Informationen aus der Gesellschaft - OUP 10/2016
Medizinische Ökonomie und EthikVortrag anlässlich der 64. Jahrestagung der VSOUDer Mensch als Kostenfaktor: Ein Plädoyer gegen die Ökonomisierung des Alltags und des GesundheitswesensWarum aus der Medizin keine Industrie werden darf
Von Prof. Dr. Heribert Prantl
Dieser Vortrag ist ein Plädoyer gegen die umfassende Ökonomisierung des Alltags und die umfassende Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Dieser Vortrag ist ein Plädoyer gegen die Sucht, das ganze Leben und auch noch das Sterben am Lineal der Ökonomie zu messen.
Dieser Vortrag ist ein Plädoyer gegen die umfassende Verbetriebswirtschaftlichung der Medizin, gegen Modernisierungsgesetze, die Kommerzialisierungsgesetze sind. Es ist dies ein Vortag gegen Versorgungsstärkungsgesetze, die den Einzelpraxen und den kleinen Gemeinschaftspraxen das Leben und das Überleben schwer machen.
Dieser Vortrag ist kein Plädoyer gegen Medizinische Versorgungszentren; er ist aber ein Plädoyer gegen blanke Umsatzorientierung. Er ist ein Plädoyer für ein heilungsorieniertes Gesundheitswesen, ein Plädoyer für eine sehr persönliche ärztliche Betreuung, also gegen anonyme Organisationsstrukturen. Gesetze, die „Versorgungsstärkungsgesetze“ heißen, haben vielleicht schon den falschen Namen. Es muss letztendlich immer darum gehen, das Vertrauen zwischen Arzt und Patient zu stärken – und diesem Vertrauen eine gute wirtschaftliche Grundlage zu geben. Dies vorweg, als Präambel zu meinem Vortrag, dessen Untertitel mit dem Satz endet: „Warum aus der Medizin keine Industrie werden darf.“
Erwarten Sie keinen medizinischen Fachvortrag; die Fachleute dafür sitzen hier im Saal. Ich bin von meiner Ausbildung her Jurist, war Richter und Staatsanwalt in Bayern, habe dann die Profession gewechselt, bin vor 28 Jahren Journalist geworden. Mein Vortrag fasst nun die Beobachtung eines Publizisten zusammen, dem der Sozialstaat und ein soziales Gesundheitswesen angelegen sind – und der die immer stärkeren Tendenzen zur Kommerzialisierung des gesamten Lebens kritisch kommentiert.
Zu den merkwürdigsten Abschnitten meines Lebens gehört der, den ich als Angestellter in Alfred Wunsiedels Fabrik zubrachte ... Ich hatte mich der Arbeitsvermittlung anvertraut und wurde mit sieben anderen Leidensgenossen in Wunsiedels Fabrik geschickt, wo wir einer Eignungsprüfung unterzogen werden sollten. Ich wurde als erster in den Prüfungsraum geschickt, wo auf reizenden Tischen die Fragebögen bereitlagen.
Erste Frage: „Halten Sie es für richtig, dass der Mensch nur zwei Arme, zwei Beine, Augen und Ohren hat?“. Hier erntete ich zum ersten Mal die Früchte meiner mir eigenen Nachdenklichkeit und schrieb ohne zu zögern hin: „Selbst vier Arme, Beine und Ohren würden meinem Tatendrang nicht genügen. Die Ausstattung des Menschen ist kümmerlich.“ Zweite Frage: „Wie viele Telefone können Sie gleichzeitig bedienen?“ Auch hier war die Antwort so leicht wie die Lösung einer Gleichung ersten Grades: „Wenn es nur sieben Telefone sind“, schrieb ich, „werde ich ungeduldig, erst bei neun fühle ich mich völlig ausgelastet.“ Dritte Frage: „Was machen Sie nach Feierabend?“ Meine Antwort: „Ich kenne das Wort Feierabend nicht mehr – in meinem fünfzehnten Lebensjahr strich ich es aus meinem Vokabular, denn am Anfang war die Tat!“ Ich bekam die Stelle.
Es handelt sich, meine Damen und Herren, natürlich nicht um eine Episode aus meinem Lebenslauf, sondern um eine Geschichte, die Heinrich Böll schon vor Jahrzehnten geschrieben hat. Es könnte sich um die Beschreibung einer Prüfung bei einer Sozial- und Arbeitsagentur im Jahr 2025 handeln, vielleicht auch um den Einstellungstest für Verwaltungskräfte bei einer Krankenhausholding im Jahr 2020. Verlangt wird der grenzenlos flexible, unbeschränkt belastbare Arbeitnehmer, unglaublich gesund, unglaublich robust und leistungsfähig. Die Frage lautet: Wollen wir eine solche Gesellschaft, eine Gesellschaft, in der es überall zugeht wie in der Wunsiedler Fabrik – in der unbegrenzte Leistungsfähigkeit zählt und nichts sonst, in der der Marktwert zählt, in der der Wert des Menschen nur am Lineal der Ökonomie gemessen wird, daran, was er leisten kann? Wollen wir ein solches Gesundheitswesen – in dem der Wert des Menschen daran gemessen wird, was sich an ihm und mit ihm verdienen lässt?
Bleiben wir zunächst beim Menschenbild der modernen Ökonomie: Der bloße homo faber ist Vergangenheit. Er war der Mensch der Moderne. In der Postmoderne reicht es nicht mehr, wenn der homo faber, der Mensch einfach arbeitet. Es muss ein homo faber mobilis sein. Er soll in höchstem Maß flexibel, mobil und anpassungsfähig sein. Seit langem wird daher so getan, als sei ein Mensch, wenn er keine Arbeit hat und auch keine kriegt, schlichtweg nicht ausreichend flexibel, mobil und anpassungsfähig. An der Arbeitslosigkeit ist also angeblich nicht zuletzt derjenige selbst schuld, der keine Arbeit hat – wäre er genügend mobil, flexibel und anpassungsfähig, wäre er also nicht zu bequem, dann hätte er ja Arbeit. Viele Wirtschaftsinstitute und Politiker verlangen daher den neuen Menschen, den homo faber novus mobilis, den Menschen also, der über seine Grenzen und Behinderungen hinauswächst. Verlangt wird der perfekte Mensch. Das Krankenhaus ist aus dieser Warte keine soziale, sondern eine mechanistische Einrichtung – ein Pendant zur Kfz-Werkstätte. Da werden Teile ausgewechselt, da wird lackiert und repariert, solange es sich rentiert und rechnet.
Das Menschenbild des modernen Ökonomen ist also der homo faber novus mobilis. Die Realität kennt da freilich gewisse Grenzen: Im Gegensatz zu den Schnecken trägt der Mensch seine Behausung nicht mit sich herum. Und er hat, auch deshalb, weil er auch im Gegensatz zu den Schalenweichtieren kein Zwitter ist, andere soziale Bedürfnisse, die sich unter anderem darin äußern, dass er einen Lebenspartner sucht, eine Familie gründet, im Sport- oder Gesangsverein aktiv ist, dass seine Kinder zur Schule gehen und Freunde haben. Das setzt der ganz großen unentwegten Mobilität, der unbegrenzten Einsetzbarkeit und Verfügbarkeit, gewisse Schranken. Der „Wunsiedel-Mensch“, man kann ihn auch den Agenda-2010-Menschen nennen, ist offenbar anders: Er ist ein Mensch ohne Kinder, ohne Familie und ohne soziale Beziehungen.