Übersichtsarbeiten - OUP 05/2024

Medial pivotierende Knieendoprothesen
Eine sinnvolle Weiterentwicklung?

Die Designs von Knieendoprothesen und Inlays unterscheiden sich hinsichtlich Kongruenz, Kinematik und dem Ausmaß der gegebenen Stabilisierung (Abb. 1). In Deutschland erfolgten im Jahr 2022 44,5 % der Primärversorgungen mit CR-Endoprothesen [19]. Hier finden sich femoral sowohl “single radius” als auch “multi-radius”-Konzepte (Abb. 1d). Die tibiale Komponente der CR-Implantate hat eine Aussparung im hinteren, mittleren Bereich, um hier das erhaltene hintere Kreuzband zu schonen (Abb. 1a). Ein wesentliches Problem dieser, das hintere Kreuzband erhaltende Modelle ist, dass der tibiale Ansatz in der Mehrheit der Fälle einer regulären Resektion des Kreuzbandes entfernt wird. Somit gelingt der für diese Implantate wichtige Erhalt der Funktion des hinteren Kreuzbandes nicht zuverlässig. Entsprechend häufig zeigt sich eine hintere Instabilität der CR-Endoprothesen [41, 66]. Somit gleitet das Femur bei der Beugung nicht wie üblich nach hinten, sondern nach vorne. Diese unphysiologische anteriore Translation wird auch als paradoxe Bewegung bezeichnet. Nachdem das vordere, paradoxe Abgleiten während der frühen Beugung auftritt, wird dieses Phänomen auch als Midflexion-Instabilität bezeichnet [6, 15, 69]. Entsprechend der Literatur ist dies mit Schmerzen, Instabilitätsgefühlen und einem reduzierten klinischen Outcome-Score assoziiert [40, 43, 62].

An zweiter Stelle, mit 24,3 %, werden in Deutschland posterior stabilisierte (PS) Prothesen verwendet, die das hintere Kreuzband ersetzen [19]. Hier findet sich am hinteren Inlay ein Zapfen (Abb. 1b), der in einem Kasten mit Steg in der Femurkomponente (Abb. 1e) einsitzt und so die Gelenkpartner gegeneinander stabilisiert. Diese, im englischen Sprachraum als “post-cam“-Mechanismus bezeichnete Kopplung, soll während der Kniebeugung die anteriore Translation des Femurs nach vorne bzw. der Tibia nach hinten verhindern [68]. Auch wurde bei den PS-Kniegelenken ein femorales Rollback beschrieben, dass die Möglichkeit der tiefen Beugung unterstützen soll [31]. Aufgrund der hinteren Stabilisierung erlaubt dies eine vglw. tiefe Beugung [30, 36, 49]. Dies ist bei kontrakten Kniegelenken wertvoll, um im Rahmen der Operation zu einer guten Beweglichkeit zu kommen. Darüber hinaus ist auch eine eher tiefe tibiale Resektion problemlos möglich, was wiederum eine adäquate femuro-tibiale Distraktion mit einer entsprechend guten Beweglichkeit erlaubt. Unabhängig von der Diskussion zu dem vermeintlichen Erhalt des hinteren Kreuzbandes bietet das femorale Rollback der PS-Endoprothesen gegenüber CR-Endoprothesen den Vorteil, überhöhte retropatellare Stressspitzen mit etwaigen Problemen im Retropatellargelenk zu vermeiden [8, 75]. Argumente gegen PS-Endoprothesen sind der erhöhte Knochen- und Blutverlust durch die Boxpräparation sowie der erhöhte Abrieb und Schäden am Zapfen [16, 52]. So zeigte eine in-vivo-Studie anhand von Proben aus der Synovialflüssigkeit, dass die PS-Versorgungen gegenüber medial pivotierenden Implantaten signifikant vermehrt Abriebpartikel aufweisen [42]. Trotz der hinteren Stabilisierung bei den PS-Versorgungen ist anzumerken, dass sich auch hier gar nicht selten eine Instabilität des Kniegelenkes in mittleren Beugegraden findet [39, 54, 61].

Zusätzlich zu den PS- und CR-Konzepten sind noch Implantate mit mobilen, rotierenden Inlays sowie besonders stark geführte Prothesen, wie gekoppelte Designs und oder Varus-Valgus stabilisierenden Komponenten, die bspw. bei größeren Band- und Knochenschäden und/oder erheblichen Achskorrekturen verwendet werden, zu nennen [31].

Fortschritte im Verständnis der Kniebiomechanik haben zu andersartigen Ansätzen geführt, die die natürliche, dreidimensionale Kinematik gezielter nachahmen sollen. Neben Kadaverstudien, Studien im Röntgen sowie offenen Magnetresonanztomografien etc. haben v.a. die Arbeiten von Freeman und Pinskerova aus dem Jahr 2005 zu dem Verständnis beigetragen, dass sich die tibiofemorale Beugeachse während der Kniebeugung auf der äußeren Seite erheblich nach hinten verlagert, wohingegen im inneren Gelenkkompartiment der tibiofemorale Kontakt nahezu punktgenau konstant bleibt [22, 32]. Hierbei gleitet der äußere Femurkondylus während der Kniebeugung von vorne nach hinten. Er dreht er sich dabei um das Zentrum im medialen Kompartiment. Das mediale Kompartiment bleibt in seinem Drehpunkt stabil (Abb. 2b). Somit ähnelt das innere Kompartiment einem Kugelgelenk, das eine pivotierende Bewegung erlaubt [14]. Diese Kombination aus einem fix geführten Kugelgelenk innenseitig und einem sich frei vor- und zurückbewegenden Gelenk außen hat zu dem Begriff “ball-in-Socket“-Kinematik geführt.

Mit dem Ziel, die physiologische Kinematik eines gesunden Kniegelenkes nachzubilden, wurden Endoprothesen entwickelt, bei denen die mediale Seite als hochkongruentes Kugelgelenk mit einem fixen Krümmungsradius gestaltet ist (Abb. 1c, 3a–c). Dies erlaubt innenseitig eine konstante Spannung des Seitenbandkomplexes mit einer entsprechend hohen Stabilität (Abb. 2a). Die äußere Seite weist hingegen, ähnlich wie beim gesunden Knie, eine reduzierte Kongruenz auf, so dass sich diese Seite unlimitiert vor- und zurückbewegen kann (Abb. 2a) [28]. Letztlich pivotiert das Kniegelenk bei der Flexions-Extensionsbewegung um eine Achse durch den inneren Gelenkanteil, was zu dem Begriff der “medial pivotierenden“ Endoprothese geführt hat (Abb. 2b). Dieses ball-in-socket-Konzept, das im Vergleich zu anderen Endoprothesen am ehesten der physiologischen Kniegelenkskinematik entspricht, wurde im angloamerikanischen Bereich und in der Schweiz eingeführt und stetig weiterentwickelt. Diese Endoprothesen werden von wenigen Firmen mit steigender Nachfrage angeboten. Der Einkaufspreis liegt deutlich im oberen Preissegment. In Deutschland werden die Endoprothesen mit steigender Tendenz, bis dato in 4,5 % der Primärversorgungen, verwendet [19].

Kinematik, Stabilität und Outcome

Eine aktuelle Studie verglich die Kinematik bei medial pivotierender Versorgungen mit Knie-gesunden Probanden entsprechenden Alters. Die endoprothetisch versorgte Gruppe zeigte in den unterschiedlichen Beugegraden und unter Gewichtsbelastung, ebenso wie die Knie-gesunde Gruppe, keine paradoxe anteriore Translation. Innenseitig war die Stabilität sogar geringfügig höher als in der Kontrollgruppe [25]. Diese vglw. physiologische und sehr stabile Kinematik der ball-in-socket-Systeme soll bei der Kniefunktion und hinsichtlich des klinischen Outcomes Vorteile bieten. Einige Autoren erhoffen, dass hiermit die bei den häufiger verwendeten CR- und PS-Systemen beobachtete Rate zufriedener Patientinnen und Patienten von etwa 80 % gesteigert wird [65].

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