Informationen aus der Gesellschaft - OUP 10/2016
Medizinische Ökonomie und EthikVortrag anlässlich der 64. Jahrestagung der VSOUDer Mensch als Kostenfaktor: Ein Plädoyer gegen die Ökonomisierung des Alltags und des GesundheitswesensWarum aus der Medizin keine Industrie werden darf
Lassen Sie mich nun – in der Mitte meines Vortrag – näher ans Krankenhaus rücken – noch einmal beginnend mit einer persönlichen Geschichte. Als vor über zehn Jahren mein Vater im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder zu Regensburg im Sterben lag, ging ich dort oft an dem Porträt eines lächelnden Mönches vorbei. Es zeigt den Frater Eustachius Kugler. Ab und zu blieb ich ein wenig sinnierend vor dem Bildnis dieses Mannes stehen, über den in den Gottesdiensten meiner Kindheit oft gepredigt worden war. Dieser Frater Eustachius, so der Ordensname, wurde 1867, also in dem Jahr, in dem Karl Marx den ersten Band seines Werkes „Das Kapital“ herausgab, als Sepperl, als sechstes Kind der Kleinlandwirts-Eheleute Kugler in Neuhaus, das zu meinem Heimatort Nittenau gehört, geboren. Er war von 1925 bis zu seinem Tod im Jahr 1946 Provinzial der Barmherzigen Brüder in Bayern und hat in Regensburg die großen Krankenhäuser seines Ordens gebaut.
Und weil in den 60er Jahren, als ich ein Ministrant in einer katholischen Pfarrei war, im Vatikan der Prozess zur Seligsprechung dieses Fraters Eustachius Kugler eingeleitet worden war (mittlerweile ist Eustachius Kugler zur „Ehre der Altäre“ erhoben) habe ich damals in meiner katholischen Pfarrei viel von ihm gehört. In der Erinnerung geblieben ist mir vor allem eines: Dass Eustachius in seinen Krankenhäusern die „klassenlose“ Krankenpflege angeordnet hat. Dem Oberkrankenpfleger gab er als Provinzial die Weisung: „Tut mir vor allem die armen, die bedürftigen Schwerkranken pflegen, um die sich sonst niemand recht kümmert. Wenn ein Bischof oder sonst ein höher Würdenträger als Patient kommt, dann braucht man nicht so zu laufen, weil genug andere da sind, die sie schon in jeder Hinsicht betreuen!“ Das hat mir schon damals, als Ministrant in Nittenau in der Oberpfalz, recht imponiert – und der Satz gefällt mir heute immer noch.
Welche Anweisung der Ordensmann wohl heute geben würde? Würde er seine Ärzte auffordern, nicht auf das Alter der Patienten als Behandlungsmaßgabe zu starren?
Nach aktuellen Untersuchungen entfallen ein Viertel der medizinischen Kosten eines Lebens auf das letzte Lebensjahr. Es gibt daher Ökonomen, darunter der Wirtschafts-Nobelpreisträger Gary Becker, die fordern, die Gesundheitsausgaben gegen Ende des Lebens zu begrenzen. „Den Tod um ein paar Monate hinauszuzögern, kann“, so argumentiert der Nobelpreisträger, „Millionen kosten“. Der „technologische Imperativ“ sei daran schuld, nämlich der Wunsch der Mediziner, alles Gelernte und Mögliche anzuwenden, ungeachtet eines sinnvollen Kosten-Nutzen-Verhältnisses. Beckers Forderung, Gesundheitsausgaben bei alten Menschen zu begrenzen, ist höchst umstritten. „Ältere Menschen kosten viel, aber sie haben in ihrem bisherigen Leben auch schon mehr eingezahlt als junge“, halten ihm Kritiker entgegen. Das eine Argument ist so ökonomisch wie das andere.
Ist der Wert des Lebens abhängig vom Alter? Oder abhängig davon, was dieser Mensch in die Krankenkasse einbezahlt hat? Im Übrigen fällt mir ein: Ja, im letzten Lebensjahr fallen die meisten Kosten an. Das kann aber gar kein Argument für die begrenzte Behandlung von Alten sein, denn dieses letzte Lebensjahr bezieht sich auf Alte und Junge. Wenn ein Mensch mit 20 stirbt, hat er unter Umständen mehr Kosten verursacht, als ein Mensch, der mit 90 stirbt. Die Kosten fallen eben nur früher an.
Würde Eustachius die Ärzte ermahnen, die Hochbetagten nicht als Menschen dritter Klasse zu betrachten? Würde er sein Krankenhaus-Management davor warnen, die Gewinnerzielung zur allein handlungsleitenden Kategorie zu machen? Womöglich hielte er seinem Verwaltungschef eine Predigt darüber, was das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter heute besagt. Womöglich würde er in einem Rundschreiben vor dem „Verlust des Mitgefühls“ warnen und vor einer Entwicklung, in der das Geld nicht mehr ein Mittel zum Zweck der Versorgung von Kranken ist, sondern die Versorgung von Kranken ein Mittel ist zum Zweck der Gewinnerzielung
Und womöglich würde dann der Verwaltungschef dem Frater Eustachius Folgendes antworten: „Lieber Provinzial, das haben Sie zwar schön gesagt, aber mit Mitgefühlt allein schreiben wir hier im Krankenhaus rote Zahlen, und die Wahrheit ist leider die, die Bert Brecht in der Dreigroschenoper so formuliert hat: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“. Und dann würde der Ordens- und Gottesmann Eustachius wohl furchtbar zornig werden und sagen, dann könne man ja selbst in einem kirchlichen Krankenhaus statt ein Kreuz künftig ein Bild von König Midas in die Krankenzimmer hängen.
Es ist manchmal so, dass die Büsten und Bilder von Mönchen und auch die ganz realen und leibhaften Ordensschwestern, so es sie noch gibt, in katholischen Häusern mittlerweile bewusst für den „Standortvorteil“ und als „Alleinstellungsmerkmal“ gehandelt werden, also das Krankenhaus marktgängig machen sollen. Eine Theologin hat mir vom Manager eines katholischen Krankenhauses berichtet, der zu ihr gesagt hat: „Die Pinguine lassen wir hier noch rumlaufen, das ist gut für die Außenwirkung beim Patienten.“
Der alte König Midas ist ein Repräsentant unserer Zeit. Er ist sozusagen der Schutzheilige der Ökonomisierung und der Schutzpatron der Rationalisierung. Eine enge betriebswirtschaftliche Rationalität ist an die Stelle der Ratio, der Vernunft der Aufklärung, getreten. Man nennt das Rationalisierung. Sie ist die Rückbeförderung des arbeitenden Menschen in die Unmündigkeit. Zu diesem Zweck bedienen sich die Unternehmen sogenannter Unternehmensberatungen, die das, was auch jeder Pförtner weiß, in die Sprache der Banken übersetzt: dass man sich das Geld für 300 Leute spart, wenn man 300 Leute freisetzt.