mit einem reduzierten Bewegungsumfang [48]. Hinsichtlich Stabilität und einem physiologischen Kniegefühl ist v.a. die bereits genannte Midflexionstabilität von Bedeutung. Die Instabilitäten in mittlerer Beugung führen zu Alltagsbeeinträchtigungen bspw. beim Treppab- und -aufsteigen, dem Aufstehen aus dem Sitzen aber auch dem einfachen Gehen [69]. Weitere Symptome können ein Gefühl des Wegknickens, Schmerzen, Ergüsse, Missempfindungen des Weichgewebes etc. sein [44, 50, 58]. Ganguntersuchungen zu aktuellen PS-Endoprothesen zeigen, dass die physiologische Kinematik und Stabilität nicht ausreichend erzielt wird [29]. So wurde nicht nur bei CR-Gelenken [6, 15, 20], sondern auch bei PS-Endoprothesen das Phänomen einer paradoxen Gleitbewegung nachgewiesen [2, 12, 14, 20, 26, 74]. Auch das Fehlen eines physiologischen Pivotierens um einen vglw. stabilen medialen Kontaktpunkt wurde gezeigt und als ursächlich für Beschwerden diskutiert [14, 28].
Eine geblindete, prospektiv randomisierte Studie aus dem Jahr 2023 verglich Patientinnen und Patienten mit einer PS-Versorgung (GMK PS, Medacta Int., Castel San Pietro, CH) mit einem medial pivotierden Implantat (GMK Sphere, Medacta Int., Castel San Pietro, CH). Die anteroposteriore Stabilität wurde mit den hierfür geeigneten Stressradiografien quantifiziert [33]. In mittlerer Beugung bei 45° zeigten die medial pivotierenden Implantate eine deutlich bessere Stabilität als die PS-Endoprothesen. Die messbare, höhere Stabilität korrelierte signifikant mit einem besseren Outcome-Scoring im Knee Society Score (KSS) sowie mit einer besseren Rückkehr in den Sport im Forgotten Joint-Score (FJS) [60]. Wiederum geblindete, randomisierte Studien verglichen die anteroposteriore Stabilität mit Arthrometermessungen. Hier zeigen die PS-Implantate gegenüber medial pivotierenden Versorgungen bei 30°-Beugung eine signifikant vermehrte, nahezu verdoppelte anteroposteriore Translation [13, 17]. Eine weitere, auch sehr aktuelle, vergleichende, prospektive Arthrometerstudie zeigte für medial pivotierende Implantate (Evolution, MicroPort Orthopedics Inc., Arlington, USA) gegenüber PS-Endoprothesen (Attune PS mobile-bearing, DePuy, Warsaw, Indiana, USA) nach 6 und 12 Monaten wiederum eine signifikant geringere anteriore Translation. Neben der besseren Stabilität bei einer 60°-Midflexion zeigen auch hier die klinischen Outcome-Scores im KSS- und FJS-Score, sowie die visuellen Schmerzscorings, signifikant bessere Ergebnisse der medial pivotierenden Implantate [35]. Ähnliche vergleichende Ergebnisse zum klinischen Outcome und zur a.p.-Stabilität wurden von Wautier et al. [72], Samy et al. [56] und Batra et al. [7] nachgewiesen. Wiederum ähnliche Befunde fanden sich beim Vergleich medial pivotierender Endoprothesen mit CR-Implantaten. Auch hier ist die anteroposteriore Translation der medial pivotierenden Implantate bei der 45°-Beugung signifikant kleiner als bei den CR-Implantaten [67].
Inwieweit diese kinematischen Unterschiede, wie in den vorgenannten Studien beschrieben, am Ende auch wirklich ein überlegenes klinisches Outcome nach sich ziehen, ist aber letztlich unklar. So gibt es ebenso vergleichende Untersuchungen, in denen die medial pivotierenden Kniegelenke zwar wiederum sehr gute Ergebnisse, allerdings keine signifikant besseren Ergebnisse gegenüber nichtpivotierenden Versorgungen zeigen. In diesen Studien wurden der KSS-Score, der Oxford Knee-Score (OKS) und der Western Ontario and McMaster Universities Osteoarthritis Index (WOMAC) ausgewertet [5, 9, 47, 71]. Eine interessante vergleichende Untersuchung war eine Studie, bei der > 400 Patientinnen und Patienten bilateral und zeitlich versetzt mit unterschiedlichen Endoprothesen versorgt wurden. Bei der 2-Jahres-Evaluierung wurden die Patientinnen und Patienten gefragt, welches Knie aus ihrer Sicht das Bessere sei. Beim Vergleich medial pivotierend vs. CR wurde bei 76 % der Patientinnen und Patienten das medial pivotierende Implantat als besser bewertet. 12 % sahen keinen Unterschied und 12 % empfanden das CR-Implantat als besser. Beim Vergleich zu den PS-Versorgungen wurde in 76,2 % der Fälle das medial pivotierende Implantat als besser bewertet. 14,3 % sahen keinen Unterschied und 9 % empfanden das PS-Implantat als besser [51].
Eine besondere, gelegentlich diskutierte Frage medial pivotierender Versorgungen ist, ob im Rahmen der Sicherung der natürlichen Kniekinematik das hintere Kreuzband, wenn intraoperativ sinnvoll und möglich, erhalten oder entfernt werden sollte [21]. Hierzu erfolgte aktuell eine prospektive, doppelt geblindete, randomisierte vergleichende Studie. In der Gruppe, bei der im Rahmen der medial pivotierenden Implantationen das hintere Kreuzband erhalten blieb, zeigte im Vergleich zur Resektion keine signifikanten Unterschiede. Hierbei wurden das Bewegungsausmaß, Schmerzen in der visuellen Analogskala, der OKS- und FJS-Score, sowie der Knee Injury and Osteoarthritis Outcome-Score for Symptoms und der Quality of Life-Score untersucht. Nach einem Minimum-Follow-up von 2 Jahren fanden sich in beiden Gruppen exzellente und gleichwertige Ergebnisse [10]. Ähnliche Ergebnisse zeigten weitere retrospektive, vergleichende Studien unter Erhalt bzw. Resektion des hinteren Kreuzbandes. Auch hier zeigten die Outcome-Scores wiederum keine signifikanten Unterschiede [5, 23, 73].
Gangbild
Ein anderes Thema ist das Gangbild. Vergleichende Ganguntersuchungen anhand aufwendiger radiografischer Messungen zeigen bei CR- und PS-Endprothesen gegenüber den medial pivotierenden Implantaten eine mehrfach und signifikant quantifizierbare paradoxe anteriore Translation. Die Kinematik medial pivotierender Implantate ähnelte im Unterschied zu den PS- und CR-Versorgungen am ehesten den charakteristischen Mustern eines normalen Ganges. Dies zeigte sich während des gesamten Gangzyklus. So konnten die Untersuchungen der medial pivotierenden Versorgungen bspw. das natürliche femorale roll-back bei der Kniebeugung und das ebenso physiologische mediale Pivotieren in der Transversalebene nachweisen (Abb. 2b) [24]. Ähnliche Befunde wurden sich mittels dynamischer Videofluoroskopie nachgewiesen. Auch hier zeigen medial pivotierende Implantate im Vergleich zu PS- und CR-Systemen eine höhere sagittale Stabilität bzw. reduzierte anteroposteriore Translation im inneren Kompartiment [57].
Bewegungsausmaß, Outcome-Scoring und Drehmomente
Zum Bewegungsausmaß der Implantate erfolgten eine Vielzahl an Untersuchungen. Eine aktuelle, prospektiv randomisierte Studie mit 200 Patientinnen und Patienten verglich die mittlere Beugung bei medial pivotierenden Implantaten im Vergleich zu PS-Endoprothesen nach 1 und 2 Jahren. In der Gruppe medial pivotierender Kniegelenke betrug die Beugung von 132° und in der PS-Gruppe 124°. Neben der signifikant höheren Beugung zeigten die medial pivotierenden Kniegelenke signifikant bessere Outcome-Scores [59]. Ähnliche Daten zu Beugung und Scoring im klinischen Outcome zeigte eine weitere geblindete, randomisierte Studie, die eine Versorgung mit einer PS-Endoprothese (SigmaTM PS, PFC; DePuy, Warsaw, IN) mit einer medial pivotierenden Endoprothese (Medial Rotation KneeTM, MRK; Finsbury Orthopaedics, Leatherhead, Surrey, UK) verglich [27].
Zum klinischen Outcome wurden in den letzten 2 Jahren mehrere systematische Metaanalysen, die medial pivotierende und PS-Versorgungen verglichen, veröffentlicht. In diesen Metaanalysen wurden 3592 [63], 3837 [18] und 389 Versorgungen [53] einbezogen. In allen 3 Metaanalysen zeigten die medial pivotierenden Knieversorgungen ein besseres Scoring im KSS, OKS, FJS, und WOMAC-Score [18, 63, 53]. Die postoperative Beweglichkeit war in der ersten Metaanalyse in beiden Gruppen gleich [63] und in der zweiten Studie für die medial pivotierenden Knieversorgungen signifikant besser [18]. Die dritte dieser 3 Metaanalysen enthielt eine gezielte Auswertung zur aktiven Kinematik. Hier zeigten die medial pivotierenden Implantate ein höheres maximales Drehmoment für die Beugung und Rotation, wohingegen die PS-Implantate ein höheres Drehmoment für die Streckung aufwiesen. Bzgl. der anterioren Translation waren die medial pivotierenden Versorgungen etwas stabiler als die PS-Implantate [53].
Langzeituntersuchungen
Im Jahresbericht des britischen Nationalregisters 2023 war ein medial pivotierendes Implantat nach 19 Jahren mit einer kumulativen Revisionsrate von 2,99 % auf Platz 2 der Listung der möglichst niedrigen Revisionsraten. Auch die anderen medial pivotierenden Implantate lagen bzgl. niedriger Revisionsraten im oberen Rang der Listung unterschiedlicher Implantatmodelle [46]. Studien zum Langzeit-Outcome und zum langfristigen Überleben medial pivotierender Kniegelenke zeigen wiederum positive Ergebnisse. Macheras et al. zeigten nach einer Standzeit von 17 Jahren eine kumulative Überlebensrate von 98,8 %. Das klinische Langzeit-Outcome im KSS, OKS und WOMAC-Score sowie im Short Form Fragebogen (SF-12) zeigte entsprechend exzellente bis sehr gute Ergebnisse [38].
Eine aktuelle Metaanalyse zu 1592 Kniegelenken mit einem Follow-up von 12,4 Jahren beschreibt 30 Versorgungen, die revidiert werden mussten. Somit liegt die Gesamtrevisionsrate nach 12,4 Jahren bei 1,88 % und die Gesamtüberlebensrate bei 98,2 %. Die häufigste Ursache für die Wechseloperationen waren eine späte Protheseninfektion (13 der 30 Wechsel, 0,8 %) und periprothetische Frakturen (8 der 30 Wechsel, 0,5 %). Diese Komplikationen sind nicht durch das Implantat bedingt. Die Rate von Implantatversagen in Form aseptischer Lockerungen lag hier bei 0,4 % [11]. Dies passt zu den Daten des UK-Registers. Von allen Implantationen, die hier im der Laufe aufgezeichnet wurden, waren die aseptischen Lockerungen der tibialen Komponente im Vergleich zu den anderen Systemen signifikant seltener (p<0,001) [45]. Eine weitere, ebenso aktuelle Metaanalyse zu medial pivotierenden Kniegelenken schloss 3377 Versorgungen ein. Hier lag die Gesamtrevisionsrate nach 10 Jahren bei 1,9 % (51 von 3377 Implantationen). Wiederum fanden sich sehr gute Langzeitergebnisse für die Beweglichkeit und für den KSS-Score [1].
Interessant ist in diesem Zusammenhang eine 9-Jahres Langzeituntersuchung, bei der medial pivotierende Kniegelenke mit der üblichen Zementierung mit entsprechenden zementfreien Versorgungen mit schwammartigen, porösen Titanbeschichtungen (z.B. METAGRIP) verglichen wurden. Die Verankerungsflächen zeigen hier eine Oberfläche, die dem trabekulären Knochen sehr ähnlich ist und somit neben einer hohen Primärstabilität die Osteointegration sicherstellt (Abb. 3d) [34]. Beide Gruppen medial pivotierender Versorgungen zeigten nach 9 Jahren kein Implantatversagen und keine revisionspflichtigen Komplikationen. Somit lag das Langzeitüberleben nach 9 Jahren jeweils bei 100 %. Auch radiologisch fanden sich keine Zeichen einer beginnenden Lockerung. Die Outcome-Scores im WOMAC, SF-12 und OKS-Score zeigten sehr gute Ergebnisse [34].
Schlussfolgerung
Verglichen mit den konventionellen Designs gewährleisten medial pivotierende Endoprothesen eine vglw. natürliche Kinematik des Kniegelenkes. Dabei sichert der ball-in-socket-Mechanismus die Stabilität an der inneren Seite und gleichzeitig die natürliche pivotierende Bewegung außenseitig. Neben der physiologischen Rotationsmöglichkeit erzielen diese Implantate eine sehr gute anteroposteriore Stabilität. Dies wirkt der unphysiologischen paradoxen anterioren Translation effektiv entgegen. Die Kombination aus einer natürlichen, nicht kompromittierten Kniebeweglichkeit und einer hohen Stabilität bieten gute Voraussetzungen für eine hochwertige Kniefunktion. Entsprechend positiv sind die Studien- und Registerdaten zu medial pivotierenden Versorgungen. Dies lässt vermuten, dass medial pivotierende Konzepte ein guter Schritt in der Weiterentwicklung der Endoprothetik darstellen. Es ist erfreulich, dass neben den im Bereich der medial pivotierenden Endoprothetik etablierten Hersteller auch andere Marken entsprechende Konzepte aufnehmen. Allerdings sind in Deutschland entsprechende Versorgungen im Vergleich zu anderen Ländern selten zu finden.
Interessenkonflikte:
Aufwandsentschädigungen für Vorträge, Einsätze als Instruktor bei Operationskursen, Hospitationskursen, dem fachlichen Austausch und Beratungen von den Firmen Corin, Microport, Fx Solutions und Arthrex.
Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf:
www.online-oup.de.
Korrespondierender Autor
Prof. Dr. med.
Lars Victor von Engelhardt
Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Sportmedizin am Klinikum Peine
Akademisches Lehrkrankenhaus der Medizinischen Hochschule Hannover
Virchowstr. 8h
31226 Peine
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