Übersichtsarbeiten - OUP 02/2024

Akute und chronische Kniescheibeninstabilität
Diagnostik, konservative Therapie und chirurgische Konzepte von Schäden des MPFL, von Trochleadysplasien sowie anderen knöchernen Pathologien

Lars Victor von Engelhardt

Lernziele:

Der Leserin/dem Leser soll die Differenzialdiagnostik unterschiedlicher Ursachen der Kniescheibeninstabilität vermittelt werden.

Für die konservative und operative Therapie werden sinnvolle Konzepte eines befundabhängigen Vorgehens erläutert.

Neuere Konzepte, sog. Kombinationseingriffe, meist bestehend aus einer balancierten MPFL-Band-Rekonstruktion und einer Trochleaplastik oder auch anderer knöcherner Korrekturen, und deren Erfolgsaussichten werden vermittelt.

Zusammenfassung:
Instabilitäten und Luxationen der Patella sind stark beeinträchtigend. Es kommt zu Verletzungen des Gelenkknorpels, osteochondralen Frakturen, wiederkehrender Instabilität, Schmerzen, Verlust der Sportfähigkeit und verminderter Alltagsaktivität und schließlich zur patellofemoralen Arthrose. Gleitlagerdysplasien, andere knöcherne Fehlbildungen und Schäden der kniescheibenstabilisierenden Bänder stellen wichtige Ursachen dieser fortschreitenden Erkrankung dar. Die Kenntnisse und Therapiemöglichkeiten rund um dieses Thema haben sich in den letzten Jahren deutlich erweitert. Sowohl in der Akutsituation als auch bei chronisch wiederkehrenden Verläufen ist eine gute Diagnostik wesentlich, um eine adäquate konservative oder operative Therapie zu ermöglichen. Operativ ist es wichtig, relevante Befunde im Sinne einer „à la carte“-Chirurgie zu adressieren. Die wichtigsten Verfahren sind hierbei knöcherne Gleitlagerkorrekturen, die sog. Trochleaplastiken, aber auch einige andere knöcherne Korrekturverfahren. Ebenso wichtig sind Rekonstruktionen des medialen patellofemoralen Bandes, das einerseits meist geschädigt ist und andererseits den wesentlichen Bandstabilisator der Kniescheibe darstellt. In diesem CME-Artikel werden die wesentlichen diagnostischen Schritte, unterschiedliche Therapiekonzepte und die Ergebnisse beschrieben.

Schlüsselwörter:
Trochleadysplasie, Trochleaplastik, mediales patellofemorales Ligament, patellofemorale
Instabilität, Patellaluxation

Zitierweise:
von Engelhardt LV: Akute und chronische Kniescheibeninstabilität. Diagnostik, konservative
Therapie und chirurgische Konzepte von Schäden des MPFL, von Trochleadysplasien sowie anderen knöchernen Pathologien
OUP 2024; 13: 81–91
DOI 10.53180/oup.2024.0081-0091

Summary: Instabilities and dislocations of the patella are highly debilitating. They lead to injuries of the joint cartilage, osteochondral fractures, recurrent instability, pain, loss of sports ability, reduced daily activity, and finally to patellofemoral osteoarthritis. Dysplasia of the patellar groove, other bony deformities, and damage to the ligaments stabilizing the patella are important causes of this progressive disease. The knowledge and therapeutic options surrounding this topic have significantly expanded in recent years. Both in acute situations and in cases of chronic recurrence, good diagnostics are essential to enable appropriate conservative or surgical treatment. Surgically, it is important to address relevant findings in terms of a „à la carte“ surgery. The most important procedures include bony corrections of the patellar groove, or trochleoplasties, as well as several other bony correction procedures. Equally important are reconstructions of the medial patellofemoral ligament, which is often damaged and represents the main band stabilizer of the patella. This CME article describes the essential diagnostic steps, different therapeutic concepts, and the results.

Keywords: Trochlea dysplasia, trochleoplasty, medial patellofemoral ligament, patellofemoral instability

Citation: von Engelhardt LV: Acute and chronic patella instabilities. Diagnostics, conservative treatment and surgical concepts for damages of the MPFL, trochlear dysplasia and other bony diseases
OUP 2024; 13: 81–91. DOI 10.53180/oup.2024.0081-0091

Fakultät für Gesundheit, Universität Witten/Herdecke & Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Sportmedizin, Klinikum Peine

Pathophysiologie, Anamnese

und bildgebende Befunde

Damit der Streckapparat des Beines beim Gehen, Sport etc. funktioniert, muss er während des Gleitmechanismus stabil gehalten werden. In Beugung, spätestens ab 30°, wird die Kniescheibe v.a. durch das knöcherne Kniescheibengleitlager geführt und stabilisiert. In den strecknahen Positionen, oberhalb von ca. 30°-Beugung, liegt die Kniescheibe durch die zunehmende Außenrotation der Tibia weiter lateral und natürlich auch weiter oben an den Kondylen. In diesen Positionen verliert die Kniescheibe den Kontakt zur Gleitrinne zunehmend. Die Führung wird weichteilig und v.a. über ein Band, das mediale patellofemorale Ligament (MPFL), stabilisiert. Das MPFL verläuft zwischen dem oberen Drittel der medialen Kniescheibe und dem inneren Femurkondylus, wo es oberhalb der medialen Kollateralbandinsertion ansetzt. Es stabilisiert die Kniescheibe vor einem Abgleiten bzw. Luxieren nach außen (Abb. 1e) [2]. Erste Luxationsereignisse finden sich häufig bei Drehbewegungen im Knie bspw. bei fixiertem Fuß und eher strecknahen bzw. leicht gebeugten Positionen. Dies tritt in 50–60 % der Fälle im Sport oder auch im Alltag auf [19]. Beispiele sind schnelle Richtungswechsel, ein Vertreten auf Unebenheiten, abrupte Stoppbewegungen, Sprünge etc. Seltener entsteht die Luxation im Rahmen eines direkten Anpralltraumas wie einem Schlag auf die Kniescheibe [63].

Erstluxation

Die erstmalige Luxation ist besonders schmerzhaft. Gelegentlich ist die Kniescheibe lateral des Kondylus verhakt, so dass sie unter Kniestreckung und Druck mit der Hand wieder in ihr Gleitlager zurück geschoben werden muss. Eigene Studien und weitere Untersuchungen haben gezeigt, dass bei der Erstluxation in der Mehrheit der Fälle schwere Knorpelverletzungen auftreten. In über 90 % der Fälle kommt es zu einem Riss des kniescheibenstabilisierenden MPFL-Bandes [42, 62, 74]. Bei Patientinnen und Patienten über 16 Jahren findet sich bei den ersten Luxationen am häufigsten ein Riss am femoralen Ansatz (Abb. 1a, b). Seltener finden sich intraligamentäre und patellarseitige Rupturen [32, 51]. Diese Pathomorphologie ist für die weitere Therapieentscheidung wichtig, weil gerade die femorale Risslokalisation mit einem schlechteren klinischen Outcome und erhöhten Raten an Rezidivluxationen einhergehen [62]. Zudem ist es bei der Beurteilung der Rissstelle des MPFL wichtig, eine Avulsion des für die Kniescheibenstabilität wenig relevanten medialen patellotibialen Bandes an seinem Ansatz an der unteren medialen Kniescheibe nicht mit einer patellaren MPFL-Avulsion zu verwechseln. Diese im MRT recht deutlich sichtbare und schmerzhaft palpable Zusatzverletzung einer Patellaluxation zeigt sich am mediokaudalen Teil der Kniescheibe (Abb. 1c, d). Dieser Befund sollte nicht mit einem Abriss des MPFL Bandes vom kranialen Drittel der Kniescheibe verwechselt und/oder gar operativ versorgt werden. Aus unserer klinischen Erfahrung heraus, besteht bei diesem Verletzungsmuster oft der schmerzhaft palpable und v.a. biomechanisch relevante Abriss des MPFL am medialen Femurkondylus. Logischerweise ist es äußerst unwahrscheinlich, dass das MPFL an 2 Stellen, also neben dem femoralen Ansatz auch noch am patellaren Ansatz abreißt.

Wiederholte Luxationen

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