Übersichtsarbeiten - OUP 01/2025
SchultergelenksinstabilitätVon der Diagnose bis zur Therapie
Milad Farkhondeh Fal, Jörn Kircher
Zusammenfassung:
Die Instabilität des Schultergelenks ist eine häufige Ursache für Schmerzen und funktionelle Einschränkungen, die zu wiederkehrenden Luxationen und Subluxationen führen können. Sie entsteht durch eine Störung des komplexen Systems von statischen und dynamischen Stabilisatoren des Schultergelenks, zu denen die Kapsel, die Bänder, der Glenoid-Labrum-Komplex sowie die Rotatorenmanschette und die scapulothorakale Muskulatur gehören. Jede Funktionsstörung dieser Strukturen kann zu einer Instabilität des Gelenks führen. Die Diagnose erfolgt in erster Linie durch eine ausführliche Anamnese, eine präzise klinische Untersuchung und den Einsatz von bildgebenden Verfahren wie Röntgenaufnahmen, MRT und CT, um strukturelle Schäden wie Labrumläsionen oder Frakturen zu identifizieren.
Es gibt verschiedene Klassifikationssysteme für Schulterinstabilitäten, die häufigsten sind das FEDS-System und das TUBS/AMBRI-System. Diese Systeme kategorisieren Instabilitäten nach der Häufigkeit und Art der Luxation, der Ätiologie (traumatisch oder atraumatisch) sowie der Richtung und Schwere der Instabilität. In der klinischen Praxis spielt die Klassifikation eine zentrale Rolle, um die geeignete Therapieform zu bestimmen.
Eine potenzielle Behandlung der Schulterinstabilität ist konservativ. Hierzu gehört eine frühzeitige physiotherapeutische Behandlung, die auf die Schmerzlinderung, die Wiederherstellung der Beweglichkeit und die Stärkung der stabilisierenden Muskulatur abzielt. Besonders wichtig ist die Aktivierung der Rotatorenmanschette und der scapulothorakalen Muskulatur, um das Gelenk zu stabilisieren und weiteren Verletzungen vorzubeugen. Eine konservative Therapie kann in vielen Fällen auch bei Patientinnen und Patienten mit multidirektionaler Instabilität (MDI) erfolgreich sein und das Risiko für erneute Luxationen verringern. Eine längere Rehabilitation und konsequente Mitarbeit der Patientin/des Patienten sind jedoch notwendig, um langfristige Erfolge zu erzielen.
In Fällen, in denen die konservative Behandlung nicht ausreicht oder wiederkehrende Luxationen auftreten, ist eine operative Therapie erforderlich. Die häufigste Operationsmethode ist die Kapsel-Labrum-Rekonstruktion, bei der das Labrum an den Glenoidrand refixiert wird. Weitere Verfahren wie die Kapselraffung oder der Einsatz von Fadenankern zur Stabilisierung der Gelenkstrukturen werden ebenfalls durchgeführt. In einigen Fällen, insb. bei älteren Patientinnen und Patienten oder Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittener Arthrose, kann eine Schulterprothese notwendig werden.
Die Ergebnisse der konservativen Therapie sind in der Regel gut, besonders bei Patientinnen und Patienten ohne signifikante strukturelle Schäden. Allerdings können langfristig wiederholte Luxationen oder unzureichend behandelte Instabilitäten zu einer Gelenkarthrose führen, die die Funktionsfähigkeit des Schultergelenks erheblich beeinträchtigt.
Bei operativen Eingriffen ist die Prognose sehr gut, jedoch variiert der Erfolg je nach Ausmaß der Schäden und der Qualität der Rehabilitation.
Zusammenfassend ist die Behandlung der Schulterinstabilität ein komplexer Prozess, der eine genaue Diagnostik und eine individuell angepasste Therapie erfordert. Konservative Therapien können in vielen Fällen eine ausreichende Stabilisierung bieten, doch für Patientinnen und Patienten mit strukturellen Schäden oder wiederkehrenden Luxationen sind chirurgische Maßnahmen oft unerlässlich. Eine sorgfältige Nachbehandlung und Rehabilitation sind entscheidend für den langfristigen Erfolg und die Wiederherstellung der Funktionalität des Schultergelenks.
Schlüsselwörter:
Schulterinstabilität, Schulter, Anatomie, Arthroskopie, Latarjet
Zitierweise:
Farkhondeh Fal M, Kircher J: Schultergelenksinstabilität. Von der Diagnose bis zur Therapie
OUP 2025; 14: 25?32
DOI 10.53180/oup.2025.0025-0032
Summary: Shoulder joint instability is a common cause of pain and functional limitations, which can lead to recurrent dislocations and subluxations. It arises from a disruption in the complex system of static and dynamic stabilizers of the shoulder joint, including the capsule, ligaments, the glenoid-labrum complex, as well as the rotator cuff and scapulothoracic muscles. Any dysfunction of these structures can lead to joint instability. Diagnosis primarily involves a detailed medical history, a precise clinical examination, and imaging techniques like X-rays, MRI, and CT to identify structural damage such as labral tears or fractures.
There are several classification systems for shoulder instability, with the most common being the FEDS system and the TUBS/AMBRI system. These systems categorize instabilities based on the frequency and type of dislocation, the etiology (traumatic or atraumatic), as well as the direction and severity of the instability. In clinical practice, classification plays a central role in determining the appropriate treatment approach.
A potential treatment for shoulder instability is conservative. This includes early physiotherapy aimed at pain relief, restoring mobility, and strengthening stabilizing muscles. Particularly important is the activation of the rotator cuff and scapulothoracic muscles to stabilize the joint and prevent further injuries. Conservative therapy can often be successful, even in patients with multidirectional instability (MDI), reducing the risk of recurrent dislocations. However, longer rehabilitation and the patient’s consistent involvement are necessary for long-term success.
In cases where conservative treatment is insufficient or recurrent dislocations occur, surgical therapy is required. The most common surgical method is capsule-labrum refixation, where the labrum is reattached to the glenoid rim. Additional procedures like capsular shift or the use of suture anchors to stabilize the joint structures are also performed. In some cases, especially in older patients or those with advanced arthritis, a shoulder prosthesis may be necessary.
The outcomes of conservative therapy are generally good, particularly in patients without significant structural damage. However, repeated dislocations or inadequately treated instability can lead to osteoarthritis, which significantly impairs the shoulder joint’s functionality in the long term.
For surgical interventions, the prognosis is very good, but the success varies depending on the extent of the damage and the quality of rehabilitation.
In conclusion, the treatment of shoulder instability is a complex process that requires accurate diagnosis and an individualized therapy approach. Conservative therapies can provide sufficient stabilization in many cases, but for patients with structural damage or recurrent dislocations, surgical interventions are often essential. Careful post-operative care and rehabilitation are critical for long-term success and the restoration of shoulder joint functionality.
Keywords: Shoulder instability, shoulder, anatomy, arthroscopy, latarjet
Citation: Farkhondeh Fal M, Kircher J: Shoulder joint instability. From diagnosis to treatment
OUP 2025; 14: 25?32. DOI 10.53180/oup.2025.0025-0032
M. Farkhondeh Fal: Orthopädiezentrum Hamburg & Schön Klinik Hamburg Eilbek, Allgemeine Orthopädie
J. Kircher: Schön Klinik Hamburg Eilbek, Allgemeine Orthopädie & ATOS Klinik Fleetinsel, Schulter und Ellenbogenchirurgie
Einleitung
Die Schulter ist ein bemerkenswert flexibles Gelenk, das eine Vielzahl komplexer Bewegungen ermöglicht. Diese Beweglichkeit bringt jedoch eine natürliche Instabilität mit sich, die das Gelenk für Verletzungen anfällig macht. Schulterinstabilitäten reichen von einfachen Subluxationen bis hin zu vollständigen Luxationen und können sowohl akute als auch chronische Folgen haben. Ein tiefes Verständnis der anatomischen, pathologischen und funktionellen Grundlagen ist für die Diagnose und Therapie dieser Zustände entscheidend.
Pathophysiologie und Anatomie
Die Schulterstabilität wird durch eine komplexe Interaktion zwischen statischen und dynamischen Stabilisatoren gewährleistet. Die statischen Stabilisatoren umfassen:
Glenoid-Labrum-Komplex: Das Labrum ist ein ringförmiger faserknorpeliger Puffer, der die Tiefe und die Stabilität der Gelenkpfanne erhöht. Es erweitert die Kontaktfläche des Humeruskopfes und wirkt als „Unterlegkeil“ gegen translatorische Kräfte [1].
Glenohumerale Bänder und Kapsel: Diese Bänder sind Verdickungen der Kapsel und spielen eine wesentliche Rolle bei der Begrenzung der Translation des Humeruskopfes.
Dynamische Stabilisatoren umfassen die Muskulatur der Rotatorenmanschette und die skapulothorakale Muskulatur. Diese Muskeln sorgen durch ihre Kontraktionen für eine aktive Stabilisierung des Humeruskopfes in der Gelenkpfanne. Eine gestörte Muskelfunktion, sei es durch Schwäche, Ermüdung oder strukturelle Schäden, kann das Gleichgewicht stören und Instabilität hervorrufen. Sportlerinnen und Sportler, insb. jene, die Überkopfsportarten ausüben, haben ein erhöhtes Risiko für muskuläre Ermüdung, die zu einer Beeinträchtigung der Stabilität führt (Abb. 1) [2].
Labrum
Das Labrum ist eine faserknorpelige Struktur, die als Puffer dient und umlaufend am Rand des Glenoids befestigt ist. Am oberen Pol ist es locker verankert und zeigt eine erhebliche anatomische Variabilität.
Der obere Abschnitt des Labrums ist direkt am Ansatz der Bizepssehne angebracht, etwas weiter distal von der Insertion der Sehne am supraglenoidalen Tuberkel. Dies bildet einen synovialen Rezessus unter der Bizepssehne in diesem Bereich des Labrums, was leicht mit einer SLAP-Läsion (Superior Labrum Anterior Posterior) verwechselt werden kann. Eine gründliche Untersuchung während der Operation mit einem Tasthaken würde eine instabile Verankerung des Bizepsansatzes sichtbar machen.
Das Labrum spielt eine entscheidende Rolle für die Stabilität des glenohumeralen Gelenks. Es vertieft die Glenoidpfanne in alle Richtungen um etwa 50 % und erweitert die Gelenkfläche. Die leicht abweichenden Radien der Knorpeloberflächen der beiden Gelenkpartner werden durch das Labrum am Rand angepasst. Dies führt zu einer vergrößerten Kontaktfläche des Humeruskopfes und theoretisch zu einer proportionalen Reduzierung der Punktbelastung. Zudem fungiert das Labrum als eine Art „Keil“, der gegen translatorische Kräfte wirkt und trägt so zu etwa 20 % zur Stabilität des belasteten glenohumeralen Gelenks bei.
Glenohumerale Ligamente und Kapselstrukturen
Die glenohumeralen Bänder sind spezifische Verdickungen der Gelenkkapsel. Diese umfassen das obere glenohumerale Band (SGHL), das mittlere glenohumerale Band (MGHL) sowie die unteren glenohumeralen Bänder (aIGHL und pIGHL). Das korakohumerale Band (CHL), das vom Processus coracoideus in Richtung Intervall zieht und in die obere Pulley-Struktur der Bizepssehne einmündet, arbeitet zusammen mit dem SGHL, um die inferiore Verschiebung und Außenrotation der adduzierten Schulter sowie die hintere Verschiebung der gebeugten, adduzierten und innenrotierten Schulter zu begrenzen.
Das MGHL zeigt die größte Variabilität unter den Bändern, wobei unterschiedliche anatomische Formen beschrieben wurden. Es limitiert die vordere Verschiebung des Humeruskopfes, wenn der Arm zwischen 60° und 90° abduziert ist.
Der IGHL-Komplex fungiert wie eine Hängematte, die eine übermäßige Verschiebung des Humeruskopfes nach unten verhindert. Bei zunehmender Abduktion bewegt sich der gesamte Komplex unter den Humeruskopf und wird gespannt. Bei Innenrotation verlagert sich der Komplex nach hinten, was die hintere Verschiebung einschränkt. In der Außenrotation hingegen verlagert sich der Komplex nach vorn und wirkt als Barriere gegen die vordere Verschiebung [1–3].
Die Rotatorenmanschette (RM)
Die Rotatorenmanschette leistet durch 3 Hauptmechanismen einen Beitrag zur Stabilität des Schultergelenks: Kompression des Gelenks, synchronisierte Kontraktion der Rotatorenmanschettenmuskulatur, die den Humeruskopf über den gesamten Bewegungsumfang hinweg im Glenoid zentriert, und Aktivierung der glenohumeralen Bänder durch ihre direkte Anheftung an die Rotatorenmanschette.
Die koordinierte Kontraktion der Rotatorenmanschette ist entscheidend für die Stabilität des Gelenks. Untersuchungen zeigen, dass bei Patientinnen und Patienten mit einer allgemeinen Überbeweglichkeit der Bänder eine veränderte Aktivität der RM beobachtet werden kann. Zudem weisen Personen mit symptomatischer Schulterinstabilität oft eine ungleichmäßige Stärke der RM auf. Sportlerinnen und Sportler, die Überkopfwürfe ausführen und dabei eine Ermüdung der Rotatorenmanschette erfahren, haben ein höheres Risiko für Verletzungen der vorderen glenohumeralen Bänder und der Kapsel.
Bei Rotatorenmanschettenrissen kommt es zu einer stärkeren Verschiebung des Humeruskopfes, die proportional zur Größe des Risses ist. Der Supraspinatus ist dabei bekanntlich der effektivste Stabilisator innerhalb der Rotatorenmanschette.
Darüber hinaus sind die glenohumeralen Bänder in den mittleren Bereichen der Schulterbewegung weniger straff. In diesem Bereich tragen die Gelenkkompression und die abgestimmte Kontraktion der Manschette zur Stabilität des Gelenks bei [1–3].
Die lange Bizepssehne (LBS)
Die lange Bizepssehne (LBS) unterstützt die Stabilität der vorderen Schulter, indem sie dabei hilft, übermäßigen Außenrotationskräften entgegenzuwirken, die bei abduzierter und außenrotierter Schulter auftreten. Zudem übernimmt die LBS eine schützende Funktion, indem sie die Belastung auf das untere glenohumerale Band reduziert.
Priopiorezeption
Bänder können neben ihrer offensichtlichen mechanischen Funktion auch durch die Bereitstellung von neurologischem Feedback zur Stabilisierung eines Gelenks beitragen, indem sie die Sensibilität für die Gelenkposition und die reflexbasierte muskuläre Stabilisierung fördern. Dieser Mechanismus wird als Propriozeption bezeichnet. Es wurde ein direkter afferenter neurologischer Pfad zwischen den propriozeptiven Rezeptoren in der Gelenkkapsel und dem zerebralen Kortex nachgewiesen.
Klassifikation
Die Klassifikation der Schulterinstabilität ist kompliziert, da viele anatomische Normvarianten existieren und es schwierig ist, eine klare Abgrenzung zwischen Normalität und pathologischen Zuständen zu ziehen. Im Laufe der Zeit haben neue wissenschaftliche Erkenntnisse, insb. in Anatomie und Bildgebung, die Klassifikationssysteme weiterentwickelt. SLAP-Läsionen beispielsweise sind erst seit der Einführung der arthroskopischen Technik und moderner hochauflösender MRT-Aufnahmen in der klinischen Praxis zu erkennen. Ein universelles Klassifikationssystem, das alle Aspekte der Schulterinstabilität erfasst und die relevanten Ursachen sowie individuellen Ausprägungen eindeutig definiert, hat sich als schwer realisierbar erwiesen. Ebenso herausfordernd ist die präzise Bestimmung der optimalen Therapie für jede Gruppe. Therapieorientierte Klassifikationen müssen zudem kontinuierlich aktualisiert werden, um den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen.
Ein einfaches, aber informatives System ist das FEDS System (Frequency: Häufigkeit; Etiology: traumatisch/nicht traumatisch; Direction: Richtung; Severity: Schmerz, Luxation bzw. Subluxationsphänomene) von Kuhn et al., das anamnestische und pathoanatomische Daten zusammenfasst und auch für Allgemeinmediziner anwendbar ist [4].
Das von Thomas und Matsen entwickelte System unterteilt Fälle in TUBS (Traumatische unidirektionale Bankart-Läsion mit Operationsbedarf) und AMBRI (Atraumatische multidirektionale Instabilität mit Rehabilitationsansatz und bei Bedarf inferiore Kapselstraffung). Die zweite Gruppe ist anfällig für multidirektionale Instabilität (MDI), die durch eine Stärkung der Rotatorenmanschette behandelt wird. Diese Einteilung hat sich jedoch als zu simpel herausgestellt, um alle klinischen Situationen abzudecken [5].
Das von Schneeberger und Gerber eingeführte Klassifikationssystem ist heute weit verbreitet (Abb. 2 ) [6].
Das Stanmore-Klassifikationssystem ist besonders nützlich, da es Übergänge zwischen klassischen Typen darstellt und den zeitlichen Verlauf berücksichtigt. Eine Patientin/ein Patient kann beispielsweise von einer nicht strukturellen Instabilität (Polar-Typ III) nach einem Unfall zu einer traumatischen, operativ behandlungsbedürftigen Instabilität (Polar-Typ II) wechseln [7].
Das System ordnet Patientinnen und Patienten anhand bestimmter Merkmale einem von 3 Polen zu. Patientinnen und Patienten können sich im Laufe der Zeit innerhalb des Klassifikationsdreiecks bewegen. Ein Beispiel ist ein Patient der Polar-Typ-II-Gruppe, der später eine muskuläre Koordinationsstörung entwickelt und in die Polar-Typ-III-Kategorie wechselt.
Die Platzierung im System kann jedoch herausfordernd sein. Für Patientinnen und Patienten, die in die TUBS-Kategorie fallen, ist die Einordnung einfach. Für alle anderen Konstellationen ist dies komplexer, was die Erklärung für das einfache 2-Gruppen-Modell von Thomas und Matsen liefert.
Die von Moroder et al. eingeführte ABC-Klassifikation beschreibt die hintere Schulterinstabilität in 3 Gruppen: akute (A), wiederkehrende dynamische (B) und chronische statische Instabilität (C), jeweils unterteilt in 2 Subtypen, die sich nach Pathomechanismus und Behandlungsstandard unterscheiden [8].
Diagnostik der Schulterinstabilität
Anamnese
Oft berichten Patientinnen und Patienten von einem klaren Trauma, das zu einer Schulterluxation geführt hat, gefolgt von einer geschlossenen Reposition in der Notaufnahme und einer Röntgenbestätigung. Die Richtung der Luxation ist bei spontaner Reposition oft schwer zu erinnern, jedoch können viele Patientinnen und Patienten die Armposition während der Luxation oder im Moment des Schmerzes beschreiben.
Wichtige Aspekte der Anamnese umfassen:
ob die Luxation traumatisch oder atraumatisch war
die Richtung (anterior, posterior, multidirektional)
den Schweregrad (Luxation, Subluxation oder nur Instabilitätsgefühl)
Art des Repositionsmanövers (Selbst- oder Fremdreposition, mit/ohne Sedierung)
Übergang von traumatischen zu atraumatischen Episoden, z.B. selbst reponierende Luxationen nach Bagatelltraumen oder im Schlaf
Weitere relevante Informationen:
Sportart und Leistungsniveau
berufliche Belastung
Hyperlaxität anderer Gelenke oder frühere Gelenkbeschwerden
Vorliegen von Bindegewebeerkrankungen (z.B. Ehlers-Danlos-Syndrom, Marfan-Syndrom)
familiäre Häufung solcher Beschwerden
Reaktion auf Physiotherapie
Details zu früheren Operationen
Klinische Untersuchung
Bei der klinischen Untersuchung sollte beobachtet werden, wie einfach die Patientin/der Patient seine äußere Kleidung auszieht, um die Schultern und den Oberkörper freizulegen. Bei der Inspektion können Asymmetrien, ein hervorstehendes Akromioklavikulargelenk, eine unzureichend verheilte Klavikula oder Atrophien der Supraspinatus- und Infraspinatusmuskulatur festgestellt werden. Die Palpation auf Druckempfindlichkeit kann systematisch erfolgen, ist jedoch bei Instabilitätsfällen oft weniger aussagekräftig. Danach sollten die vorderen und hinteren Gelenklinien der Schulter palpiert werden.
Wichtig ist die Beobachtung der Schulterblattbewegung, um eine skapulothorakale Dyskinesie (Scapulo-thoracic Abnormal Motion, STAM) auszuschließen. Nach der allgemeinen Untersuchung erfolgt die Beurteilung der aktiven und passiven Beweglichkeit sowie der isometrischen Kraft, meist im Vergleich zur anderen Seite.
Gezielte Stabilitätstests schließen sich an, abhängig von der Anamnese. Schmerzprovokationen oder luxationsfördernde Manöver sollten am Ende der Untersuchung stehen.
Im Stehen kann auch ein vorderer Apprehensiontest durchgeführt werden, indem die Schulter bis 90° abduziert und der Ellbogen um 90° gebeugt wird. Ein sanfter Druck der Untersucherin/des Untersuchers auf den hinteren Humeruskopf während der Außenrotation kann bei Instabilität ein Unwohlsein oder Schmerz auslösen.
In Rückenlage wird der Relokationstest durchgeführt, indem die Schulter abduziert und außenrotiert wird. Eine Hand übt Druck nach hinten aus und das Nachlassen des Unbehagens deutet auf ein positives Ergebnis hin. Ebenso kann in dieser Position ein hinterer Apprehensiontest durch Innenrotation und axiale Belastung durchgeführt werden.
Beighton-Score und
Hyperlaxität
Der Beighton-Score umfasst Tests zur Überprüfung der Gelenkbeweglichkeit, wie z. B. die Dorsalextension des Kleinfingers oder die Hyperflexion des Daumens. Allerdings existieren etablierte diagnostischen Tests, welche hinweisend sind für erhöhte Laxität (Hyperlaxität) der oberen Extremität [9, 10]:
Supinations-Ellenbogen-Extensions-Test (SEET) nach Bruckmann: Dieser Test überprüft die Fähigkeit zur Supination und Streckung des Ellenbogens und kann auf Hyperlaxität hinweisen.
Walch-Coudane-Test: Test zur Beurteilung einer verstärkten Außenrotation in Adduktion, ein typisches Zeichen für Hyperlaxität.
Gerber-Ganz Schubladentest (Drawer-Test): Wird verwendet, um die vordere und hintere Beweglichkeit des Humeruskopfes im Schultergelenk zu beurteilen.
Sulcuszeichen nach Neer (Sulcus Sign): Dieser Test zeigt eine globale Laxität an, erkennbar durch eine sichtbare Vertiefung unter dem Akromion bei Zug am Arm.
Hyperabduktionstest nach Gagey: Misst die übermäßige Abduktion des Arms, was auf eine erhöhte Laxität hinweisen kann.
Sonografie
Die Sonografie ist eine kostengünstige Alternative zur Magnetresonanztomografie (MRT), insb. in einem ressourcenknappen Gesundheitssystem und in der Ausschlussdiagnostik. Für eine optimale Darstellung der Schulterstrukturen empfiehlt sich der Einsatz eines Linear-Array-Schallkopfs mit Frequenzen zwischen 7 und 15 MHz, um eine hohe Bildauflösung zu gewährleisten. Parameter wie Tiefe und Verstärkung können individuell an die Gewebezusammensetzung der Patienten angepasst werden.
Ultraschall eignet sich hervorragend zur prä- und postoperativen Beurteilung der Rotatorenmanschette und der Bizepssehne. Allerdings stößt die Methode bei der Diagnostik von Kapsel-Labrum-Verletzungen an Grenzen, beispielsweise bei ausgeprägter Muskelmasse, Gelenkergüssen oder geringer Erfahrung der Untersucherin/des Untersuchers.
Nativradiologische Untersuchung (Röntgen)
Bei akuten traumatischen Vorfällen sind Standard-Röntgenaufnahmen oft ausreichend. Eine typische Serie umfasst:
Anterior-posterior (a.p.)-Aufnahme
Axiale Ansicht
Skapula-„Y“-Ansicht
Diese Aufnahmen ermöglichen die Erkennung von Luxationen und Frakturen. Eine Bankart-Läsion oder eine Hill-Sachs-Läsion, die auf eine Luxation hinweisen, können identifiziert werden (Abb. 3) [11].
Computertomografie (CT)
Die CT ist besonders nützlich zur Beurteilung und Quantifizierung von knöchernen Defekten, wie einem glenoidalen Knochenverlust. Gängige Methoden zur Einschätzung sind [12, 13]:
Best-Fit-Circle-Methode: schätzt die ursprüngliche Breite des Glenoids
Kontralaterale Vergleichsmethode: nutzt das gesunde Glenoid der Gegenseite als Referenz
Pico-Methode: analysiert Knochenverlust durch Vergleich beider Glenoide
Magnetresonanztomografie (MRT)
Die MRT ist ideal zur Untersuchung von Weichteilverletzungen wie Rotatorenmanschettenrupturen und Labrumläsionen. Eine MRT-Arthrografie kann nach Injektion unter Ultraschall- oder Röntgenkontrolle durchgeführt werden, um die Erkennung von Labrumrissen zu verbessern.
Therapiemethoden
Konservative Therapie bei Schulterinstabilität
Nach einer Schulterluxation ist eine umfassende konservative Nachbehandlung unverzichtbar, unabhängig davon, ob später eine operative Stabilisierung notwendig wird oder geplant ist. Einzig absolute OP-Indikationen wie dislozierte Glenoidfrakturen sind hiervon ausgenommen. Das Hauptziel der konservativen, frühfunktionellen Behandlung besteht darin, die Beweglichkeit der Schulter zu erhalten und eine posttraumatische Steifheit zu verhindern. Zu den anfänglichen Maßnahmen gehören abschwellende Behandlungen und passive Krankengymnastik. Eine vollständige Ruhigstellung der Schulter über einen Zeitraum von 48 Stunden hinaus wird in der Regel nicht empfohlen, da eine längere Immobilisation kontraproduktiv sein kann und das Risiko einer Einsteifung erhöht.
Eine Fixierung der Schulter in Außenrotation, die das mittlere glenohumerale Ligament (MGHL) spannt, wurde in einigen Studien untersucht. Das primäre Ziel, das anteroinferiore glenohumerale Ligament (aIGHL) zu spannen, wurde jedoch nicht erreicht, weshalb sich diese Methode in der Praxis nicht durchgesetzt hat.
Für Patientinnen und Patienten, die unter Instabilitätssymptomen ohne ein vorangegangenes Trauma leiden, kann der konservative Ansatz direkt mit gezielter Physiotherapie und manueller Therapie beginnen. Diese Phase der Behandlung zielt darauf ab, das Gleichgewicht der Muskelaktivität wiederherzustellen und die stabilisierenden Strukturen der Schulter zu stärken. Wichtige Schwerpunkte sind:
Lösung von Kontrakturen und Tonusstörungen: Muskelverspannungen und Fehlhaltungen müssen gelöst werden, um eine optimale Funktion zu gewährleisten.
Korrektur pathologischer Bewegungsmuster: Bewegungen, die zu Fehlbelastungen führen, sollten durch physiologische Bewegungsabläufe ersetzt werden.
Aktivierung der stabilisierenden Muskulatur: Dazu gehören die Rotatorenmanschette und die Skapulamuskulatur (z.B. M. serratus anterior, Mm. rhomboidei, M. trapezius pars ascendens). Diese Muskeln spielen eine wesentliche Rolle in der Stabilisierung des Schultergelenks.
Ergänzend wirken auch Schultermuskeln wie der M. trapezius pars descendens und der M. teres major stabilisierend. Ein fein abgestimmtes Zusammenspiel der Muskulatur und ein präzises Timing sind entscheidend, um eine stabile Schulter zu gewährleisten. Physikalische Maßnahmen wie gezielte Muskelstimulation können im Einzelfall den Therapieerfolg unterstützen und die Rehabilitation ergänzen.
Die konservative Therapie kann nicht in allen Fällen Rezidivluxationen verhindern, trägt jedoch häufig zur Verbesserung der Schulterfunktion und zur Linderung von Instabilitätssymptomen bei. Besonders bei Patientinnen und Patienten mit Hyperlaxität und multidirektionaler Instabilität (MDI) ist sie oft hilfreich. Allerdings zeigt sich, dass die primär konservative Therapie, insb. bei jungen und aktiven Patientinnen und Patienten sowie bei MDI, eine höhere Reluxationsrate aufweist als die operative Behandlung. Jede weitere Luxation schwächt zudem die Prognose und erhöht das Risiko für eine Instabilitätsarthrose [14–16].
Operative Therapieansätze
Die operative Stabilisierung des Schultergelenks zählt zu den häufigsten orthopädischen Eingriffen in Deutschland. Im Jahr 2021 wurden über 12.000 solcher Operationen durchgeführt. Eine erfolgreiche operative Therapie strebt an, die Schulterstrukturen vollständig wiederherzustellen, um Stabilität und Funktion zu gewährleisten. In der Praxis ist eine vollständige Wiederherstellung zwar selten, aber junge und mittelalte Patientinnen und Patienten profitieren in der Regel am meisten von einem operativen Eingriff. Bei älteren Patientinnen und Patienten treten häufig Rotatorenmanschettenrupturen auf, die in einigen Fällen eine Prothesenimplantation erforderlich machen.
Rekonstruktion des Kapsel-Labrum-Komplexes
In vielen Fällen, insb. bei posttraumatischen Schulterinstabilitäten, ist eine Wiederherstellung des Labrums und der angehefteten Kapsel notwendig. Diese Operation erfolgt häufig mittels Fadenankern, um das anteroinferiore Labrum anatomisch zu refixieren. In der Regel werden dabei 2 oder mehr Fadenanker verwendet. Eine genaue Dosierung der Kapselspannung ist von großer Bedeutung, da ein übermäßiges Raffen zu einer eingeschränkten Beweglichkeit und langfristig zu einer sogenannten Capsulorrhaphy-Arthropathie führen kann, die durch chronische Schmerzen und vorzeitige Arthrose gekennzeichnet ist [17, 18].
Labrumrisse, die den Bizepssehnenanker betreffen, wie z.B. SLAP-Läsionen, bedürfen besonderer Aufmerksamkeit. Diese sollten nicht mit Normvarianten verwechselt werden, da echte Verletzungsfolgen wie Einblutungen, Risse und unscharfe Ränder charakteristisch sind. Eine Tenodese der langen Bizepssehne kann eine sinnvolle Alternative zur vollständigen Reparatur sein, abhängig von den individuellen Umständen der Patientin/des Patienten [19].
Bei Patientinnen und Patienten mit einer allgemeinen oder multidirektionalen Hyperlaxität kann eine Kapselraffung notwendig sein. Dabei muss ein Gleichgewicht zwischen ausreichender Straffung und Erhalt der Beweglichkeit gefunden werden. Arthroskopische Verfahren bieten minimalinvasive Alternativen zu traditionellen offenen Kapselraffungen, die oft einen Zugang über den M. subscapularis erfordern, was mit zusätzlichen Risiken verbunden ist. Traditionell wurden solche Kapselraffungen offen durchgeführt, doch die Entwicklung moderner Techniken ermöglicht heute arthroskopische Eingriffe mit geringerem Komplikationsrisiko (Abb. 4) [20, 21].
Hill-Sachs-Läsion und Off-Track-Management
Die Hill-Sachs-Läsion ist eine häufige Begleitverletzung bei vorderen Schulterluxationen und entsteht durch das Einhaken des Humeruskopfes am Glenoidrand. Große Defekte, die sich wiederholt im Gelenk einhaken (Off-Track-Läsionen), erhöhen das Risiko für Rezidive. Die arthroskopische Remplissagetechnik wird häufig angewendet, um die posteriore Kapsel in den Defekt einzunähen und somit einen Türstoppereffekt zu erzeugen, der weitere Luxationen verhindert [22–24].
Behandlung von HAGL-Läsionen
HAGL-Läsionen (Avulsion des inferioren glenohumeralen Ligaments) treten als Folge von traumatischen Luxationen auf, können aber leicht übersehen werden. Sowohl offene als auch arthroskopische Verfahren zur Reparatur dieser Läsionen wurden beschrieben. Arthroskopische Ansätze minimieren die Gewebebelastung, sind jedoch technisch anspruchsvoll und erfordern hohe chirurgische Fähigkeiten [25, 26].
Knochenblockverfahren
Chronische Glenoiddefekte und nicht refixierbare knöcherne Bankart-Läsionen erfordern häufig den Einsatz von Knochenblockverfahren. Dabei werden autologe Beckenkammgrafts oder Allografts verwendet, um die Gelenkfläche wiederherzustellen. Diese Verfahren sind besonders hilfreich nach gescheiterten Weichteilrekonstruktionen. Eine mögliche Komplikation ist die Resorption des Grafts, weshalb manchmal eine Metallentfernung der fixierenden Schrauben nötig wird, wenn diese mechanische Probleme verursachen [27, 28].
Das Knochenblockverfahren wird auch nach dem Scheitern einer primären Weichteilstabilisierung eingesetzt, da in diesen Fällen eine erneute Kapsel-Labrum-Rekonstruktion mit einer erhöhten Rezidivrate verbunden ist und häufig bereits knöcherne Schäden vorliegen.
Für Patientinnen und Patienten mit einem grenzwertigen Glenoiddefekt (10–15 %) stellt die Bankart-Plus-Operation mit allogener Spongiosaplastik eine alternative Therapieoption dar. Diese Methode kombiniert die Stabilisierung durch eine Weichteilrekonstruktion mit der Auffüllung des knöchernen Defekts und ist besonders geeignet, wenn eine vollständige Wiederherstellung des Glenoids angestrebt wird.
Der Korakoidtransfer (bekannt als Latarjet-Verfahren) ist eine bewährte Technik zur Stabilisierung vorderer Instabilitäten, mit oder ohne Glenoiddefekte. Diese Methode bietet eine hohe Stabilität und nutzt den Processus coracoideus und die verbundenen Sehnen (Conjoint Tendon), um eine biomechanische Stabilisierung zu erreichen. Der Eingriff kann offen oder arthroskopisch durchgeführt werden, wobei beide Varianten gewisse Risiken bergen, insb. durch die Nähe zum Plexus brachialis [29].
Langfristige Prognose und Hauptziele der Therapie
Das Ziel jeder Behandlung, sei es konservativ oder operativ, ist die Wiederherstellung der Stabilität, die normale Funktion und die Minimierung von Langzeitschäden wie Arthrose. Besonders wichtig ist auch die Rückkehr zu sportlichen Aktivitäten, die für viele Patientinnen und Patienten von großer Bedeutung ist. Junge Patientinnen und Patienten, Männer und Sportlerinnen und Sportler in Risikosportarten sowie Personen mit knöchernen Defekten haben ein erhöhtes Risiko für Rezidive. Schon die erste Luxation erhöht das Risiko für Arthrose. Studien haben gezeigt, dass nach 25 Jahren etwa 56 % der Patientinnen und Patienten milde und 26 % moderate bis schwere Arthrose entwickelt haben [14].
Interessenkonflikte:
Keine angegeben.
Das Literaturverzeichnis zu
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www.online-oup.de.
Korrespondenzadresse
Dr. med. Milad Farkhondeh Fal
Orthopädie Zentrum Hamburg
Poststraße 2–4
20354 Hamburg
mfal@orthopaedie-zentrum-
hamburg.de
Prof. Dr. med. Jörn Kircher
ATOS Klinik Fleetinsel Hamburg
Admiralitätstr. 3–4
20459 Hamburg