Übersichtsarbeiten - OUP 02/2024

Akute und chronische Kniescheibeninstabilität
Diagnostik, konservative Therapie und chirurgische Konzepte von Schäden des MPFL, von Trochleadysplasien sowie anderen knöchernen Pathologien

Neben den Schäden des MPFL-Bandes und der knöchernen Formstörung des Gleitlagers sind auch Achs- und Rotationsfehler des Kniegelenkes bei der Entstehung einer Instabilität zu beachten und ggf. zu adressieren. Hinsichtlich relevanter Achs- und Rotationsfehler ist hier insbesondere der sog. femorale Antetorsionswinkel von Interesse. Dieser Winkel beschreibt die physiologische Verdrehung des Oberschenkelhalses gegenüber Oberschenkel bzw. Kniegelenk nach vorne. Die Norm liegt bei ca. 20° (Abb. 1e). Im Fall einer vermehrten femoralen Antetorsion zeigt sich im Stehen eine vermehrte Innenrotationsstellung des Femurs mit einer nach innen gerichteter Kniescheibe, der sog. schielenden Patella. Wichtig für eine Beurteilung ist dabei, dass die Füße parallel nach vorne gerichtet sind. Zudem können mögliche Rotationsfehler in Bauchlage in 90°-Knieflexion beurteilt werden. Bei der Messung der maximalen Hüftinnen- und -außenrotation zeigt sich bei einer Coxa antetorta nicht selten eine überhöhte (> 65°) Außenrotation sowie und eine stark verminderte (< 30°) Innenrotation [65]. Besteht hier bei diesen Beurteilungen der Rotation des Kniegelenkes gegenüber der Hüfte oder dem Sprunggelenk (s.u.) ein Anhalt auf eine Fehlrotation, führen wir in diesen eher seltenen Fällen ein Rotations-MRT des gesamten Beines durch.

Ebenso kann ein X-Bein prädisponierend für eine Instabilität der Kniescheibe sein. Läuft die mechanische Beinachse als Verbindung zwischen dem Hüftkopfzentrum und dem Zentrum des oberen Sprunggelenkes nicht mittig, sondern lateral durch das Kniegelenk, so ist auch die Kniescheibe nach lateral verlagert. Der Luxationsweg der Kniescheibe nach außen ist verkürzt. Im Stehen zeigt sich neben der Valgusstellung oft auch ein erhöhter Q-Winkel zwischen Oberschenkelachse und der Verbindungslinie zwischen Patella und Tuberositas tibia.

Vglw. selten kann auch eine vermehrte Verdrehung des Unterschenkels, die sog. Tibiatorsion, den Verlauf der Kniescheibe nach außen verlagern und somit zu einer Instabilität führen. Hier zeigt sich klinisch eine vermehrt außenrotierte Fußachse. Im Stehen kann die tibiale Rotation durch eine Beurteilung der Fußstellung bei beidseits nach vorne gerichteter Tuberositas tibiae abgeschätzt werden. Liegt eine vermehrte Tibiatorsion vor, zeigen ein Fuß oder beide Füße vermehrt nach außen. Auch bei gebeugtem Knie oder im Knien in 90°-Beugung lässt sich der Winkel zwischen der Fußachse und dem Oberschenkel gut abschätzen [26]. Bildgebend wird die Unterschenkeldrehung als Winkel zwischen den beiden längsten Linien durch das Tibiaplateau auf Höhe des Wadenbeinköpfchens sowie auf Höhe des sprunggelenknahen Pilon tibiale gemessen. Die Norm liegt bei weniger als 40° [65].

Patella-Hochstand und TT-TG

Ein weiterer zu beachtender und häufig assoziiert auftretender Faktor ist ein Hochstand der Kniescheibe, der bspw. anhand des sog. Insall-Salvati-Index (Norm 0,8–1,2) beschrieben werden kann. Wie bereits erwähnt, kann auch der Abstand zwischen dem Ansatz des Kniescheibenbandes am Unterschenkel, der sog. Tuberositas tibiae, und dem tiefsten Punkt des Kniescheibengleitlagers, der Trochleagrube für eine Instabilität relevant sein. Die Norm liegt bei Werten unter 20 mm (Abb. 1h).

Symptomatik der instabilen Kniescheibe

Bei einer Instabilität wird die Kniescheibe oft als puddingähnlich, schwimmend oder springend beschrieben. Bei einem Teil der Patientinnen und Patienten kommt es mehrmals täglich, bei anderen eher selten zu einem meist schmerzhaften Herausspringen der Kniescheibe. Neben dem Schonverhalten und der Sorge um eine erneute Luxation, dem damit verbundenen plötzlichen Wegsacken und mitunter auch Sturzereignissen, bestehen sowohl belastungsabhängig als auch in Ruhe Schmerzen sowie Reizzustände des Kniegelenkes. Sport, insbesondere solche mit Richtungswechseln, Stop-and-go, etc. werden vermieden. Auch der Alltag ist eingeschränkt. Das klinische Bild beginnt mit anfänglichen Instabilitätsbeschwerden und Luxationsereignissen. Im Verlauf entwickeln sich zunehmende Knorpelschäden und schließlich bereits in eher jungen Jahren das Vollbild einer Arthrose [14, 25, 37, 72]. So führen wir den Großteil der retropatellaren Endoprothetik bei Trochleadysplasien durch. Die posttraumatischen Arthrosen, bspw. nach einer Patellafraktur, sind bei uns eher eine Seltenheit. Die psychische Belastung infolge einer solchen Instabilität der Kniescheibe umfasst ein mangelndes Vertrauen in das Knie, ein Vermeidungsverhalten bis hin zur sozialen Isolation und dem Gefühl, nicht verstanden zu werden [29, 53]. Hier ist eine adäquate Einordnung der psychischen Problematik wichtig. Es handelt sich keineswegs um ein subjektives Instabilitätsgefühl, sondern um eine bildgebend und klinisch sicher verifizierbare Instabilität. Ein mangelndes Vertrauen in das Knie und dessen Folgen sind kein Ausdruck von psychischen Problemen, sondern eine logische Konsequenz der zu Grunde liegenden Pathologie.

Konservative und operative Möglichkeiten

Nachdem das MPFL in anatomischen und biomechanischen Studien, insbesondere in den strecknahen Positionen, das wesentliche Band zur Stabilisierung der Kniescheibe darstellt [2], sollte es in der konservativen oder operativen Therapie entsprechend adressiert werden. Konservativ kann eine annähernd anatomische Abheilung des MPFL mit einer möglichst rezentrierten Stellung durch eine limitierbare Orthese und/oder Tapeanlagen positiv beeinflusst werden. Entsprechend anatomischer Untersuchungen ist das MPFL zwischen 15 und 30° maximal entspannt und maximal medial positioniert. In Richtung Vollstreckung < 20° und bei Beugung > 45–60° nimmt die Lateralisation der Kniescheibe und die Spannung des MPFL zu [3, 49]. Somit begünstigen Orthesen, die die volle Streckung < 20° sowie die tiefe Beugung > 60° limitieren, die möglichst medialisierte und kompakte narbige Abheilung des gerissenen MPFL.

Aufgrund der bei den Erstluxationen häufig zu findenden Knorpelschäden und Knorpel-Knochen-Frakturen, der meist zu findenden Hämatom- und Hämarthrosbildung, sowie der häufigen Mitbeteiligung der medialen Vastus-Muskulatur empfiehlt sich neben der Orthesenversorgung eine initiale Eistherapie und eine Entlastung über 2 Wochen an Unterarmgehstützen, um einer Inflammation entgegenwirkenden [81]. In dieser Zeit ist ein kurzfristiges MRT sinnvoll, um bei chondralen oder osteochondralen Verletzungen eine Entfernung freier Gelenkkörper oder eine Refixation zu ermöglichen. Nach einer Orthesenbehandlung über 4–6 Wochen erfolgt dann die Physiotherapie bspw. zum Auftrainieren der knieführenden Muskulatur.

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