Informationen aus der Gesellschaft - OUP 10/2016
Medizinische Ökonomie und EthikVortrag anlässlich der 64. Jahrestagung der VSOUDer Mensch als Kostenfaktor: Ein Plädoyer gegen die Ökonomisierung des Alltags und des GesundheitswesensWarum aus der Medizin keine Industrie werden darf
In den vergangenen 20 Jahren konnte man eine eigenartige Beobachtung machen: Je herablassender über den Sozialstaat geredet wurde, umso kälter wurde auch der Ton in den Betrieben – „das Soziale“ insgesamt verlor seinen Stellenwert. Das gilt in Krankenhäusern genauso wie in Zeitungsredaktionen oder Autokonzernen. In den vergangenen 20 Jahren tat man so, als sei für „das Soziale“ nur noch eine bestimmte Kaste von Samaritern (Kirche, Sozialarbeiter, die Caritas und die Lebenshilfe) zuständig. Ansonsten habe das Soziale nicht mehr viel zu melden, stattdessen hätten die Gesetze des Marktes zu gelten. Die funktionieren nach dem Pater-Noster-Prinzip, Sie kennen diese alten Aufzüge, die diesen Namen tragen; da ist es so: Der gesunde, gewandte und leistungsfähige Mensch kann aus den offenen Fahrkörben jederzeit ein- und aussteigen. Der Behinderte und Kranke kann ihn nicht benutzen. Er bleibt draußen, er wird nicht befördert.
Bei der sogenannten Euro-Rettung zeigte sich freilich, dass auch die Menschen, die nicht behindert und nicht krank sind, wenig zählen. Bei der Euro-Rettung wurden bekanntlich ungeheuer große Schutzschirme für Banken und Euro aufgespannt. Aber: Gerettet wurden und werden nicht Menschen. Gerettet werden Schuldverhältnisse, Finanzbeziehungen, Machtgefüge, Wirtschaftssysteme; Sie sollen überleben. Ob und wie Menschen dabei überleben, ist sekundär. Bei den Nachrichten aus den EU-Südländern über die Folgen der Sparprogramme bei der Bevölkerung erinnerten sich manche an einen medizinischen Kalauer, der hier bittere Realität wird: Operation gelungen, Patient tot.
Rettungsschirm, Rettung? Man liest in der Zeitung von der spanischen Mutter, die sich aus dem Fenster stürzt, weil sie mit ihren Kindern aus der Wohnung gewiesen wird. Und in Griechenland ist es so: „Wir haben hier keinen Gips“, sagt ein Arzt des Krankenhauses der Ost-Ägäis-Iinsel Chios. Die Verwandten der Patienten müssen selbst Gips kaufen, damit die Ärzte gebrochene Arme und Beine behandeln können; so berichtete es die Athener Zeitung „Ta Nea“. Und im Krankenhaus der mittelgriechischen Stadt Larisa gibt es kein Toilettenpapier mehr. Im griechischen Serres an der bulgarischen Grenze fehlen Katheter – die Verwandten der Patienten müssen sie selbst aus den Apotheken holen. In Heraklion auf Kreta können Wunden nicht mehr gründlich gereinigt werden, da Pharma-Alkohol und medizinische Handschuhe Mangelware sind. Während das öffentliche Gesundheitssystem vor dem Kollaps steht und Patienten nach Hause schicken muss, fehlen den teureren privaten Kliniken die Kunden: „Die Menschen haben kein Geld mehr. Wir haben nur noch halb so viele Patienten wie vor drei Jahren“, sagt ein Arzt des größten Privat-Krankenhauses nahe der Hafenstadt Piräus.
So vielen Griechen und Millionen von arbeitslosen Jugendlichen in den EU-Südländern ergeht es so wie Gustl Mollath, dessen Fall in Deutschland so viele Menschen erregt hat: Mollath wurde zur angeblichen „Sicherung und Besserung“ (so nennt man diese Maßnahmen in der Juristerei) in die Psychiatrie eingewiesen – wo sich alles verschlechterte. Rette sich, wer kann vor solcher Rettung!
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ein Sozialstaat ist ein Staat, der gesellschaftlichen Risiken, für die der einzelne nicht verantwortlich ist, nicht bei diesem ablädt. Er verteilt, weil es nicht immer Manna regnet, auch Belastungen. Aber dabei gilt, dass der, der schon belastet ist, nicht auch noch das Gros der Belastungen tragen kann. Ein Sozialstaat gibt nicht dem, der schon hat; er nimmt nicht dem, der ohnehin wenig hat. Er schafft es, dass sich die Menschen trotz Unterschieden in Rang, Talenten und Geldbeutel auf gleicher Augenhöhe begegnen können. Der Sozialstaat ist der große Ermöglicher. Er ist mehr als ein liberaler Rechtsstaat, er ist der Handausstrecker für die, die eine helfende Hand brauchen.
„Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen“ – so steht es in der Präambel der schweizerischen Verfassung vom 18. April 1999. Das ist ein mutiger Satz, weil die Stärke eines Volkes, die Stärke eines Staates, auch die Stärke Europas gern an ganz anderen Faktoren bemessen wird. Die einen messen sie am Bruttosozialprodukt und am Exportüberschuss, die anderen reden dann vom starken Staat, wenn sie mehr Polizei, mehr Strafrecht und mehr Gefängnis fordern. Kaum jemand fordert den starken Staat, wenn es darum geht, soziale Ungleichheit zu beheben und etwas gegen die Langzeitarbeitslosigkeit zu tun. Kaum jemand sagt „starker Staat“, wenn er die Verknüpfung von Sozial- und Bildungspolitik meint. Kaum jemand redet von der „Stärke eines Volkes“, wenn es darum geht, Menschen mit geistiger Behinderung schulisch und beruflich zu integrieren. Kaum jemand redet von der „Stärke eines Volkes“, wenn es um ein leistungsfähiges und menschliches Gesundheitswesen geht.
Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen – das ist ein starker Satz, auch wenn es wohl so ist, dass schon die Bezeichnung „Schwache“ infiziert ist von den Ausschließlichkeitskriterien der Leistungsgesellschaft. Ich bin der Meinung: Der starke Staat ist ein Staat, der für Chancengleichheit sorgt, der sich um das Wohl der Schwachen kümmert – und dabei allmählich lernt, dass die Schwachen gar nicht so schwach sind, wie man oft meint und dann ihre Stärken, die Perfektion des Imperfekten, zu schätzen lernt. Ein starker Staat ist der Staat, der dafür sorgt, dass die Fürsorge im Gesundheitswesen ein wichtiger, ja der wichtigste Wert bleibt.