Übersichtsarbeiten - OUP 04/2016
Strahlenschutz bei C-Bogen-gestützten Wirbelsäulenprozeduren in Orthopädie und Unfallchirurgie
Bei vielen der v.a. von Nichtradiologen durchgeführten MIODL-Prozeduren können hohe Strahlendosen an Patient und medizinisches Personal abgegeben werden, sodass sofortige oder langfristig radiogene Effekte verursacht werden können. Gerade diesbezüglich haben Berichte über strahlungsbedingte Hautschädigungen seit den frühen 90er Jahren zugenommen [9]. Der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) werden immer wieder Fälle berichtet, in denen unter Nichteinhaltung dieser Voraussetzungen sehr hohe Strahlendosen an Patienten und Personal appliziert werden; in einigen interventionellen Prozeduren kommen Hauteintrittsdosen (HED) von Patienten in die Nähe von Werten, welche aus der Strahlentherapie bzw. Onkoradiologie bekannt sind [10]. Auch Strahlenschäden bei Ärzten und Hilfspersonal wurden vereinzelt beobachtet. Neben den strahlenbedingten Hautschäden ist jedoch hierbei v.a. bei jüngeren Patienten eine eventuelle Induktion zukünftiger Tumore immer als Problem vergesellschaftet, welches erst nach Jahren der Latenzzeit offenkundig wird.
In Deutschland wird der Umgang mit Strahlenquellen in der Röntgenverordnung (RöV) geregelt, und dort werden auch auf Basis der Daten spezieller Fachgremien, wie z.B. der ICRP, Grenzwerte und Richtlinien festgelegt, inwieweit eine berufliche Exposition stattfinden kann [11]. Diese wurden mehrfach novelliert und erlaubte Dosisgrenzwerte immer weiter abgesenkt. Diese gegenläufige Entwicklung von Zunahme der dosisintensiven Untersuchungsmethoden und gleichzeitig verordneter Reduzierung für beruflich strahlenexponierte Personen stellt eine hohe Herausforderung für den Strahlenschutz in der Medizin dar.
Dieser Artikel soll exponierte Mitarbeiter hinsichtlich der Wichtigkeit der Verminderung der Strahlungsexposition sensibilisieren und aufzeigen, wie das Strahlenrisiko von Personal und Patient bei der MIODL in O & U einzuschätzen ist und wie dieses unter Verwendung von Hilfsmitteln und konsequenter Umsetzung grundsätzlicher und spezifischer Handlungsanweisungen minimiert bzw. verhindert werden kann.
Biologische Wirkung
ionisierender Strahlung
Ziel der Grenzwertvorgaben von RöV und ICRP ist es, Strahlenschäden zu vermeiden, welche in sog. stochastische, also zufällige, und deterministische Effekte differenziert werden [12]. Während die Letztere ganz eindeutig strahlungsenergetische Schwellendosen in Abhängigkeit von der betroffenen Zellart aufweisen (Minimum ca. 1 Gy) und die Schwere der Erkrankung dosisabhängig ist, geht man im Strahlenschutz davon aus, dass die stochastischen Effekte keine Schwellendosen aufweisen und dass die Anzahl der betroffenen Personen mit progedienter Strahlendosis zunimmt. Bei der Einschätzung dieser Effekte ist es wichtig, zwischen der Energiedosis (Gy), der reinen durch die Strahlung auf Materie übertragene Energie und der biologisch relevanten Äquivalentdosis (Sv) für den gesamten Körper (= Effektivdosis; ED) und die einzelnen Organe (= Organdosis; OD) zu unterscheiden, welchen ein spezifischer biologischer Wichtungsfaktor zur Energiedosis hinzugerechnet wird. Die ED wird im medizinischen Röntgen methoden- und prozedurenabhängig zwischen 10 ?Sv und 20 mSv angegeben [3], dabei können bei interventionellen Prozeduren, die mit Röntgen- oder CT-Fluoroskopie unterstützt werden, fokal akute Dosen an Patienten von 0,1–30 Gy auftreten [9].
Die Schwellendosen bezüglich deterministischer Schäden sind für die meisten Organe und Gewebe relativ hoch (mehrere Gy), sodass für interventionell radiologische bzw. MIODL-Prozeduren „nur“ akute Hautreaktionen wie das Erythem und die Epilation von Bedeutung sind, welche eine kutane Dosisabsorption von ca. 2 Gy benötigen [13, 14]. Mettler et al. [9] geben in ihrem Review strahlungsbedingte Hautschäden und Augenverletzungen in Kurz- und Langzeiteffekten abhängig von der in die Hautoberfläche eindringenden Dosis (HED) an. Diese fokalen dosisabhängigen Verletzungen (Tab. 1) wurden früher häufiger, aktuell nur noch vereinzelt v.a. für fluoroskopische Verfahren, wie in der interventionellen Kardiologie, bei neuro-interventionellen Verfahren und bei TIPS-Anlagen (transjugulärer intrahepatischer portosystemischer Shunt) berichtet.
Neben den strahlenbedingten deterministischen Akutschäden ist jedoch die mögliche Induktion zukünftiger Tumoren (erhöhtes Krebsrisiko) immer als Problem vergesellschaftet [3]. Dabei ist die strahleninduzierte Neoplasie die schwerwiegendste Komplikation. Die bis dato jedoch einzige Möglichkeit, das Ausmaß solcher stochastischer Effekte nach Strahlenexposition quantitativ zu erfassen, besteht im Bereich mittlerer Strahlendosen (100 mSv bis ca. 5 Sv) darin, epidemiologische Vergleiche durchzuführen. Das funktioniert jedoch nicht im medizinisch interessanten Bereich niedriger Strahlendosen. Es ist daher bis heute nicht möglich, unterhalb von ca. 100 mSv für den Erwachsenen bzw. unter 10 mSv für den Fetus quantitative Angaben zum strahleninduzierten Neoplasierisiko zu machen [15]. Es gibt keinen bekannten Grenzwert, unter dem keine Tumorinduktion stattfinden kann, obwohl bei Dosen < 0,05 Gy das Risiko so gering ist, dass bisher durch sehr große epidemiologische Studien kein statistisch signifikantes neues Tumorauftreten nachgewiesen werden konnte. Das Risiko aller soliden Tumoren steigt linear mit der Strahlendosis, vom Niedrigdosisbereich (5–100 mSv) bis auf ca. 2,5 Sv. Kinder sind viel strahlensensibler als Erwachsene. Die Strahlung scheint im Hautbereich Plattenepithel- und Basalzellkarzinome, aber keine Melanome zu verursachen (Tab. 1). Die meisten Tumoren zeigen eine kontinuierliche Abnahme in der Radiosensitivität mit zunehmendem Alter (Ausnahme: Lungenkarzinom). Bei Erwachsenen liegt das Tumorrisiko für den angegebenen Bereich von Röntgen- und CT-Fluoroskopie vergleichsweise zwischen < 1 Mio und ca. 1/1000!
Bei den gängigen radiografischen Untersuchungen weist die durchschnittliche ED eine Variation um den Faktor 1000 auf (0,01–10 mSv). Verglichen mit konventionellen Röntgenaufnahmen stellen fluoroskopische und CT-Untersuchungen für die Patienten eine 10–30-fach höhere Strahlenexposition dar. Die Anwendung der ED auf einen Referenzpatienten wird daher immer noch mit einer Unsicherheit von ± 40 % bewertet [16]. Aktuelle Studien, meist modellbasiert, zeigen auf, dass dem Kliniker die Abschätzung von Nutzen und Risiko im Einzelfall kaum möglich ist und das Morbiditäts- bzw. Mortalitätsrisiko durch ionisierende Strahlung v.a. in CT und Röntgen-DL sehr stark unterschätzt wird. Weil diese Spätkomplikation meist erst Jahre nach der Anwendung eintritt (mittlere Latenzperiode 10–25 Jahre), wird deren Risiko im klinischen Alltag gerne unzulässig vernachlässigt.