Informationen aus der Gesellschaft - OUP 10/2016
Medizinische Ökonomie und EthikVortrag anlässlich der 64. Jahrestagung der VSOUDer Mensch als Kostenfaktor: Ein Plädoyer gegen die Ökonomisierung des Alltags und des GesundheitswesensWarum aus der Medizin keine Industrie werden darf
Von Prof. Dr. Heribert Prantl
Dieser Vortrag ist ein Plädoyer gegen die umfassende Ökonomisierung des Alltags und die umfassende Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Dieser Vortrag ist ein Plädoyer gegen die Sucht, das ganze Leben und auch noch das Sterben am Lineal der Ökonomie zu messen.
Dieser Vortrag ist ein Plädoyer gegen die umfassende Verbetriebswirtschaftlichung der Medizin, gegen Modernisierungsgesetze, die Kommerzialisierungsgesetze sind. Es ist dies ein Vortag gegen Versorgungsstärkungsgesetze, die den Einzelpraxen und den kleinen Gemeinschaftspraxen das Leben und das Überleben schwer machen.
Dieser Vortrag ist kein Plädoyer gegen Medizinische Versorgungszentren; er ist aber ein Plädoyer gegen blanke Umsatzorientierung. Er ist ein Plädoyer für ein heilungsorieniertes Gesundheitswesen, ein Plädoyer für eine sehr persönliche ärztliche Betreuung, also gegen anonyme Organisationsstrukturen. Gesetze, die „Versorgungsstärkungsgesetze“ heißen, haben vielleicht schon den falschen Namen. Es muss letztendlich immer darum gehen, das Vertrauen zwischen Arzt und Patient zu stärken – und diesem Vertrauen eine gute wirtschaftliche Grundlage zu geben. Dies vorweg, als Präambel zu meinem Vortrag, dessen Untertitel mit dem Satz endet: „Warum aus der Medizin keine Industrie werden darf.“
Erwarten Sie keinen medizinischen Fachvortrag; die Fachleute dafür sitzen hier im Saal. Ich bin von meiner Ausbildung her Jurist, war Richter und Staatsanwalt in Bayern, habe dann die Profession gewechselt, bin vor 28 Jahren Journalist geworden. Mein Vortrag fasst nun die Beobachtung eines Publizisten zusammen, dem der Sozialstaat und ein soziales Gesundheitswesen angelegen sind – und der die immer stärkeren Tendenzen zur Kommerzialisierung des gesamten Lebens kritisch kommentiert.
Zu den merkwürdigsten Abschnitten meines Lebens gehört der, den ich als Angestellter in Alfred Wunsiedels Fabrik zubrachte ... Ich hatte mich der Arbeitsvermittlung anvertraut und wurde mit sieben anderen Leidensgenossen in Wunsiedels Fabrik geschickt, wo wir einer Eignungsprüfung unterzogen werden sollten. Ich wurde als erster in den Prüfungsraum geschickt, wo auf reizenden Tischen die Fragebögen bereitlagen.
Erste Frage: „Halten Sie es für richtig, dass der Mensch nur zwei Arme, zwei Beine, Augen und Ohren hat?“. Hier erntete ich zum ersten Mal die Früchte meiner mir eigenen Nachdenklichkeit und schrieb ohne zu zögern hin: „Selbst vier Arme, Beine und Ohren würden meinem Tatendrang nicht genügen. Die Ausstattung des Menschen ist kümmerlich.“ Zweite Frage: „Wie viele Telefone können Sie gleichzeitig bedienen?“ Auch hier war die Antwort so leicht wie die Lösung einer Gleichung ersten Grades: „Wenn es nur sieben Telefone sind“, schrieb ich, „werde ich ungeduldig, erst bei neun fühle ich mich völlig ausgelastet.“ Dritte Frage: „Was machen Sie nach Feierabend?“ Meine Antwort: „Ich kenne das Wort Feierabend nicht mehr – in meinem fünfzehnten Lebensjahr strich ich es aus meinem Vokabular, denn am Anfang war die Tat!“ Ich bekam die Stelle.
Es handelt sich, meine Damen und Herren, natürlich nicht um eine Episode aus meinem Lebenslauf, sondern um eine Geschichte, die Heinrich Böll schon vor Jahrzehnten geschrieben hat. Es könnte sich um die Beschreibung einer Prüfung bei einer Sozial- und Arbeitsagentur im Jahr 2025 handeln, vielleicht auch um den Einstellungstest für Verwaltungskräfte bei einer Krankenhausholding im Jahr 2020. Verlangt wird der grenzenlos flexible, unbeschränkt belastbare Arbeitnehmer, unglaublich gesund, unglaublich robust und leistungsfähig. Die Frage lautet: Wollen wir eine solche Gesellschaft, eine Gesellschaft, in der es überall zugeht wie in der Wunsiedler Fabrik – in der unbegrenzte Leistungsfähigkeit zählt und nichts sonst, in der der Marktwert zählt, in der der Wert des Menschen nur am Lineal der Ökonomie gemessen wird, daran, was er leisten kann? Wollen wir ein solches Gesundheitswesen – in dem der Wert des Menschen daran gemessen wird, was sich an ihm und mit ihm verdienen lässt?
Bleiben wir zunächst beim Menschenbild der modernen Ökonomie: Der bloße homo faber ist Vergangenheit. Er war der Mensch der Moderne. In der Postmoderne reicht es nicht mehr, wenn der homo faber, der Mensch einfach arbeitet. Es muss ein homo faber mobilis sein. Er soll in höchstem Maß flexibel, mobil und anpassungsfähig sein. Seit langem wird daher so getan, als sei ein Mensch, wenn er keine Arbeit hat und auch keine kriegt, schlichtweg nicht ausreichend flexibel, mobil und anpassungsfähig. An der Arbeitslosigkeit ist also angeblich nicht zuletzt derjenige selbst schuld, der keine Arbeit hat – wäre er genügend mobil, flexibel und anpassungsfähig, wäre er also nicht zu bequem, dann hätte er ja Arbeit. Viele Wirtschaftsinstitute und Politiker verlangen daher den neuen Menschen, den homo faber novus mobilis, den Menschen also, der über seine Grenzen und Behinderungen hinauswächst. Verlangt wird der perfekte Mensch. Das Krankenhaus ist aus dieser Warte keine soziale, sondern eine mechanistische Einrichtung – ein Pendant zur Kfz-Werkstätte. Da werden Teile ausgewechselt, da wird lackiert und repariert, solange es sich rentiert und rechnet.
Das Menschenbild des modernen Ökonomen ist also der homo faber novus mobilis. Die Realität kennt da freilich gewisse Grenzen: Im Gegensatz zu den Schnecken trägt der Mensch seine Behausung nicht mit sich herum. Und er hat, auch deshalb, weil er auch im Gegensatz zu den Schalenweichtieren kein Zwitter ist, andere soziale Bedürfnisse, die sich unter anderem darin äußern, dass er einen Lebenspartner sucht, eine Familie gründet, im Sport- oder Gesangsverein aktiv ist, dass seine Kinder zur Schule gehen und Freunde haben. Das setzt der ganz großen unentwegten Mobilität, der unbegrenzten Einsetzbarkeit und Verfügbarkeit, gewisse Schranken. Der „Wunsiedel-Mensch“, man kann ihn auch den Agenda-2010-Menschen nennen, ist offenbar anders: Er ist ein Mensch ohne Kinder, ohne Familie und ohne soziale Beziehungen.
In den vergangenen 20 Jahren konnte man eine eigenartige Beobachtung machen: Je herablassender über den Sozialstaat geredet wurde, umso kälter wurde auch der Ton in den Betrieben – „das Soziale“ insgesamt verlor seinen Stellenwert. Das gilt in Krankenhäusern genauso wie in Zeitungsredaktionen oder Autokonzernen. In den vergangenen 20 Jahren tat man so, als sei für „das Soziale“ nur noch eine bestimmte Kaste von Samaritern (Kirche, Sozialarbeiter, die Caritas und die Lebenshilfe) zuständig. Ansonsten habe das Soziale nicht mehr viel zu melden, stattdessen hätten die Gesetze des Marktes zu gelten. Die funktionieren nach dem Pater-Noster-Prinzip, Sie kennen diese alten Aufzüge, die diesen Namen tragen; da ist es so: Der gesunde, gewandte und leistungsfähige Mensch kann aus den offenen Fahrkörben jederzeit ein- und aussteigen. Der Behinderte und Kranke kann ihn nicht benutzen. Er bleibt draußen, er wird nicht befördert.
Bei der sogenannten Euro-Rettung zeigte sich freilich, dass auch die Menschen, die nicht behindert und nicht krank sind, wenig zählen. Bei der Euro-Rettung wurden bekanntlich ungeheuer große Schutzschirme für Banken und Euro aufgespannt. Aber: Gerettet wurden und werden nicht Menschen. Gerettet werden Schuldverhältnisse, Finanzbeziehungen, Machtgefüge, Wirtschaftssysteme; Sie sollen überleben. Ob und wie Menschen dabei überleben, ist sekundär. Bei den Nachrichten aus den EU-Südländern über die Folgen der Sparprogramme bei der Bevölkerung erinnerten sich manche an einen medizinischen Kalauer, der hier bittere Realität wird: Operation gelungen, Patient tot.
Rettungsschirm, Rettung? Man liest in der Zeitung von der spanischen Mutter, die sich aus dem Fenster stürzt, weil sie mit ihren Kindern aus der Wohnung gewiesen wird. Und in Griechenland ist es so: „Wir haben hier keinen Gips“, sagt ein Arzt des Krankenhauses der Ost-Ägäis-Iinsel Chios. Die Verwandten der Patienten müssen selbst Gips kaufen, damit die Ärzte gebrochene Arme und Beine behandeln können; so berichtete es die Athener Zeitung „Ta Nea“. Und im Krankenhaus der mittelgriechischen Stadt Larisa gibt es kein Toilettenpapier mehr. Im griechischen Serres an der bulgarischen Grenze fehlen Katheter – die Verwandten der Patienten müssen sie selbst aus den Apotheken holen. In Heraklion auf Kreta können Wunden nicht mehr gründlich gereinigt werden, da Pharma-Alkohol und medizinische Handschuhe Mangelware sind. Während das öffentliche Gesundheitssystem vor dem Kollaps steht und Patienten nach Hause schicken muss, fehlen den teureren privaten Kliniken die Kunden: „Die Menschen haben kein Geld mehr. Wir haben nur noch halb so viele Patienten wie vor drei Jahren“, sagt ein Arzt des größten Privat-Krankenhauses nahe der Hafenstadt Piräus.
So vielen Griechen und Millionen von arbeitslosen Jugendlichen in den EU-Südländern ergeht es so wie Gustl Mollath, dessen Fall in Deutschland so viele Menschen erregt hat: Mollath wurde zur angeblichen „Sicherung und Besserung“ (so nennt man diese Maßnahmen in der Juristerei) in die Psychiatrie eingewiesen – wo sich alles verschlechterte. Rette sich, wer kann vor solcher Rettung!
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ein Sozialstaat ist ein Staat, der gesellschaftlichen Risiken, für die der einzelne nicht verantwortlich ist, nicht bei diesem ablädt. Er verteilt, weil es nicht immer Manna regnet, auch Belastungen. Aber dabei gilt, dass der, der schon belastet ist, nicht auch noch das Gros der Belastungen tragen kann. Ein Sozialstaat gibt nicht dem, der schon hat; er nimmt nicht dem, der ohnehin wenig hat. Er schafft es, dass sich die Menschen trotz Unterschieden in Rang, Talenten und Geldbeutel auf gleicher Augenhöhe begegnen können. Der Sozialstaat ist der große Ermöglicher. Er ist mehr als ein liberaler Rechtsstaat, er ist der Handausstrecker für die, die eine helfende Hand brauchen.
„Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen“ – so steht es in der Präambel der schweizerischen Verfassung vom 18. April 1999. Das ist ein mutiger Satz, weil die Stärke eines Volkes, die Stärke eines Staates, auch die Stärke Europas gern an ganz anderen Faktoren bemessen wird. Die einen messen sie am Bruttosozialprodukt und am Exportüberschuss, die anderen reden dann vom starken Staat, wenn sie mehr Polizei, mehr Strafrecht und mehr Gefängnis fordern. Kaum jemand fordert den starken Staat, wenn es darum geht, soziale Ungleichheit zu beheben und etwas gegen die Langzeitarbeitslosigkeit zu tun. Kaum jemand sagt „starker Staat“, wenn er die Verknüpfung von Sozial- und Bildungspolitik meint. Kaum jemand redet von der „Stärke eines Volkes“, wenn es darum geht, Menschen mit geistiger Behinderung schulisch und beruflich zu integrieren. Kaum jemand redet von der „Stärke eines Volkes“, wenn es um ein leistungsfähiges und menschliches Gesundheitswesen geht.
Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen – das ist ein starker Satz, auch wenn es wohl so ist, dass schon die Bezeichnung „Schwache“ infiziert ist von den Ausschließlichkeitskriterien der Leistungsgesellschaft. Ich bin der Meinung: Der starke Staat ist ein Staat, der für Chancengleichheit sorgt, der sich um das Wohl der Schwachen kümmert – und dabei allmählich lernt, dass die Schwachen gar nicht so schwach sind, wie man oft meint und dann ihre Stärken, die Perfektion des Imperfekten, zu schätzen lernt. Ein starker Staat ist der Staat, der dafür sorgt, dass die Fürsorge im Gesundheitswesen ein wichtiger, ja der wichtigste Wert bleibt.
Im Titel meines Vortrags steht das Wort „Ökonomie“ und im Untertitel steht etwas vom „Kostenfaktor Mensch“. „Kostenfaktor“ – das ist eigentlich ein ziemlich widerliches Wort, wenn es um Menschen geht. Streichen wir einmal das Wort „Kosten“ weg, nehmen wir nur das Wort „Faktor“: Faktor ist ein „Umstand“, einer, der in einem bestimmten Zusammenhang bestimmt Auswirkungen hat. Das Leben hat so viele bestimmende Faktoren – und die sind so unendlich verschieden und nicht unbedingt gerecht.
Das Leben beginnt ungerecht und es endet ungerecht, und dazwischen ist es nicht viel besser. Der eine wird mit dem silbernen Löffel im Mund geboren, der andere in der Gosse. Der eine zieht bei der Lotterie der Natur das große Los, der andere die Niete. Der eine erbt Talent und Durchsetzungskraft, der andere Aids und Antriebsschwäche. Die Natur ist ein Gerechtigkeitsrisiko. Der eine kriegt einen klugen Kopf , der andere ein schwaches Herz. Bei der einen folgt einer behüteten Kindheit eine erfolgreiche Karriere. Den anderen führt sein Weg aus dem Ghetto direkt ins Gefängnis. Die eine wächst auf mit Büchern, der andere mit Drogen. Der eine kommt in eine Schule, die ihn stark, der andere in eine, die ihn kaputt macht. Der eine ist gescheit, aber es fördert ihn keiner; der andere ist doof, aber man trichtert ihm das Wissen ein. Der eine ist sein Leben lang gesund, die andere wird mit einer schweren Behinderung geboren.
Die besseren Gene hat sich niemand erarbeitet, die bessere Familie auch nicht. Das Schicksal hat sie ihm zugeteilt. Es hält sich nicht an die Nikomachische Ethik. Es teilt ungerecht aus und es gleicht die Ungerechtigkeiten nicht immer aus. Hier hat der Sozialstaat seine Aufgabe. Er sorgt dafür, dass der Mensch reale, nicht nur formale Chancen hat. Der Sozialstaat ist, mit Maß und Ziel, Schicksalskorrektor. Er erschöpft sich also nicht in der Fürsorge für Benachteiligte, sondern zeigt auch auf den Abbau der strukturellen Ursachen. Madame de Meuron, die 1980 gestorbene „letzte Patrizierin“ von Bern, sagte einem Bauern, der sich in der Kirche auf ihren Stuhl verirrt hatte. „Im Himmel sind wir dann alle gleich, aber hier unten muss Ordnung herrschen“. Ist das die Ordnung, die wir uns vorstellen? Die Ordnung, die sich der Sozialstaat vorstellt, ist das nicht, die Ordnung, die sich die Demokratie vorstellt, ist das nicht.
„Faktor“ – heißt doch eigentlich „Macher“, „Schöpfer“. Der Kranke ist aber gerade kein Macher mehr, darum ist das Wort hier besonders zynisch, er ist nur noch ein Kostenmacher. Das ist aber typisch, weil der Lebensmodus, auf den uns das ökonomische System programmiert, nur noch der des Machen und nicht der des Erleidens ist. Die empathischen Fähigkeiten werden völlig ausgeblendet, gehören aber unbedingt ins Gesundheitssystem hinein, bei Ärzten und Patienten: also nicht nur machen, diagnostizieren, schneiden, kurieren, therapieren, sondern auch: erdulden, aushalten, warten, Zeit lassen, fragen, was man tun kann, wenn nichts mehr zu machen ist.
Bleiben wir beim Wort „Kostenfaktor“, Kostenmacher. Neuerdings denkt man dabei an die alten und dementen Menschen. Vor einiger Zeit wurde ein Vorschlag diskutiert, pflegebedürftige Menschen ins Ausland zu exportieren, dorthin, wo Pflege billiger ist. Kranken- und Pflegekassen zeigen sich daher eher interessiert am Greisen-Export, an der grenzüberschreitenden Altenverbringung, als einem alternativen Pflegemodell. Pflegeheime in Thailand, Spanien oder Osteuropa sind billiger als deutsche Pflegeheime. Sogenannte Träger erwägen, Pflegeverträge mit Heimen im Ausland zu schließen; zum Teil wird das Auslandsheim als Geschäftsmodell schon betrieben. Pflege in Deutschland ist angeblich zu teuer; immer mehr alte Menschen können sie sich nicht mehr leisten; Staat und Pflegekassen wollen sie nicht mehr leisten. Viele Pflegebedürftige müssen „Hilfe zur Pflege“ beantragen. Und die Kinder der Alten fürchten, dass die Sozialkasse dann auf sie zurückgreift, um diese Sozialhilfe wieder einzutreiben.
Das ist die Gemengelage, in der die verrückte Idee vom Greisen-Export entstand. Ich habe mich gefragt, ob künftig auch Kinder exportiert werden sollen, wenn die Kindergärten hierzulande zu teuer werden.
Indes: Wenn Rente plus Pflegezuschuss nicht reichen, um die Pflege im Alter zu finanzieren, ist das nicht die Schuld von Alten, die ihr Leben lang gerackert haben. Es ist die Schuld einer unzulänglichen Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik. Und es ist die Schuld eines abenteuerlich falschen Pflegekonzepts, das sich nun seit Jahrzehnten auf die Unterbringung in Heimen konzentriert. Die Kritiker sprechen von der „Pflegeindustrie“: Vorhang zu, Mund auf, schneller schlucken! Gewiss: Es gibt Zustände, die zum Himmel schreien. Aber pauschale Verurteilung wird der Fürsorglichkeit auch nicht gerecht, die es in Heimen auch gibt. Richtig ist: Die Fixierung der Politik auf das Heimkonzept ist teuer und altenfeindlich. Sie reißt Menschen aus ihrer Umgebung heraus, statt sie dort so lang wie möglich leben zu lassen.
Häusliche Pflege wird nicht belohnt, sondern bestraft: Das Geld der Sozialkassen fließt nur in die teure stationäre Pflege. Pflege zu Hause zahlt die Familie, durch Gehaltseinbußen oder Finanzierung einer Billigkraft aus dem Ausland, die offiziell als Haushaltshilfe firmiert. Das alles zeigt: Ein Land, das zwar die besten Maschinen der Welt bauen kann, ist bisher nicht in der Lage, ein anständiges und kluges Pflegekonzept zu entwickeln.
In einer guten Generation wird jeder fünfzehnte Deutsche pflegebedürftig sein. Die Erfinder des Oma- und Opa-Exports sprechen vom „alternativen Pflegemodell“. Das ist bösartig. Alternative Pflegemodelle sind etwas anderes: Wohngemeinschaften, Wohnpflege-Gruppen, Gastfamilien, Betreutes Wohnen. Es geht bei den Alternativen zum Heim um Betreuung und Begleitung im Quartier, also im Stadtviertel, in einer gewohnten und vertrauten Umgebung, in der die Alten nicht separiert werden, sondern mittendrin sind. Weil so oft kleine Alltagshilfen und Prävention fehlen, müssen alte Menschen zu schnell in „Pflegestufe 1“ eingruppiert werden; das kostet. Alternativen beginnen schon mit simplen Überlegungen dazu, wie man, solange es geht, den „Pflegefall“ vermeiden kann.
Wenn ein Greisen-Export allen Ernstes erwogen und als Geschäftsmodell propagiert wird, hat das auch sein Gutes: Es geht daraufhin – hoffentlich – ein Ruck der Beschämung durchs Land. Die Zwangs-Entsorgung der Alten wäre ein Akt der Verrohung der Gesellschaft. Ein Gemeinwesen, das solches plant, ist kein Gemeinwesen, sondern nur noch gemein. Deutschland schwimmt derzeit in Steuereinnahmen. Mit fünf Milliarden Euro könnten sämtliche Pflegebedürftigen gut gepflegt werden. Ist es populistisch, das zu fordern? Nein, es ist notwendig, weil das Grundvertrauen der Bürger nicht zerstört werden darf – das Vertrauen darin, gesellschaftliche Hilfe dann zu bekommen, wenn man sie ganz dringend braucht.
Der Tod ist weggerückt aus dem Leben, man begegnet ihm in erster Linie auf dem Bildschirm, mitten in der Wohnung zwar, aber anonym. Dafür rückt einem der Vor-Tod näher: Der Mensch, der einem vertraut war, verschwindet. Entgeistert steht man vor dessen Veränderung, die einem als dessen Entgeistigung erscheint. Und mit dem Geist, so glauben die meisten, verschwindet die Würde. Das ist falsch: Die Würde verschwindet nicht; sie wird einem genommen in einem Gesundheitssystem, das Pflege auf das Allernotdürftigste beschränkt. Solche Würdelosigkeit im Leben ist für viele schlimmer als der Tod, sie ist ein langer Karfreitag – gewindelt, gefüttert, verlacht und verspottet; gekreuzigt, gestorben und begraben.
Wer der Demenz begegnet, begegnet der eigenen Angst; mit ihr bleibt jeder allein in einer Welt, die auf Leistung getrimmt ist: der Angst davor, die Kontrolle über sich zu verlieren; der Angst davor, umfassend angewiesen zu sein auf andere; der Angst davor, nicht mehr zu wissen, wer man selber ist. Gunter Sachs, der Bonvivant und Kosmopolit, hat sich deswegen erschossen. Niemandem steht ein Urteil über einen solchen selbstbestimmten Austritt aus dem Leben zu. Es ist eine Entscheidung, die zu respektieren ist – umso mehr, als die Gesellschaft den Respekt vor dementen Menschen vermissen lässt. Nicht selten erinnert die Pflege der Alten weniger an Pflege als an Strafe dafür, dass sie so alt geworden sind.
In die Lebens- und Arbeitswelt der Noch-nicht-Alten passen die Alten nicht. Viele Familien nehmen es gleichwohl auf sich, ihre Alten zu Hause zu pflegen. Diese Pflege in der Familie verlangt ungeheure Anstrengung; früher hat man Aufopferung dazu gesagt. Eine bezahlbare Haus-Betreuung durch Fachkräfte gibt es nicht. Eine Kultur, die die Lebenszeit so sehr verlängert hat, hat noch keine Antwort auf die Fragen gefunden, die damit einhergehen. Sie hat nicht die Kraft, die Menschen in Würde alt und lebenssatt werden zu lassen. Eine Gesellschaft ist aber verrückt, wenn diese Alten in dieser Gesellschaft nicht in Würde ver-rückt werden können.
Im Jahr 2050 werden in Europa mehr als 70 Millionen Menschen über 80 Jahre alt sein. Bei Aldous Huxley, in seiner „Schönen Neuen Welt“, wird beschrieben, wie alte Menschen in Kliniken entsorgt werden. Sie werden abgeschaltet wie verrostete Maschinen. Kinder werden in diese Entsorgungskliniken geführt und dort mit Schokolade gefüttert, damit sie sich an den Vorgang des Abschaltens gewöhnen und akzeptieren lernen, dass das Leben technisch produziert und technisch beendet wird. So verändert eine pervertierte Marktökonomie das Leben: Sie betrachtet es als Produkt, das der Herstellung und Entsorgung bedarf. Ist das die Gesellschaft, in der man leben will?
Es geht um die, die ein Leben lang gerackert haben und es jetzt nicht mehr können. Sie gelten durch ihre bloße Existenz als Infragestellung dessen, was für normal gehalten wird: Leistung, Fitness, Produktivität. Ein System aber, das nicht in der Lage ist, sich um die Alten zu kümmern, ist selber dement.
Was ist notwendig? Notwendig sind nicht Kostenmanager, betriebswirtschaftliche Abrechnungen, Gewinn- und Verlust-Rechnungen. Notwendig ist die Auferstehung von Nächstenliebe und wärmender Fürsorge; das System muss aus seiner Hölle gezogen werden. Jeder zweite 85-Jährige in Deutschland lebt allein, ist allein. „Ehre Vater und Mutter, auf dass du lange lebst und es dir wohl ergehe auf Erden“. So steht es im vierten der zehn Gebote. Das klingt antiquiert, ist es aber nicht. Dies Gebot fordert eine Gesellschaft, in der Alte nicht Angst haben müssen, in die Wüste geschickt zu werden.
„Kinder sind unsere Zukunft“ – das hört man in der Politik jeden Tag. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Zur ganzen gehört: Auch die Alten sind „unsere Zukunft“, denn die Zukunft ist das Alter. Der Respekt vor den Kindern und der Respekt vor den Alten gehören zusammen; er ist das Band, welches das Leben umspannt. Zu diesem Respekt gehört es, dass Alte auch in Ruhe ver-rückt werden dürfen. Das rückt die Gesellschaft gerade.
Lassen Sie mich nun – in der Mitte meines Vortrag – näher ans Krankenhaus rücken – noch einmal beginnend mit einer persönlichen Geschichte. Als vor über zehn Jahren mein Vater im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder zu Regensburg im Sterben lag, ging ich dort oft an dem Porträt eines lächelnden Mönches vorbei. Es zeigt den Frater Eustachius Kugler. Ab und zu blieb ich ein wenig sinnierend vor dem Bildnis dieses Mannes stehen, über den in den Gottesdiensten meiner Kindheit oft gepredigt worden war. Dieser Frater Eustachius, so der Ordensname, wurde 1867, also in dem Jahr, in dem Karl Marx den ersten Band seines Werkes „Das Kapital“ herausgab, als Sepperl, als sechstes Kind der Kleinlandwirts-Eheleute Kugler in Neuhaus, das zu meinem Heimatort Nittenau gehört, geboren. Er war von 1925 bis zu seinem Tod im Jahr 1946 Provinzial der Barmherzigen Brüder in Bayern und hat in Regensburg die großen Krankenhäuser seines Ordens gebaut.
Und weil in den 60er Jahren, als ich ein Ministrant in einer katholischen Pfarrei war, im Vatikan der Prozess zur Seligsprechung dieses Fraters Eustachius Kugler eingeleitet worden war (mittlerweile ist Eustachius Kugler zur „Ehre der Altäre“ erhoben) habe ich damals in meiner katholischen Pfarrei viel von ihm gehört. In der Erinnerung geblieben ist mir vor allem eines: Dass Eustachius in seinen Krankenhäusern die „klassenlose“ Krankenpflege angeordnet hat. Dem Oberkrankenpfleger gab er als Provinzial die Weisung: „Tut mir vor allem die armen, die bedürftigen Schwerkranken pflegen, um die sich sonst niemand recht kümmert. Wenn ein Bischof oder sonst ein höher Würdenträger als Patient kommt, dann braucht man nicht so zu laufen, weil genug andere da sind, die sie schon in jeder Hinsicht betreuen!“ Das hat mir schon damals, als Ministrant in Nittenau in der Oberpfalz, recht imponiert – und der Satz gefällt mir heute immer noch.
Welche Anweisung der Ordensmann wohl heute geben würde? Würde er seine Ärzte auffordern, nicht auf das Alter der Patienten als Behandlungsmaßgabe zu starren?
Nach aktuellen Untersuchungen entfallen ein Viertel der medizinischen Kosten eines Lebens auf das letzte Lebensjahr. Es gibt daher Ökonomen, darunter der Wirtschafts-Nobelpreisträger Gary Becker, die fordern, die Gesundheitsausgaben gegen Ende des Lebens zu begrenzen. „Den Tod um ein paar Monate hinauszuzögern, kann“, so argumentiert der Nobelpreisträger, „Millionen kosten“. Der „technologische Imperativ“ sei daran schuld, nämlich der Wunsch der Mediziner, alles Gelernte und Mögliche anzuwenden, ungeachtet eines sinnvollen Kosten-Nutzen-Verhältnisses. Beckers Forderung, Gesundheitsausgaben bei alten Menschen zu begrenzen, ist höchst umstritten. „Ältere Menschen kosten viel, aber sie haben in ihrem bisherigen Leben auch schon mehr eingezahlt als junge“, halten ihm Kritiker entgegen. Das eine Argument ist so ökonomisch wie das andere.
Ist der Wert des Lebens abhängig vom Alter? Oder abhängig davon, was dieser Mensch in die Krankenkasse einbezahlt hat? Im Übrigen fällt mir ein: Ja, im letzten Lebensjahr fallen die meisten Kosten an. Das kann aber gar kein Argument für die begrenzte Behandlung von Alten sein, denn dieses letzte Lebensjahr bezieht sich auf Alte und Junge. Wenn ein Mensch mit 20 stirbt, hat er unter Umständen mehr Kosten verursacht, als ein Mensch, der mit 90 stirbt. Die Kosten fallen eben nur früher an.
Würde Eustachius die Ärzte ermahnen, die Hochbetagten nicht als Menschen dritter Klasse zu betrachten? Würde er sein Krankenhaus-Management davor warnen, die Gewinnerzielung zur allein handlungsleitenden Kategorie zu machen? Womöglich hielte er seinem Verwaltungschef eine Predigt darüber, was das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter heute besagt. Womöglich würde er in einem Rundschreiben vor dem „Verlust des Mitgefühls“ warnen und vor einer Entwicklung, in der das Geld nicht mehr ein Mittel zum Zweck der Versorgung von Kranken ist, sondern die Versorgung von Kranken ein Mittel ist zum Zweck der Gewinnerzielung
Und womöglich würde dann der Verwaltungschef dem Frater Eustachius Folgendes antworten: „Lieber Provinzial, das haben Sie zwar schön gesagt, aber mit Mitgefühlt allein schreiben wir hier im Krankenhaus rote Zahlen, und die Wahrheit ist leider die, die Bert Brecht in der Dreigroschenoper so formuliert hat: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“. Und dann würde der Ordens- und Gottesmann Eustachius wohl furchtbar zornig werden und sagen, dann könne man ja selbst in einem kirchlichen Krankenhaus statt ein Kreuz künftig ein Bild von König Midas in die Krankenzimmer hängen.
Es ist manchmal so, dass die Büsten und Bilder von Mönchen und auch die ganz realen und leibhaften Ordensschwestern, so es sie noch gibt, in katholischen Häusern mittlerweile bewusst für den „Standortvorteil“ und als „Alleinstellungsmerkmal“ gehandelt werden, also das Krankenhaus marktgängig machen sollen. Eine Theologin hat mir vom Manager eines katholischen Krankenhauses berichtet, der zu ihr gesagt hat: „Die Pinguine lassen wir hier noch rumlaufen, das ist gut für die Außenwirkung beim Patienten.“
Der alte König Midas ist ein Repräsentant unserer Zeit. Er ist sozusagen der Schutzheilige der Ökonomisierung und der Schutzpatron der Rationalisierung. Eine enge betriebswirtschaftliche Rationalität ist an die Stelle der Ratio, der Vernunft der Aufklärung, getreten. Man nennt das Rationalisierung. Sie ist die Rückbeförderung des arbeitenden Menschen in die Unmündigkeit. Zu diesem Zweck bedienen sich die Unternehmen sogenannter Unternehmensberatungen, die das, was auch jeder Pförtner weiß, in die Sprache der Banken übersetzt: dass man sich das Geld für 300 Leute spart, wenn man 300 Leute freisetzt.
Eine solche Entlassung gilt als unternehmerische Leistung. Die eingesparten Kosten fallen in letzter Instanz auf das Gemeinwesen, auf den Steuerzahler. 30-jährige Bubis der Betriebswirtschaft, auf deren Laptop es kein Programm für „soziales Kapital“ gibt, bestimmen nicht selten über Wohl und Wehe. So ökonomisiert und rationalisiert wurden und werden nicht nur Wirtschaftsbetriebe, sondern auch Universitäten, Kinderläden, Schwimmbäder, Bibliotheken – und Krankenhäuser, auch psychiatrische Kliniken, auch Alten- und Pflegeheime. Die Ökonomisierung ergreift auch das ärztliche Handeln und Denken. Und Ökonomisierung meint dabei nicht einfach Wirtschaftlichkeit, das wäre ja in Ordnung, sondern ein neues Denkprinzip und ein neues Menschenbild. Ein radikaler Ökonomismus glaubt ja, er könne auch noch aus einem Gefängnis ein Profit-Center machen. Er glaubt, dass die Summe der rationalisierten Betriebe sich zu einem wunderbaren Standort und zum Wohlstand des Gemeinwesens fügt. Es ist dies wohl ein Midas-Glaube. Midas ist das Urbild des Rationalisierers.
Midas, der König von Phrygien, wollte bekanntlich alles zu Gold machen, und wäre daran fast zugrunde gegangen. Er hatte sich, so geht die Sage, von Dionysos gewünscht, dass alles, was er berühre, zu Gold werde. Als Midas auf dem Heimweg einen Zweig streifte, einen Stein in die Hand nahm, Ähren pflückte, wurden Zweig, Stein und Ähren zu reinem Gold. Das gleiche geschah mit dem Brot, wenn er sich an den gedeckten Tisch setzte. Auch die Getränke und das mit Wein vermischte Wasser, das er sich in den Hals goss, wurde zu Gold. Midas lief Gefahr, vor Hunger und Durst zu sterben, sodass er schließlich Dionysos bat, ihn von dieser verhängnisvollen Gabe zu befreien. Der Gott befreite Midas durch ein Bad in einer Quelle, die seither Goldsand führt.
Unsere Gesellschaft braucht solche befreienden Bäder. Sie berauschte sich zu lange daran, alles zu Gold zu machen –und tut das manchmal immer noch: Sie privatisiert die Wasserversorgung, sie privatisiert das Schul- und Bildungswesen, sie vermarktet die Gene von Pflanzen, Tieren und Menschen. Dabei fehlt die Erkenntnis, die Midas gerade noch rechtzeitig hatte. Diese Erkenntnis lautet: Man kann am eigenen Erfolg auch krepieren. Der Unterschied zwischen Midas und dem radikalen Ökonomismus ist allerdings der, dass an der Sucht des letzteren erst einmal die anderen krepieren – die eingesparten Arbeitskräfte, die Freigesetzten, die Entlassenen, die nutzlos Gemachten. Später leiden dann womöglich auch diejenigen, die man Kunden nennt. Neuerdings nennt man auch in den Krankenhäusern die Patienten immer öfter Kunden.
Der Staat sucht angesichts der gewaltigen Schulden der öffentlichen Hand sein Heil in der Privatisierung seiner Unternehmungen. Er lässt sich, wenn es etwa um die Deutsche Bahn geht, nicht davon irritieren, dass die British Rail seit ihrer Privatisierung immer häufiger neben den Gleisen fährt und die Briten sich dringend die Rückverstaatlichung wünschen. Nicht von ungefähr ereignete sich der große Blackout bei der Londoner U-Bahn etwa eineinhalb Jahre nach der Privatisierung von deren Stromversorgung. Über den letztlich gescheiterten Börsengang der Deutschen Bahn gab es immerhin große Debatten in der Öffentlichkeit. Vergleichbare Debatten hat es darüber, dass Krankenhäuser an der Börse notiert sind, nie gegeben. Was zählt mehr, wenn Krankenhäuser an der Börse notiert sind: Die Bedürfnisse des Shareholders oder die der Patienten? Der dann doch gescheiterte Drang an die Börse hat der Deutschen Bahn nicht gut getan: Die Renditeversprechen, mit denen Investoren angelockt werden sollten, wurden teuer erkauft; Personal wurde entlassen, Ausbesserungswerke wurden geschlossen, Prüfintervalle gestreckt – zum Schaden des Produkts und auf Kosten des Vertrauens der Kunden. Das einstige Vorzeigeunternehmen Bahn ist mittlerweile eher zum Symbol von Unzuverlässigkeit geworden.
„Pflege und Krankheit sind nicht börsen- und renditefähig“, sagt der Münchner Pflegekritiker Claus Fussek. Die Praxis lehrt aber anderes: Private Klinikketten sind an der Börse notiert und machen respektable Gewinne. Die deutsche Krankenhauslandschaft ist im Umbruch. Ländern und Kommunen fehlt das Geld für Investitionen. Zahlreiche kommunale Kliniken kommen aus den roten Zahlen nicht mehr heraus. Viele Dutzend Häuser wurden in den vergangenen Jahren geschlossen. Länder und Kommunen sehen angesichts ihrer leeren Kassen in der Privatisierung ihre letzte Rettung, manche Kliniken werden zu Dumpingpreisen verkauft. Die Fragen liegen auf der Hand: Wird in der Folge das Behandlungsspektrum eingeschränkt, nicht insgesamt, aber für langwierige, teure Krankheiten? Sind die Notarztdienste rund um die Uhr in Gefahr? Die Aktionäre wollen ja Geld sehen. Wo bleibt die Daseinsvorsorge, zu der der Staat verpflichtet ist, wenn Angebot, Nachfrage und Rentabilität angepasst wird? Wo bleiben Arme, Alte und chronisch Kranke?
Nun muss man nicht so tun, als ob bis gestern das Gesundheitswesen nur von bedürfnislosen Samaritern bevölkert gewesen sei und als ob soeben eine feindliche Übernahme durch Leute stattgefunden haben, die mit ihrem schweren Geldbeutel auf Kranke werfen. Natürlich ist im Gesundheitswesen auch immer verdient worden – vielleicht von anderen Leuten als heute, und vielleicht mit anderen Methoden als heute. Die Grundregeln der medizinischen Betriebswirtschaft haben auch gestern und vorgestern schon gegolten: Danach gibt es zwei unerwünschte Zustände: Erstens die Gesundheit und zweitens den Tod. Am gesunden Menschen kann man nämlich noch nicht richtig verdienen und am toten Menschen verdient man gar nichts mehr. Nur ein kranker Kunde ist also ein guter Kunde. Diese Erkenntnis hat zum „Triumph der Medizin“ geführt. Unter dem Titel „Knock oder Triumph der Medizin“ kam 1923 in Paris ein Theaterstück des französischen Schriftstellers Jules Romains auf die Bühne.
Das Stück handelt vom Landarzt Dr. Knock, der die Praxis seines verarmten alten Kollegen Papalaid übernommen und nun seinen Dienst in einem Bergdorf namens St. Maurice angetreten hat. Die Einwohner dort sind wohlauf und gesund und brauchen keinen Arzt. Der alte Paparlaid versucht seinen Nachfolger zu trösten und sagte: „Sie haben hier die beste Art von Kundschaft überhaupt. Man lässt Sie in Ruhe!“ Dr. Knock ist nicht gewillt, sich damit und also mit einem ärmlichen Leben abzufinden. Doch wie nur sollte der Neuling die vitalen Menschen in seine Praxis locken? Was nur sollte er den Gesunden verschreiben? Listig schmeichelt Dr. Knock dem Dorfschullehrer und bringt ihn dazu, Vorträge über die angeblichen Gefahren von Kleinstlebewesen zu halten. er engagiert schließlich den Dorftrommler und lässt ihn ausrufen, der neue Doktor lade alle Bewohner zu einer kostenlosen Konsultation – um eine „unheimliche Ausbreitung von Krankheiten aller Art einzudämmen, die seit einigen Jahren in unserer einstmals so gesunden Region um sich greifen“. Das Wartezimmer füllt sich. In seinen Sprechstunden diagnostiziert Dr. Knock sonderliche Symptome und bläut den unbedarften Dörflern ein, dass sie seiner ständigen Betreuung bedürfen. Viele hüten fortan das Bett und nehmen nur noch Wasser zu sich. Am Ende gleicht das Dorf einem einzigen Hospital. Es bleiben noch so viele Menschen gesund, wie nötig sind, die Kranken zu pflegen. Der Apotheker wird ein reicher Mann; ebenso der Wirt, dessen Gasthof als Notlazarett allzeit ausgelastet ist.
Die Selbstwahrnehmung der Menschen als gesund – ich sage es in der Sprache der Medizinsoziologie – verflüchtigte sich hier unter dem Diktat von Risikoabwägungen: Es gibt dann kaum noch Gesunde; nur Menschen, die nicht gründlich genug untersucht und aufgeklärt worden sind. Die böse Vision, die der amerikanische Ökonom Uwe Reinhardt Jahrzehnte später entwickelte, ist im Gebirgsdorf St. Maurice schon vorweggenommen: Der US-Ökonom entwarf die Vision der Industrienation, die sich in ein riesiges Krankenhaus verwandelt – und in dem die Bewohner entweder arbeiten oder als Patient liegen. Bei Dr. Knock in St. Maurice war es so: Er blickte abends begeistert auf ein Lichtermeer ringsum; es werden dies 250 hell erleuchtete Krankenstuben, in denen, wie von ihm verordnet, 250 Fieberthermometer in die dafür vorgesehenen Körperhöhlen geschoben werden, sobald es zehn Uhr schlägt. „Fast das ganze Dorf gehört mir“ schwärmt Dr. Knock. „Jene, die nicht krank sind, schlafen in der Dunkelheit; sie sind nicht wichtig.“
Vor ein paar Jahren wurde in einem Buch mit dem Titel „Die Krankheitsfinder“ (Jörg Blech) dargestellt, wie die bühnenreife Medizin dieses Theaterstücks im echten Leben von heute fortgeschrieben wird: Heute ist es ja kein verführerischer Dorfarzt, der gesunde Menschen in Patienten verwandelt. Heute sei eine ungleich größere Macht angetreten, um den Menschen die Gesundheit auszutreiben: „Ärzteverbände und Pharmafirmen predigen uns eine neue Heilkunst, die keine gesunden Menschen mehr kennt“. Und das Buch schildert, wie sie ein „Aging Male Syndrom“, ein „Käfig-Tiger-Syndrom“, „erektile Dysfunktionen“ oder sonst schön benannte angeblich chronische Erschöpfungszustände behandeln und sich zu diesem Zweck der PR-Firmen bedienen, die dabei helfen, natürliche Wechselfälle des Lebens und normale Verhaltensweisen systematisch als krankhaft zu deuten, so wie dies einst der Dr. Knock unter Zuhilfenahme des Dorfschullehrers und des Dorftrommlers gemacht hat.
Ich rede von einer modernen Befindlichkeitsindustrie aus Ärzten, Patienten und Pharmaindustrie, die jede Abweichung zur Krankheit erklärt und einen Zustand ohne Beschwerden als suspekt erscheinen lässt. Die Krankenkasse ist daher auch eine Art Gesundheitskasse geworden. Deshalb gibt es heute in Deutschland so etwas wie ein „Leiden an der Gesundheit“ (so hat das der Psychiater Klaus Dörner genannt): „Je mehr ich für meine Gesundheit tue, desto weniger gesund fühle ich mich. In diesem Sinne ist Gesundheit eben nicht machbar, nicht herstellbar, stellt sich vielmehr selbst her. Gesundheit gibt es nur als Zustand, in dem der Mensch vergisst, dass er gesund ist“. Diese Selbstvergessenheit lassen nur wenige Menschen zu.
Dies erklärt wohl die merkwürdige Unzufriedenheit der Deutschen mit ihrer Medizin: Sie haben im Ländervergleich die kürzesten Wartezeiten, die verlässlichsten Laborbefunde, die wenigsten Krankenhausinfektionen und die größten Freiheiten bei der Arztwahl – sind aber mit ihrem Gesundheitswesen international am unzufriedensten. Ein Vergleich von sechs Ländern zeigte 2005, dass Deutsche mit ihrem Gesundheitswesen unzufriedener sind als Amerikaner, Kanadier, Briten, Australier und Neuseeländer. Niemand leidet so wie die Deutschen.
Gibt es also so etwas wie der Ver-Knockisierung des Gesundheitswesens? Festzustellen ist, und ich werde jetzt ganz unliterarisch und zitiere die höchste juristische Autorität in diesem Land, das Bundesverfassungsgericht, dass die Konstruktion des deutschen Gesundheitssystems grundsätzlich zur Kostenausweitung tendiert: „Die deutsche gesetzliche Krankenversicherung ist ein im Umlageverfahren durch Versicherungsbeiträge finanziertes Gesundheitssystem zur medizinischen Vollversorgung von inzwischen nahezu 90 von Hundert der Bevölkerung. Die Versuchungsleistungen werden dabei weitgehend als Sachleistungen ohne direkte Kostenbeteiligung der Versicherten erbracht (...).
Bedarfsfeststellung und Kostenkontrolle liegen nicht in einer Hand. Fragt ein Versicherter nach, definiert der Arzt den medizinischen Bedarf und erfüllt ihn dann; die Krankenkassen tragen die Kosten, die über Beiträge aufgebracht werden, mit denen im Wesentlichen kleine und mittlere Einkommen aus abhängiger Beschäftigung belastet sind. (...) Die kontinuierlich steigenden Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung haben zur Steigerung im Beitragssatz und zu erheblichen Anhebungen der Versicherungspflichtgrenze geführt (...) Auch für die Zukunft wird mit steigenden Kosten bei den Gesundheitsleistungen gerechnet als Folge der zunehmenden Alterung der Gesellschaft, der hiermit verbundenen Abnahme der Beitragszahler aus aktiver Erwerbstätigkeit und der Eignungseffekte aus dem medizinischen und medizin-technischen Fortschritt. Die Vermeidung von weiteren Beitragssteigerungen ist seit Jahren ein vorrangiges Ziel der Gesundheitspolitik“.
Soweit das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss des Ersten Senats vom 20. März 2001 (1BvR 491/96, zur Altersbeschränkung für Kassenärzte). Das ist, knapp und leidenschaftslos, die Beschreibung des Ist-Zustandes des deutschen Gesundheitssystems durch das höchste Gericht. Dank medizinischer Erfolge leben die Menschen heute deutlich länger, und selbst wenn sie schwer krank werden, bedeutet das noch lange nicht, dass sie bald sterben werden. Zwischen der Krankheit, der Morbidität , und der Sterblichkeit, der Mortalität, liegt heute ein viel weiteres Lebensfeld als vor 100 Jahren.
Seit Jahrzehnten reiht sich daher eine Gesundheitsreform an die andere. Es geht um Kosteneindämmung. Kostentreibend neben dem medizinischen Fortschritt , teurer Technik und längerer Lebensdauer der Menschen ist insbesondere die Struktur des Gesundheitswesens mit einem Dschungel an Institutionen, einer Unzahl an privaten und gesetzlichen Krankenkassen (da ist die KV, das sind die Gemeinsamen Ausschüsse, die niedergelassenen Kassenärzte, da sind die Labore, Heilberufe, Kliniken, die Pharmaindustrie, die Apotheken. Alle sind kompetenzmäßig aneinander gebunden, rechnen ab, konkurrieren miteinander und kontrollieren einander.) Bisherige Rezepte: Verdienstbeschneidungen durch Kappungen, Leistungskürzungen, Privatisierung einzelner Kosten durch Selbstzahlung. All dies ist schon gemacht worden – und den Fortgang der Versuche und Experimente samt der Diskussionen darüber können Sie täglich in den Zeitungen und Nachrichtensendungen verfolgen.
Seit 2003 erfolgt in Deutschland die Abrechnung stationärer Krankenhausleistungen nicht mehr wie früher über den Krankenhaustagessatz, sondern über diese für die jeweilige Erkrankung des Patienten bundesweit festgelegte Fallpauschale. Man unterscheidet daher heute immer mehr zwischen Erkrankungen, mit denen man als Klinik Geld verdienen kann und solchen, mit denen man Verluste macht.
US-amerikanische Gesundheitsmanager in ihrer schnoddrigen Art unterscheiden zwischen Kranken als „cash cows“ und Kranken als „poor dogs“. „Cash cows“, also Melkkühe – das sind Patienten mit Krankheiten, bei denen ein Krankenhaus Gewinne macht, bei denen technisch aufwändige Maßnahmen notwendig sind: beispielsweise Hüft- und Kniegelenkoperationen, Nieren- und Knochenmarktransplantationen. Und „poor dogs“ – da sind Patienten, mit denen eine Klinik kein Geld verdienen kann, mit denen sie womöglich draufzahlt. Zu den „poor dogs“ zählen alte Patienten, Patienten mit vielen Krankheiten, chronische Kranke, Patienten, die sich wund gelegen haben oder Rheumatiker.
Was wird aus den Heilberufen, was wird aus Krankenhäusern, wenn die Krankenhaus-Verwaltungen solche Unterscheidungen zur Vorgabe machen? Es gibt natürlich auch Mittel und Möglichkeiten, auch aus einigen „poor dogs“ noch „cash cows“ zu machen – durch radikale Veränderung der Zeitabläufe in der Klinik: Weil Zeit Geld ist, muss einfach alles schneller gehen, die Arbeit wird verdichtet, die Liegezeiten werden verkürzt (was bei einem jungen Patienten sinnvoll, bei einem älteren dagegen fatal sein kann). Ein Beispiel: ein Patient mit einer Lungenentzündung ist, wenn er eine oder zwei Wochen im Krankenhaus liegt, nach der Fallpauschalentlohnung ein poor dog; bei einem stationären Aufenthalt von nur drei Tagen kann aus ihm eine lukrative cash cow werden.
Neulich war ich zu Gast bei einer alten Dame, deren Sohn aus den USA zu Besuch war. Wir kamen über die Gesundheitsversorgung hier und dort ins Gespräch. Der Sohn erzählte von einer befreundeten Frau, die er morgens zur Brustamputation ins Krankenhaus gefahren und sie nachmittags um 15 Uhr abgeholt habe – mit Schläuchen für den Lymph- und Butabfluss. Sie habe dann drei Tage im Hotel, in dem er arbeitete, gewohnt – und er habe sich um sie gekümmert.
Sind das die Zustände, die auf uns zukommen? Ich frage mich: Werden die Ärzte dem Druck standhalten, der durch so ein kommerzialisiertes Gesundheitssystem auf sie ausgeübt wird? Dieser Druck ist erfinderisch. In zahlreichen privaten Krankenhäusern werden sogenannte Chefarzt-Boni-Verträge abgeschlossen, wie wir sie aus der Finanz- und Bankenwelt kennen- und fürchten gelernt haben. Bei diesen Verträgen erhält der Chefarzt am Jahresende ein Extra-Honorar, wenn er auf eine bestimmte Zahl von besonders profitablen Leistungen kommt – dazu zählen die schon genannten Implantationen von Prothesen oder auch Herzkatheteruntersuchungen. Kommt es eines Tages so weit, dass die Patienten hinter individuellen ärztlichen Maßnahmen geldgesteuerte Handlungsanweisungen vermuten können?
Vor kurzem habe ich folgende Begebenheit erzählt bekommen: Zum Jahresende wurde der Chefarzt eines privaten Krankenhauses von seinem kaufmännischen Direktor über das Jahresergebnis infomiert. „Lieber Professor“, begann der Direktor, „bei 70 Prozent der Patienten konnten wir nach Einführung des Pauschalensystems einen Gewinn erzielen; bei 30 Prozent haben wir jedoch deutlich rote Zahlen geschrieben. Ich freue mich, dass wir trotzdem insgesamt ein kleines Plus erwirtschaftet haben“. Auf dem Gesicht des Chefarztes machte sich Erleichterung breit. Doch dann fuhr der kaufmännische Direktor fort: „Bevor Sie nun wieder gehen, lieber Herr Professor, habe ich noch eine kleine Frage: „Nennen Sie mir doch bitte ein wirtschaftliches Argument, warum ich jene 30 Prozent Verlust-Patienten – wir beide wissen, welche Krankheiten sie haben – im neuen Jahr noch aufnehmen und behandeln soll.“ Zunächst etwas irritiert aber dann sehr bestimmt antwortete der Chefarzt: „Das wirtschaftliche Argument bin ich! In dem Augenblick, in dem Sie das machen, kündige ich sofort“. Das war eine respektable, eine wunderbare, eine mutige Antwort.
Eine ganz andere Reaktion kenne ich von einem katholischen Krankenhaus in Mittelhessen. Dort weigerte sich der leitende Chirurg, allgemein-notfallchirurgische Patienten aufzunehmen – keine Verkehrsunfälle, keine Knochenbrüche etc. Er wollte sich nur noch auf Hüft- und Kniegelenkprothesen beschränken. So geschah es auch. Das Krankenhaus prosperierte nach wenigen Monaten, wurde höchst rentabel, konnte expandieren.
So aber etabliert sich eine Schnäppchen-Medizin: Finanziell attraktive Patienten werden umworben. Unattraktive Patienten aber werden in die staatlichen und kommunalen Krankenhäuser der sogenannten Erstversorgung abgeschoben – die dürfen niemanden ablehnen. Es entwickelt sich hier ein bekanntes Muster: Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert.
Es heißt bisweilen noch immer, das Gesundheitswesen leide auch an einem zu eingeschränkten Wettbewerb. Ich frage mich: Leidet es nicht eher daran, dass es ein Markt ist, an dem zu allererst verdient werden will? Gesundheit hat ja nicht nur mit körperlicher Intaktheit zu tun, nicht nur mit Pillen und Skalpell, sondern auch mit der Psyche: mit Vertrauen, Selbstvertrauen, mit Ängsten, mit Lebensunsicherheiten. Unser Gesundheitssystem krankt wohl auch am mangelnden „Sich Kümmern“, denn dies wird nicht bezahlt. Und es krankt an der Konkurrenz zwischen Ärzten, Labors und Krankenhäusern um die Verdienste, Konkurrenz steht oft an Stelle der guten Kooperation, die dem Patienten das Gefühl vermitteln könnte, dass alle gemeinsam bestrebt sind, ihm zu helfen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle etwas zu den Bewertungen von Ärzten in anonymen Internet-Portalen sagen. Solche Bewertungen gibt es mittlerweile genauso wie die Buch-, Gastronomie- oder Hotelkritiken. Sie sind nicht objektiv, nicht repräsentativ und nicht manipulationssicher. Aber es wäre seltsam, wenn eine Meinung objektiv, repräsentativ und manipulationssicher sein müsste. Müsste freie Meinungsäußerung abgewogen und zuträglich sein, dann wäre sie nicht mehr frei. Mit Kriterien wie fair oder unfair, gerecht oder ungerecht kommt man also bei Internet-Foren nicht viel weiter. Wenn der Kritisierte mit seiner Bewertung nicht einverstanden ist, liegt das in der Natur der Sache.
Gleichwohl öffnet ein Mausklick des Anonymus keine rechtsfreie Sphäre. Das Internet ist kein Freiraum für Beleidigung, üble Nachrede und Schmähkritik. Die Grenzen, die das Recht mit diesen Straftatbeständen setzt, gelten für das Internet erst recht: Es ist die größtmögliche Öffentlichkeit. Das Internet ist kein Intranet für lustige Jugendliche. Es ist keine elektronische Privatwohnung. Es ist etwas anderes als ein Klassenzimmer, in dem man sich in der Pause Gemeinheiten über den Mathe-Lehrer erzählt. Es ist nicht ein einfach vergrößerter Schulhof oder eine riesige Kneipe, auch kein globales Klohäuschen, an dessen Wände man Obszönitäten schmiert. Persönlichkeitsverletzungen im Internet tun besonders weh. Das Internet ist ja nicht nur die größte Wissens-, sondern auch die größte Gerüchtemaschinerie, die es je gegeben hat. Einerseits hat die Meinungsfreiheit im Internet ein unglaublich großes Forum; das ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite darf es nicht sein, dass unter dem Schutz von Meinungsfreiheit und Internet-Anonymität Mobbing und sonstige Unverschämtheiten freie Bahn haben.
Das Recht muss also erstens die Grenzen der Meinungsfreiheit im Internet klar markieren – und zweitens, das ist besonders wichtig, dafür sorgen, dass es auch Konsequenzen hat, wenn sie nicht eingehalten werden. Wenn aber die weiten Grenzen des Erlaubten überschritten werden, muss das Recht auf den Rechtsverletzer zugreifen können. Das heißt: Entweder muss dessen Anonymität geknackt werden können – oder aber der Betreiber des Internet-Forums muss in Haftung genommen werden. Internet ist große Freiheit. Aber Freiheit ohne Verantwortung gibt es nicht.
Die Medizin ist zwar eine der größten Wirtschaftsfaktoren in Deutschland, aber sie ist keine Wirtschaftsbranche wie jede andere. Stetiges Wachstum bedeutet in anderen Branchen Prosperität. Stetiges Wachstum in der Medizin ist ein Zeichen von Krebs (Werner Bartens).
Kaufleute und Betriebswirtschaftler haben aus der Medizin eine Industrie gemacht. Sie haben die Krankenbehandlung ökonomisiert. Das bekommt den Ärzten nicht – und den Patienten auch nicht. Für Kranke sind Faktoren wichtig, die in betriebswirtschaftlichen Programmen keine oder kaum eine Rolle spielen: Zeit, Geborgenheit – und, ja auch dies, ja, auch wenn es altmodisch klingt – Barmherzigkeit! Manchmal besteht ärztliche Kunst auch darin, abzuwarten und vorerst nichts zu tun; diese Kunst lässt sich nicht betriebswirtschaftlich optimieren. Von einem Oberarzt habe ich neulich den Satz gehört: „In dem Augenblick, in dem ärztliche Fürsorge vorrangig dem Profit dient – egal ob dem eigenen oder einem fremdem – hat er die wahre Fürsorge verraten“. Ich denke, er hat recht.
Ich bin ein politischer Journalist, ich bin Jurist und das Verfassungsrecht war und ist mir immer ein besonderes Anliegen: Unser aller Grundnorm ist der Artikel 1 Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Der Sozialstaat ist die Einrichtung, die diese Würde organisiert. Ich persönlich halte den Sozialstaat, trotz all seiner uns bekannten Mängel, für eine der größten europäischen Kulturleistungen. Es ist zerstörerisch, wenn der Sozialstaat demontiert wird. Die Würde des Menschen ist unantastbar: Das gilt in besonderer Weise für kranke und für alte Menschen. Und das Krankenhaus ist ein wichtiger Ort, einer der wichtigsten Orte, an dem sich dieser Satz des Grundgesetzes bewähren muss.
Die Würde des Menschen ist unantastbar: Dieser Satz bewährt sich im Krankenhaus dann, wenn dort die Menschen im Vordergrund stehen und nicht die Abläufe, wenn die Fürsorge das Wichtigste ist und nicht der Profit; wenn Geborgenheit und Barmherzigkeit ihren Raum haben.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Der Satz bewährt sich dann, wenn ein Krankenhaus sich auf die demografischen Veränderungen in der Gesellschaft einstellt. Der Satz bewährt sich dann, wenn ein Krankenhaus sozusagen geriatriefest ist. Ein Krankenhaus steckt voller Technik. Auch im Krankenzimmer ist das so. Und dann ist es gut, wenn man 18-jähriger Technikfreak sein muss, um Notruf, Telefon und Fernseher bedienen zu können. Es ist gut, wenn das auch ein Achtzigjähriger hinkriegt.
„Wenn Du im Krankenhaus bist“, so hat mir einmal ein schwerkranker Freund gesagt, „hast Du keine Privatsphäre mehr. In jedem Hotel, so meinte er, gibt es ein Schild ‚Bitte nicht stören‘. Im Krankenhaus gibt es das nicht, da kann jeder jederzeit hereinkommen, auch wenn ich gar keinen Besuch will.“ Es muss auch im Krankenhaus eine Privatsphäre geben. Das ist ein kleiner, aber wichtiger Würde-Punkt.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das darf man hier auch einmal ganz körperlich, ganz leiblich verstehen. Wo sonst wird man so viel angetastet und abgetastet wie im Krankenhaus und beim Arzt? Bei diesen Vorgängen ist nicht nur der Mensch, sondern auch seine Würde antastbar. Ich sage es noch einmal: Das Krankenhaus und die Arzpraxen sind wichtige Orte, einer der wichtigsten Orte, an dem sich dieser Haupt- und Eingangssatz des Grundgesetzes bewähren muss. Das Gesundheitswesen darf keine Fabrik sein, in der das Wichtigste ist, dass dort Geld gemacht wird. Das Krankenhaus wie die Arztpraxis müssen ein Ort sein und bleiben, in dem geheilt wird. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Um diese Würde geht es im Krankenhaus, um die Würde im Leben und im Sterben. Jede Reform muss sie achten und schützen.
Kaiser Joseph II., ein Sohn der Kaiserin Maria Theresia, hat im Foyer der der im Jahr 1784 in Wien neu errichteten Frauenklinik eine Tafel mit folgender Aufschrift anbringen lassen: „In diesem Haus sollen die Patienten geheilt und getröstet werden“.
Wir brauchen viele solcher Tafeln. Wir brauchen den Geist und auch das Denken, das in diesen Wort steckt: „In diesem Haus sollen die Patienten geheilt und getröstet werden!“