Übersichtsarbeiten - OUP 02/2024

Akute und chronische Kniescheibeninstabilität
Diagnostik, konservative Therapie und chirurgische Konzepte von Schäden des MPFL, von Trochleadysplasien sowie anderen knöchernen Pathologien

Kommt es zu wiederholten Luxationen, wird das MPFL-Band fortlaufend geschädigt, sodass die kniescheibenstabilisierende Funktion zunehmend verloren geht. Man spricht von einer Insuffizienz des MPFL-Bandes. Eine Ausheilung ist in solchen Fällen nicht mehr möglich. Es entsteht eine chronische Instabilität mit fortschreitenden Knorpelschäden und schließlich das Bild einer Femoropatellararthrose [52, 54].

Das Trochlea-Gleitlager

Normalerweise ist die Gleitrinne ausreichend tief geformt, sodass sie auch bei Drehbewegungen des Oberschenkels die Patella effektiv stabilisiert (Abb. 1a, e). Bei einer Fehlbildung ist das Gleitlager abgeflacht bzw. nicht mehr vorhanden (Abb. 1f, g, i, j). Bei den Patientinnen und Patienten mit einer Instabilität der Kniescheibe findet sich eine solche knöcherne Fehlbildung des Gleitlagers, die sog. Trochleadysplasie in mehr als 85 % der Fälle [13, 33]. Die gebräuchlichste bildgebende Einteilung von Trochleadysplasien wurde von dem französischen Kollegen Henri Dejour beschrieben. Er unterteilte die Schweregrade in die Typen A–D, welche am besten auf horizontal verlaufenden Querschnitten der Magnetresonanztomografie (MRT) und Computertomografie (CT) zu beurteilen sind [12]. Entscheidend für die Beurteilung ist, dass in den Schichtbildern ausschließlich die kranialen Schichten des Kniescheibengleitlagers herangezogen werden. Betrachtet man hingegen weiter unten gelegene Schichten des Gleitlagers, so wird man regelmäßig fehlerhafte Ergebnisse mit falsch negativen Befunden erzielen. Dies birgt die Gefahr einer fehlerhaften Therapieentscheidung mit der Patientin/dem Patienten.

Dejour unterscheidet eine leichte Gleitlagerdysplasie (Typ A) mit einem vergrößertem Sulkuswinkel > 145° (Abb. 1f) und die schweren Formen (Typ B–D), in denen im oberen Bereich kein Sulcus mehr nachweisbar ist. Bei der schweren Dysplasieform Typ B ist die äußere der beiden Gelenkflächen, die normalerweise nach innen abfällt und in der Mitte eine Gleitrinne bildet, flach. Der laterale Inklinationswinkel (LTI) (Abb. 1e) ist reduziert (Abb. 1g). Ist die laterale Trochlea konvex geformt, spricht man vom Typ C (Abb. 1i). Ist die laterale Trochleafacette gegenüber der medialen überhöht, sodass sich eine Art Stufe findet, handelt es sich um den Typ D (Abb. 1j). Bei allen 3 schweren Formen (Typ B–D) geht die stabilisierende Funktion der lateralen Gelenkfläche verloren [12]. Aus diesem Grund gilt die Trochleadysplasie neben einer Bandinsuffizienz als der wesentliche prädisponierende Faktor für eine Instabilität der Kniescheibe. Der laterale Inklinationswinkel reduziert sich oder er wird sogar negativ, so dass es sich vielmehr um eine knöcherne „Rutsche“ nach lateral als um ein stabilisierendes knöchernes Widerlager handelt (Abb. 1i, j). Die Trochleadysplasie ist der bedeutendste und häufigste Risikofaktor für eine rezidivierende Luxation der Kniescheibe, wohingegen ein Patellahochstand oder eine erhöhte Distanz zwischen Gleitrinne und Ansatz des Patellarbandes (Tuberositas tibiae-Trochlear Groove Distanz, TT-TG) (Abb. 1h) sowohl hinsichtlich deren Häufigkeit und Bedeutung zurückstehen [33]. Diverse Studien und Metaanalysen zeigen, dass v.a. die höhergradige Trochleadysplasie Typ B–D berücksichtigt werden sollte, um ein gutes klinisches Outcome sicherzustellen und Rezidivluxationen effektiv zu vermeiden [5, 24, 47, 50, 68, 75].

Klinische Untersuchung

Klinisch sind v.a. spezifische Funktionstests in verschiedenen Beugegraden hilfreich, um die knöcherne und weichteilige Führung der Kniescheibe zu beurteilen. Bittet man die Patientin/den Patienten das Bein auszustrecken, gewinnt man einen ersten Eindruck zum Patella-Alignment. Gleitet die Patella kurz vor dem Erreichen der vollen Streckung ähnlich zu einem umgedrehten J von der normalerweise geraden Strecke nach außen ab, so gilt das J-Sign als positiv. Dieser Befund findet sich bei einer ausgeprägten Instabilität. Besser geeignet sind spezielle Stabilitätsprüfungen. Sehr gut lässt sich eine Instabilität der medialen Bandstrukturen sowie eine Insuffizienz der knöchernen Führung durch eine passive Lateralisation der Patella in verschiedenen Beugegraden am locker hängenden Bein überprüfen. Die Patella sollte bei 20°- und 30°-Flexion nicht mehr als die Hälfte ihrer Breite lateralisierbar sein [67]. Liegt neben einem insuffizienten MPFL eine Trochleadysplasie vor, so ist die Translation nach lateral nicht nur in strecknahen Positionen, sondern auch bei leicht vermehrten Beugegraden zwischen 30° und 60° erhöht.

Auch die Apprehensiontests sind zur Beurteilung der weichteiligen sowie knöchernen Stabilität gut geeignet. Bewegt man das Knie von einer Beugung von maximal 30° in eine Vollstreckung und zeigt die Patientin/der Patient unter leichter Lateralisation der Patella eine Abwehrreaktion, die bspw. in der Mimik, v.a. aber in einer vermehrten Muskelspannung erkenntlich ist, so gilt der Test als positiv. Neben dem weichteiligen Apprehensiontest in strecknahen Positionen folgt dann der knöcherne Abwehrtest bei höheren Beugegraden. Hier wird die Stabilität, die normalerweise durch die Trochlea gesichert wird, beurteilt. Ist der Apprehensiontest somit bei Beugegraden zwischen 30 und 60° positiv, so weist dies auf eine zusätzliche Insuffizienz der knöchernen Führung. Neben der häufigen Trochleadysplasie kann auch ein höhergradiger Rotations- oder Achsfehler des Femurs zugrunde liegen.

Als zweiten Schritt empfehlen wir besonders den sog. „Moving patellar Apprehensiontest“ nach Ahmad. Dieser Test lässt sich nach dem weichteiligen und knöchernen Apprehensiontest gut beurteilen, da er nun auf der verminderten Abwehrreaktion in den verschiedenen Beugegraden beruht. Hierzu wird die Kniescheibe beim Durchbewegen durch den Zeigefinger nach medial translatiert bzw. gehalten. Die Testung gilt als positiv, wenn die zuvor beobachtete Apprehensionssymptomatik durch eine simulierte Stabilisierung der Kniescheibe abgeschwächt wird. Ahmad zeigte, dass dieser zusätzliche Test eine vglw. hohe Sensitivität aber auch eine hohe Spezifität bei der Diagnostik der Patellainstabilität aufweist [1]. Sind die knöchernen Stabilitäts- und Apprehensiontests positiv und finden sich korrespondierende MR- oder Röntgenbefunde einer schweren Dysplasie, also Typ B–D nach Dejour, deutet dies auf die Notwendigkeit einer knöchernen Containmentanpassung.

Achs- und Rotationsfehler

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