Informationen aus der Gesellschaft - OUP 10/2016

Medizinische Ökonomie und Ethik
Vortrag anlässlich der 64. Jahrestagung der VSOUDer Mensch als Kostenfaktor: Ein Plädoyer gegen die Ökonomisierung des Alltags und des GesundheitswesensWarum aus der Medizin keine Industrie werden darf

Im Titel meines Vortrags steht das Wort „Ökonomie“ und im Untertitel steht etwas vom „Kostenfaktor Mensch“. „Kostenfaktor“ – das ist eigentlich ein ziemlich widerliches Wort, wenn es um Menschen geht. Streichen wir einmal das Wort „Kosten“ weg, nehmen wir nur das Wort „Faktor“: Faktor ist ein „Umstand“, einer, der in einem bestimmten Zusammenhang bestimmt Auswirkungen hat. Das Leben hat so viele bestimmende Faktoren – und die sind so unendlich verschieden und nicht unbedingt gerecht.

Das Leben beginnt ungerecht und es endet ungerecht, und dazwischen ist es nicht viel besser. Der eine wird mit dem silbernen Löffel im Mund geboren, der andere in der Gosse. Der eine zieht bei der Lotterie der Natur das große Los, der andere die Niete. Der eine erbt Talent und Durchsetzungskraft, der andere Aids und Antriebsschwäche. Die Natur ist ein Gerechtigkeitsrisiko. Der eine kriegt einen klugen Kopf , der andere ein schwaches Herz. Bei der einen folgt einer behüteten Kindheit eine erfolgreiche Karriere. Den anderen führt sein Weg aus dem Ghetto direkt ins Gefängnis. Die eine wächst auf mit Büchern, der andere mit Drogen. Der eine kommt in eine Schule, die ihn stark, der andere in eine, die ihn kaputt macht. Der eine ist gescheit, aber es fördert ihn keiner; der andere ist doof, aber man trichtert ihm das Wissen ein. Der eine ist sein Leben lang gesund, die andere wird mit einer schweren Behinderung geboren.

Die besseren Gene hat sich niemand erarbeitet, die bessere Familie auch nicht. Das Schicksal hat sie ihm zugeteilt. Es hält sich nicht an die Nikomachische Ethik. Es teilt ungerecht aus und es gleicht die Ungerechtigkeiten nicht immer aus. Hier hat der Sozialstaat seine Aufgabe. Er sorgt dafür, dass der Mensch reale, nicht nur formale Chancen hat. Der Sozialstaat ist, mit Maß und Ziel, Schicksalskorrektor. Er erschöpft sich also nicht in der Fürsorge für Benachteiligte, sondern zeigt auch auf den Abbau der strukturellen Ursachen. Madame de Meuron, die 1980 gestorbene „letzte Patrizierin“ von Bern, sagte einem Bauern, der sich in der Kirche auf ihren Stuhl verirrt hatte. „Im Himmel sind wir dann alle gleich, aber hier unten muss Ordnung herrschen“. Ist das die Ordnung, die wir uns vorstellen? Die Ordnung, die sich der Sozialstaat vorstellt, ist das nicht, die Ordnung, die sich die Demokratie vorstellt, ist das nicht.

„Faktor“ – heißt doch eigentlich „Macher“, „Schöpfer“. Der Kranke ist aber gerade kein Macher mehr, darum ist das Wort hier besonders zynisch, er ist nur noch ein Kostenmacher. Das ist aber typisch, weil der Lebensmodus, auf den uns das ökonomische System programmiert, nur noch der des Machen und nicht der des Erleidens ist. Die empathischen Fähigkeiten werden völlig ausgeblendet, gehören aber unbedingt ins Gesundheitssystem hinein, bei Ärzten und Patienten: also nicht nur machen, diagnostizieren, schneiden, kurieren, therapieren, sondern auch: erdulden, aushalten, warten, Zeit lassen, fragen, was man tun kann, wenn nichts mehr zu machen ist.

Bleiben wir beim Wort „Kostenfaktor“, Kostenmacher. Neuerdings denkt man dabei an die alten und dementen Menschen. Vor einiger Zeit wurde ein Vorschlag diskutiert, pflegebedürftige Menschen ins Ausland zu exportieren, dorthin, wo Pflege billiger ist. Kranken- und Pflegekassen zeigen sich daher eher interessiert am Greisen-Export, an der grenzüberschreitenden Altenverbringung, als einem alternativen Pflegemodell. Pflegeheime in Thailand, Spanien oder Osteuropa sind billiger als deutsche Pflegeheime. Sogenannte Träger erwägen, Pflegeverträge mit Heimen im Ausland zu schließen; zum Teil wird das Auslandsheim als Geschäftsmodell schon betrieben. Pflege in Deutschland ist angeblich zu teuer; immer mehr alte Menschen können sie sich nicht mehr leisten; Staat und Pflegekassen wollen sie nicht mehr leisten. Viele Pflegebedürftige müssen „Hilfe zur Pflege“ beantragen. Und die Kinder der Alten fürchten, dass die Sozialkasse dann auf sie zurückgreift, um diese Sozialhilfe wieder einzutreiben.

Das ist die Gemengelage, in der die verrückte Idee vom Greisen-Export entstand. Ich habe mich gefragt, ob künftig auch Kinder exportiert werden sollen, wenn die Kindergärten hierzulande zu teuer werden.

Indes: Wenn Rente plus Pflegezuschuss nicht reichen, um die Pflege im Alter zu finanzieren, ist das nicht die Schuld von Alten, die ihr Leben lang gerackert haben. Es ist die Schuld einer unzulänglichen Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik. Und es ist die Schuld eines abenteuerlich falschen Pflegekonzepts, das sich nun seit Jahrzehnten auf die Unterbringung in Heimen konzentriert. Die Kritiker sprechen von der „Pflegeindustrie“: Vorhang zu, Mund auf, schneller schlucken! Gewiss: Es gibt Zustände, die zum Himmel schreien. Aber pauschale Verurteilung wird der Fürsorglichkeit auch nicht gerecht, die es in Heimen auch gibt. Richtig ist: Die Fixierung der Politik auf das Heimkonzept ist teuer und altenfeindlich. Sie reißt Menschen aus ihrer Umgebung heraus, statt sie dort so lang wie möglich leben zu lassen.

Häusliche Pflege wird nicht belohnt, sondern bestraft: Das Geld der Sozialkassen fließt nur in die teure stationäre Pflege. Pflege zu Hause zahlt die Familie, durch Gehaltseinbußen oder Finanzierung einer Billigkraft aus dem Ausland, die offiziell als Haushaltshilfe firmiert. Das alles zeigt: Ein Land, das zwar die besten Maschinen der Welt bauen kann, ist bisher nicht in der Lage, ein anständiges und kluges Pflegekonzept zu entwickeln.

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