Übersichtsarbeiten - OUP 02/2024
Akute und chronische KniescheibeninstabilitätDiagnostik, konservative Therapie und chirurgische Konzepte von Schäden des MPFL, von Trochleadysplasien sowie anderen knöchernen Pathologien
Die Empfehlung einer konservativen Therapie sollte mit Augenmaß erfolgen. Das in der Vergangenheit gelegentlich ein wenig einseitig verfolgte Mantra, dass die Erstluxation generell konservativ behandelt wird, basiert teilweise auf Studien zu zurückliegenden, tendenziell einseitigen Operationsverfahren und vglw. wenig differenziert gestellten Indikationen. Vor allem hat das Wissen um relevante Untersuchungsbefunde zugenommen. So sollte auch bei Erstluxationen anstelle einer pauschalen konservativen Empfehlung stets eine individuelle Abwägung unter Berücksichtigung einer Vielzahl individueller Befunde bzw. prognostischer Einflussfaktoren erfolgen. Gehen wir entsprechend differenziert vor, erreichen wir sowohl bei den operativen als auch bei den konservativ versorgten Patientinnen und Patienten bessere Ergebnisse.
Hilfreich ist ein Bewertungssystem, das eine einfache Beurteilung der Schwere von Instabilitäten der Kniescheibe erlaubt. Bspw. kann der Patellar Instability Severity Score nach Balcarek et al. herangezogen werden [4]. Hier werden die Einflussfaktoren, wie das Alter (> 16 Jahre = 0 Punkte, ? 16 Jahre = 1 Punkt), eine Instabilität der Gegenseite (Nein = 0 Punkte, Ja = 1 Punkt), eine Bindegewebsschwäche (Nein = 0 Punkte, Ja = 1 Punkt), eine Trochleadysplasie (Nein = 0 Punkte, Typ A nach Dejour = 1 Punkt, Typ B–D nach Dejour = 2 Punkte), die Patellahöhe mittels Insall-Salvati Index (0 Punkte ? 1.2, 1 Punkt = > 1.2), der TT-TG (0 Punkte = < 16 mm, 1 Punkt = ? 16 mm) sowie der Patella-Tilt (0 Punkte = ? 20°, 1 Punkt > 20°) addiert. Patientinnen und Patienten mit ? 3 Punkten haben gegenüber denen mit ? 4 Punkten ein erhöhtes Risiko einer wiederkehrenden Luxation [4, 38]. Dies ist eine einfache, allerdings limitierte Entscheidungshilfe. Selbstverständlich sollten die vielen anderen Einflussfaktoren wie klinische Untersuchungsbefunde bspw. zur Ausprägung der Kniescheibeninstabilität, anamnestische Faktoren wie Sportarten mit vielen Richtungswechseln sowie weitere bildgebende Befunde, eine Unterentwicklung des lateralen Femurkondylus mit Valgusausrichtung der Beinachse, Rotationsfehler, eine kleine Kniescheibe, kombinierte Instabilitäten etc. berücksichtigt werden.
Bei der Erstluxation ohne knöcherne Deformitäten, wie bspw. Trochleadysplasien, bei denen ausschließlich ein akuter Weichteilschaden mit einer Ruptur des MPFL vorliegt, gibt es prinzipiell 3 Therapiemöglichkeiten: die konservative Therapie, den Repair und eine MPFL-Rekonstruktion mittels Graft. Hier hat die konservative Therapie der Erstluxation auch in aktuelleren Studien einen berechtigten Stellenwert [69]. Eine aktuelle Metaanalyse hat den Repair bzw. die Naht des MPFL mit der konservativen Therapie bei Kindern und Erwachsenen, bei denen keine knöchernen Deformitäten, wie bspw. Trochleadysplasien oder andere Risikofaktoren vorliegen, verglichen. Hier zeigten beide Therapiewege, sowohl für die Rezidivrate als auch für das klinische Outcome, keinen Unterschied [35]. Sillanpää et al. konnten zeigen, dass das Risiko für eine erfolglose konservative Therapie insbesondere bei den häufigen femoralen Avulsionsrupturen des MPFL erhöht ist, wohingegen bei den sehr seltenen Rupturen im Bereich der Patella keine Reluxationen zu finden waren [62]. Letztlich basiert die Entscheidung über ein konservatives oder operatives Vorgehen stets auf der individuellen Situation der Patientin/des Patienten. Liegt bspw. ein Unfall mit einer direkten Gewalteinwirkung auf die Kniescheibe vor, sind das Kniescheibengleitlager, die Gelenkachsen etc. regelrecht geformt und sind die Freizeitaktivitäten der Patientin/des Patienten mit eher wenig Stop-and-go sowie Drehbewegungen verbunden, so sind die Chancen einer stabilen Ausheilung unter Einhaltung eines konservativen Behandlungsschemas vglw. gut.
Nachdem sich bei der Erstluxation in bis zu 96 % der Fälle Schäden des Bandhalteapparates in Form einer MPFL-Ruptur zeigen, ist der weichteilige primäre Repair eine logische, allerdings kritisch zu betrachtende Konsequenz [2, 48]. Erfolgt ein Repair, so sollte dies am Ort des Geschehens als offene oder arthroskopische Retinaculumnaht, bspw. nach Yamamoto, oder in Form einer Refixation von Avulsionsverletzungen am femoralen oder patellaren Ansatz erfolgen [78]. Hierbei ist zu erwähnen, dass die Rekonstruktion als MPFL-Plastik mittels Graft sowohl hinsichtlich dem klinischen Outcome als auch hinsichtlich der Rezidivluxationen in vielen unterschiedlichen Studien dem primären Repair überlegen ist [34, 40, 79]. Vor diesem Hintergrund ist anstelle des primären Repairs die augmentierende MPFL-Rekonstruktion vorrangig empfehlenswert. Ein weiterer Vorteil der augmentierenden Rekonstruktion ist der Umstand, dass wir großzügiger initial konservativ behandeln können, weil im Gegensatz zu einer primären Rekonstruktion, die vglw. kurzfristig in wenigen Tagen bis Wochen erfolgen sollte, erst einmal konservativ behandelt werden und der klinische Verlauf abgewartet werden kann.
Die dritte Möglichkeit bei einer Ruptur oder Insuffizienz des MPFL-Bandes ohne wesentliche knöcherne Pathologie ist die anatomische MPFL-Rekonstruktion mittels Graft. Hierfür sind sehr unterschiedliche Techniken anerkannt. Sie unterscheiden sich in der Art der Fixation, bspw. über Schrauben, Weichgewebe, Anker, Buttons oder transossär, in der Graftwahl und in der Spannungseinstellung. Für die meisten Varianten werden sehr gute Ergebnisse beschrieben [20, 22, 36, 39, 43, 56, 73]. Wir bevorzugen Techniken einer balancierten, implantat-freien, anatomischen MPFL-Rekonstruktion (Abb. 2). Mit solchen Techniken kann die Spannung des eingebrachten Sehnenimplantates individuell und zuverlässig eingestellt werden. Dies minimiert wesentliche Komplikationen einer MPFL-Rekonstruktion und optimiert die Alignementanpassung [39, 73]. Wir sehen große klinische Vorteile darin, dass unsere Technik sowohl bei der Rekonstruktion des MPFL (Abb. 2) und auch bei der Trochleaplastik (s.u.) (Abb. 3, 4), ohne Verwendung von Knochenankern erfolgt. An der medialen Patellakante erfolgt dabei die Anlage eines möglichst vertikal verlaufenden, kleinlumigen V-förmigen Bohrkanals (s.u.) zum Durchzug des MPFL-Graft (Abb. 2a). Dies vermeidet die gar nicht so seltenen Komplikationen einer Implantatlockerung und/oder einer Patellafraktur. In der Literatur finden sich meistens Querfrakturen, die meist entlang der eingebrachten Anker, PEEK-Schrauben etc. liegen [16, 61].