Übersichtsarbeiten - OUP 01/2025

Schultergelenksinstabilität
Von der Diagnose bis zur Therapie

Bänder können neben ihrer offensichtlichen mechanischen Funktion auch durch die Bereitstellung von neurologischem Feedback zur Stabilisierung eines Gelenks beitragen, indem sie die Sensibilität für die Gelenkposition und die reflexbasierte muskuläre Stabilisierung fördern. Dieser Mechanismus wird als Propriozeption bezeichnet. Es wurde ein direkter afferenter neurologischer Pfad zwischen den propriozeptiven Rezeptoren in der Gelenkkapsel und dem zerebralen Kortex nachgewiesen.

Klassifikation

Die Klassifikation der Schulterinstabilität ist kompliziert, da viele anatomische Normvarianten existieren und es schwierig ist, eine klare Abgrenzung zwischen Normalität und pathologischen Zuständen zu ziehen. Im Laufe der Zeit haben neue wissenschaftliche Erkenntnisse, insb. in Anatomie und Bildgebung, die Klassifikationssysteme weiterentwickelt. SLAP-Läsionen beispielsweise sind erst seit der Einführung der arthroskopischen Technik und moderner hochauflösender MRT-Aufnahmen in der klinischen Praxis zu erkennen. Ein universelles Klassifikationssystem, das alle Aspekte der Schulterinstabilität erfasst und die relevanten Ursachen sowie individuellen Ausprägungen eindeutig definiert, hat sich als schwer realisierbar erwiesen. Ebenso herausfordernd ist die präzise Bestimmung der optimalen Therapie für jede Gruppe. Therapieorientierte Klassifikationen müssen zudem kontinuierlich aktualisiert werden, um den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen.

Ein einfaches, aber informatives System ist das FEDS System (Frequency: Häufigkeit; Etiology: traumatisch/nicht traumatisch; Direction: Richtung; Severity: Schmerz, Luxation bzw. Subluxationsphänomene) von Kuhn et al., das anamnestische und pathoanatomische Daten zusammenfasst und auch für Allgemeinmediziner anwendbar ist [4].

Das von Thomas und Matsen entwickelte System unterteilt Fälle in TUBS (Traumatische unidirektionale Bankart-Läsion mit Operationsbedarf) und AMBRI (Atraumatische multidirektionale Instabilität mit Rehabilitationsansatz und bei Bedarf inferiore Kapselstraffung). Die zweite Gruppe ist anfällig für multidirektionale Instabilität (MDI), die durch eine Stärkung der Rotatorenmanschette behandelt wird. Diese Einteilung hat sich jedoch als zu simpel herausgestellt, um alle klinischen Situationen abzudecken [5].

Das von Schneeberger und Gerber eingeführte Klassifikationssystem ist heute weit verbreitet (Abb. 2 ) [6].

Das Stanmore-Klassifikationssystem ist besonders nützlich, da es Übergänge zwischen klassischen Typen darstellt und den zeitlichen Verlauf berücksichtigt. Eine Patientin/ein Patient kann beispielsweise von einer nicht strukturellen Instabilität (Polar-Typ III) nach einem Unfall zu einer traumatischen, operativ behandlungsbedürftigen Instabilität (Polar-Typ II) wechseln [7].

Das System ordnet Patientinnen und Patienten anhand bestimmter Merkmale einem von 3 Polen zu. Patientinnen und Patienten können sich im Laufe der Zeit innerhalb des Klassifikationsdreiecks bewegen. Ein Beispiel ist ein Patient der Polar-Typ-II-Gruppe, der später eine muskuläre Koordinationsstörung entwickelt und in die Polar-Typ-III-Kategorie wechselt.

Die Platzierung im System kann jedoch herausfordernd sein. Für Patientinnen und Patienten, die in die TUBS-Kategorie fallen, ist die Einordnung einfach. Für alle anderen Konstellationen ist dies komplexer, was die Erklärung für das einfache 2-Gruppen-Modell von Thomas und Matsen liefert.

Die von Moroder et al. eingeführte ABC-Klassifikation beschreibt die hintere Schulterinstabilität in 3 Gruppen: akute (A), wiederkehrende dynamische (B) und chronische statische Instabilität (C), jeweils unterteilt in 2 Subtypen, die sich nach Pathomechanismus und Behandlungsstandard unterscheiden [8].

Diagnostik der Schulterinstabilität

Anamnese

Oft berichten Patientinnen und Patienten von einem klaren Trauma, das zu einer Schulterluxation geführt hat, gefolgt von einer geschlossenen Reposition in der Notaufnahme und einer Röntgenbestätigung. Die Richtung der Luxation ist bei spontaner Reposition oft schwer zu erinnern, jedoch können viele Patientinnen und Patienten die Armposition während der Luxation oder im Moment des Schmerzes beschreiben.

Wichtige Aspekte der Anamnese umfassen:

ob die Luxation traumatisch oder atraumatisch war

die Richtung (anterior, posterior, multidirektional)

den Schweregrad (Luxation, Subluxation oder nur Instabilitätsgefühl)

Art des Repositionsmanövers (Selbst- oder Fremdreposition, mit/ohne Sedierung)

Übergang von traumatischen zu atraumatischen Episoden, z.B. selbst reponierende Luxationen nach Bagatelltraumen oder im Schlaf

Weitere relevante Informationen:

Sportart und Leistungsniveau

berufliche Belastung

Hyperlaxität anderer Gelenke oder frühere Gelenkbeschwerden

Vorliegen von Bindegewebeerkrankungen (z.B. Ehlers-Danlos-Syndrom, Marfan-Syndrom)

familiäre Häufung solcher Beschwerden

Reaktion auf Physiotherapie

Details zu früheren Operationen

Klinische Untersuchung

Bei der klinischen Untersuchung sollte beobachtet werden, wie einfach die Patientin/der Patient seine äußere Kleidung auszieht, um die Schultern und den Oberkörper freizulegen. Bei der Inspektion können Asymmetrien, ein hervorstehendes Akromioklavikulargelenk, eine unzureichend verheilte Klavikula oder Atrophien der Supraspinatus- und Infraspinatusmuskulatur festgestellt werden. Die Palpation auf Druckempfindlichkeit kann systematisch erfolgen, ist jedoch bei Instabilitätsfällen oft weniger aussagekräftig. Danach sollten die vorderen und hinteren Gelenklinien der Schulter palpiert werden.

Wichtig ist die Beobachtung der Schulterblattbewegung, um eine skapulothorakale Dyskinesie (Scapulo-thoracic Abnormal Motion, STAM) auszuschließen. Nach der allgemeinen Untersuchung erfolgt die Beurteilung der aktiven und passiven Beweglichkeit sowie der isometrischen Kraft, meist im Vergleich zur anderen Seite.

Gezielte Stabilitätstests schließen sich an, abhängig von der Anamnese. Schmerzprovokationen oder luxationsfördernde Manöver sollten am Ende der Untersuchung stehen.

Im Stehen kann auch ein vorderer Apprehensiontest durchgeführt werden, indem die Schulter bis 90° abduziert und der Ellbogen um 90° gebeugt wird. Ein sanfter Druck der Untersucherin/des Untersuchers auf den hinteren Humeruskopf während der Außenrotation kann bei Instabilität ein Unwohlsein oder Schmerz auslösen.

In Rückenlage wird der Relokationstest durchgeführt, indem die Schulter abduziert und außenrotiert wird. Eine Hand übt Druck nach hinten aus und das Nachlassen des Unbehagens deutet auf ein positives Ergebnis hin. Ebenso kann in dieser Position ein hinterer Apprehensiontest durch Innenrotation und axiale Belastung durchgeführt werden.

Beighton-Score und
Hyperlaxität

Der Beighton-Score umfasst Tests zur Überprüfung der Gelenkbeweglichkeit, wie z. B. die Dorsalextension des Kleinfingers oder die Hyperflexion des Daumens. Allerdings existieren etablierte diagnostischen Tests, welche hinweisend sind für erhöhte Laxität (Hyperlaxität) der oberen Extremität [9, 10]:

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