Übersichtsarbeiten - OUP 04/2019
Pilon-tibiale-Frakturen – Wann welche Platte?Übersicht über aktuelle Behandlungsstrategien zur Optimierung operativer Ergebnisse
Matthias Ivo, Markus Rupp, Christoph Biehl, Stephan Oberück, Christian Heiß
Zusammenfassung:
Frakturen der distalen Tibia mit Gelenkbeteiligung (Pilon tibiale) stellen für den Operateur
eine sehr große Herausforderung dar. Aufgrund der geringen Fallzahlen dieses Frakturtyps und der
häufigen Vergesellschaftung mit einem Weichteilschaden sowie additiven Verletzungen der
Extremitäten oder des Körperstammes erschweren Pilon-tibiale-Frakturen das Erreichen eines
optimalen Therapieerfolgs. Zudem erfordert die Vielzahl der Behandlungsstrategien die Kenntnis derselben, um den korrekten Behandlungsplan für den individuellen Patienten zu erstellen.
Diese Arbeit soll dem Leser eine Übersicht über den aktuellen Stand der Forschung zu aktuellen Behandlungsstrategien der Pilon-tibiale-Fraktur geben und ihm helfen, die Vor- und Nachteile
verschiedener Versorgungsarten zu verstehen und miteinander zu vergleichen.
Schlüsselwörter:
Pilonfrakturen, Pilon tibiale, distale Tibia, Frakturversorgung, Sprunggelenksfrakturen
Zitierweise:
Ivo M, Rupp M, Biehl C, Oberück S, Heiß C: Pilon-tibiale-Frakturen – Wann welche Platte? Übersicht über aktuelle Behandlungsstrategien zur Optimierung operativer Ergebnisse. OUP 2019; 8: 199–205
DOI 10.3238/oup.2019.0199–0205
Summary: Fractures of tibial pilon are still a great challenge for the treating surgeon. Small number of patients, concomitant injuries as well as soft tissue damage impede surgical treatment. Knowledge of existing different treatment strategies is a prerequisite to offer the best possible treatment to the patients. This report should provide an overview of the current state of scientific knowledge and treatment modalities.
Keywords: pilon fractures, tibial plafond, distal tibia, surgical treatment, ankle fracture
Citation: Ivo M, Rupp M, Biehl C, Oberück S, Heiß C: Tibial pilon fractures – When to use which plate? An overview of the treatment strategies to optimize surgical outcome. OUP 2019; 8: 199–205
DOI 10.3238/oup.2019.0199–0205
Für alle Autoren: Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH, Standort Gießen
Verletzung und Verletzungsmechanismus
Frakturen des Pilon machen nur ca. 1 % aller Frakturen der unteren Extremität aus [5] und werden damit selbst an Kliniken mit hoher Fallzahl nur selten gesehen und behandelt. Neben Niedrigenergietraumen wie bei Skiunfällen sind Hochenergietraumen mit axialem Traumamechanismus die häufigste Ursache [10]. Die Verletzungen sind zu ca. 25–50 % offene Frakturen mit Weichteilschaden. In 85 % der Fälle besteht eine Mitbeteiligung der distalen Fibula. Dies ist insbesondere bei den komplexen C-Frakturen der Fall.
Die besondere Schwierigkeit der Pilonfrakturen liegt in der obligaten Gelenkbeteiligung der Gelenkfläche der distalen Tibia im Bereich der Belastungszone, dem metaphysären Knochenverlust und schwerer Weichteilimpaktierung bei dünnem Hautmantel. Hinzukommen häufig weitere Verletzungen bei polytraumatisierten Patienten, sodass eine frühe Rehabilitation oft erschwert wird. Somit ist eine bestmögliche Wiederherstellung der anatomischen Verhältnisse der Gelenkfläche und der Weichteile umso wichtiger.
Bildgebung und Klassifikation
Für ein ideales Operationsergebnis ist eine genaue präoperative Planung unerlässlich.
Anatomie des Pilon
Die Gelenkfläche der distalen Tibia bildet das Dach (franz. Plafont) des oberen Sprunggelenks und wird medial vom Innenknöchel und lateral von der Incisura fibularis begrenzt. Sie hat im Gegensatz zur im Querschnitt 3-eckigen Diaphyse die Form eines unregelmäßigen Vierecks. Dieses ist ventral breiter als dorsal und lateral tiefer als medial. Die Gelenkfläche beträgt durchschnittlich 920 mm2 und ist um 15–20° gegenüber der Horizontalen nach dorsal geneigt [2].
Klassifikation der Fraktur
Neben der initialen Projektionsradiografie erfordern die komplexen und intraartikulären Pilonfrakturen immer auch eine CT-radiografische Darstellung (2D und 3D), um die Planung des operativen Vorgehens und ein Verständnis für den Aufbau der Fraktur zu ermöglichen. Zudem kann die Fraktur auf diesem Wege korrekt klassifiziert und bestimmt werden.
Im klinischen Alltag erfolgt die Einteilung der Fraktur im deutschsprachigen Raum zumeist nach 2 gängigen Klassifikationen: Die Rüedi/Allgöwer-Klassifikation ist eine eher deskriptive Einteilung, welche die Weichteilverhältnisse miteinbezieht [20]. Sie unterteilt die Frakturen der distalen Tibia in 3 Gruppen [20]:
Typ 1: un- oder geringdislozierte Frakturen
Typ 2: dislozierte Frakturen ohne Zertrümmerung
Typ 3:
dislozierte Frakturen mit Zertrümmerung und Weichteilschädigung
Eine genauere Einteilung ermöglicht die AO-Klassifkation [15]:
43 A 1–3: rein metaphysäre, extraartikuläre Verletzungen, daher definitionsgemäß keine Pilonfrakturen
43 B1: reine intraartikuläre Spaltung ohne Impression
43 B2: intraartikuläre Spaltung mit Impression der Gelenkfläche
43 B3: mehrfragmentäre Impression
43 C1: artikulär und metaphysär einfache Fraktur
43 C2: artikulär einfache und metaphysär mehrfragmentäre Fraktur
43 C3: mehrfragmentäre Fraktur (Trümmerfraktur)
Pilon-fracture-map
Die bekannten Klassifikationen geben jedoch keine Informationen über den intraartikulären Verlauf der Frakturen (Abb. 1). Wie Cole et al. zeigen konnten, ist dieser Verlauf immer nach dem gleichen Muster aufgebaut [7]. Die Auswertung von 38 CT-Datensätzen von Patienten mit Pilon-tibiale-Frakturen, bestehend aus B- und C-Frakturen zeigte, dass bei der Pilonfraktur zwischen Major- und Minor-Frakturlinien unterschieden werden kann. Bei allen Datensätzen zogen Frakturen von der Incisura fibularis in das Pilon ein und strahlten y-förmig nach ventral und dorsal aus (Major-Linien). Zusätzlich kann es zu variablen weiteren Frakturlinien mit multiplen Fragmenten kommen (Minor-Linien) (Abb. 1).
Äußere Faktoren
Neben der genauen Darstellung der Fraktur und deren Verlauf sollten noch weitere Faktoren präoperativ beachtet werden. Ein besonderes Augenmerk sollte hierbei auf der Weichteilsituation bzw. dem Weichteilschaden liegen. Aufgrund der Schwellneigung im Operationsgebiet sowie dem Risiko eines Kompartments oder auch bei offenen Frakturen sollte die Operationsfähigkeit kritisch hinterfragt und ggf. auf eine Plattenosteosynthese verzichtet werden [18]. Selbst bei guten Weichteilverhältnissen muss für ein optimales Setting gesorgt werden, da das Risiko für Wundheilungsstörungen und Infektionen ausgesprochen hoch ist. McCann et al. konnten eine Infektionsrate von 14,3 % bei offener Reposition feststellen [14]. Als wichtigste Risikofaktoren für Komplikationen bei insgesamt 519 nachuntersuchten Patienten stellten Ren et al. eine Blutglukose > 125 mg/dl zum Operationszeitpunkt und eine Operationszeit von > 150 min fest [19].