Informationen aus der Gesellschaft - OUP 10/2016

Medizinische Ökonomie und Ethik
Vortrag anlässlich der 64. Jahrestagung der VSOUDer Mensch als Kostenfaktor: Ein Plädoyer gegen die Ökonomisierung des Alltags und des GesundheitswesensWarum aus der Medizin keine Industrie werden darf

In einer guten Generation wird jeder fünfzehnte Deutsche pflegebedürftig sein. Die Erfinder des Oma- und Opa-Exports sprechen vom „alternativen Pflegemodell“. Das ist bösartig. Alternative Pflegemodelle sind etwas anderes: Wohngemeinschaften, Wohnpflege-Gruppen, Gastfamilien, Betreutes Wohnen. Es geht bei den Alternativen zum Heim um Betreuung und Begleitung im Quartier, also im Stadtviertel, in einer gewohnten und vertrauten Umgebung, in der die Alten nicht separiert werden, sondern mittendrin sind. Weil so oft kleine Alltagshilfen und Prävention fehlen, müssen alte Menschen zu schnell in „Pflegestufe 1“ eingruppiert werden; das kostet. Alternativen beginnen schon mit simplen Überlegungen dazu, wie man, solange es geht, den „Pflegefall“ vermeiden kann.

Wenn ein Greisen-Export allen Ernstes erwogen und als Geschäftsmodell propagiert wird, hat das auch sein Gutes: Es geht daraufhin – hoffentlich – ein Ruck der Beschämung durchs Land. Die Zwangs-Entsorgung der Alten wäre ein Akt der Verrohung der Gesellschaft. Ein Gemeinwesen, das solches plant, ist kein Gemeinwesen, sondern nur noch gemein. Deutschland schwimmt derzeit in Steuereinnahmen. Mit fünf Milliarden Euro könnten sämtliche Pflegebedürftigen gut gepflegt werden. Ist es populistisch, das zu fordern? Nein, es ist notwendig, weil das Grundvertrauen der Bürger nicht zerstört werden darf – das Vertrauen darin, gesellschaftliche Hilfe dann zu bekommen, wenn man sie ganz dringend braucht.

Der Tod ist weggerückt aus dem Leben, man begegnet ihm in erster Linie auf dem Bildschirm, mitten in der Wohnung zwar, aber anonym. Dafür rückt einem der Vor-Tod näher: Der Mensch, der einem vertraut war, verschwindet. Entgeistert steht man vor dessen Veränderung, die einem als dessen Entgeistigung erscheint. Und mit dem Geist, so glauben die meisten, verschwindet die Würde. Das ist falsch: Die Würde verschwindet nicht; sie wird einem genommen in einem Gesundheitssystem, das Pflege auf das Allernotdürftigste beschränkt. Solche Würdelosigkeit im Leben ist für viele schlimmer als der Tod, sie ist ein langer Karfreitag – gewindelt, gefüttert, verlacht und verspottet; gekreuzigt, gestorben und begraben.

Wer der Demenz begegnet, begegnet der eigenen Angst; mit ihr bleibt jeder allein in einer Welt, die auf Leistung getrimmt ist: der Angst davor, die Kontrolle über sich zu verlieren; der Angst davor, umfassend angewiesen zu sein auf andere; der Angst davor, nicht mehr zu wissen, wer man selber ist. Gunter Sachs, der Bonvivant und Kosmopolit, hat sich deswegen erschossen. Niemandem steht ein Urteil über einen solchen selbstbestimmten Austritt aus dem Leben zu. Es ist eine Entscheidung, die zu respektieren ist – umso mehr, als die Gesellschaft den Respekt vor dementen Menschen vermissen lässt. Nicht selten erinnert die Pflege der Alten weniger an Pflege als an Strafe dafür, dass sie so alt geworden sind.

In die Lebens- und Arbeitswelt der Noch-nicht-Alten passen die Alten nicht. Viele Familien nehmen es gleichwohl auf sich, ihre Alten zu Hause zu pflegen. Diese Pflege in der Familie verlangt ungeheure Anstrengung; früher hat man Aufopferung dazu gesagt. Eine bezahlbare Haus-Betreuung durch Fachkräfte gibt es nicht. Eine Kultur, die die Lebenszeit so sehr verlängert hat, hat noch keine Antwort auf die Fragen gefunden, die damit einhergehen. Sie hat nicht die Kraft, die Menschen in Würde alt und lebenssatt werden zu lassen. Eine Gesellschaft ist aber verrückt, wenn diese Alten in dieser Gesellschaft nicht in Würde ver-rückt werden können.

Im Jahr 2050 werden in Europa mehr als 70 Millionen Menschen über 80 Jahre alt sein. Bei Aldous Huxley, in seiner „Schönen Neuen Welt“, wird beschrieben, wie alte Menschen in Kliniken entsorgt werden. Sie werden abgeschaltet wie verrostete Maschinen. Kinder werden in diese Entsorgungskliniken geführt und dort mit Schokolade gefüttert, damit sie sich an den Vorgang des Abschaltens gewöhnen und akzeptieren lernen, dass das Leben technisch produziert und technisch beendet wird. So verändert eine pervertierte Marktökonomie das Leben: Sie betrachtet es als Produkt, das der Herstellung und Entsorgung bedarf. Ist das die Gesellschaft, in der man leben will?

Es geht um die, die ein Leben lang gerackert haben und es jetzt nicht mehr können. Sie gelten durch ihre bloße Existenz als Infragestellung dessen, was für normal gehalten wird: Leistung, Fitness, Produktivität. Ein System aber, das nicht in der Lage ist, sich um die Alten zu kümmern, ist selber dement.

Was ist notwendig? Notwendig sind nicht Kostenmanager, betriebswirtschaftliche Abrechnungen, Gewinn- und Verlust-Rechnungen. Notwendig ist die Auferstehung von Nächstenliebe und wärmender Fürsorge; das System muss aus seiner Hölle gezogen werden. Jeder zweite 85-Jährige in Deutschland lebt allein, ist allein. „Ehre Vater und Mutter, auf dass du lange lebst und es dir wohl ergehe auf Erden“. So steht es im vierten der zehn Gebote. Das klingt antiquiert, ist es aber nicht. Dies Gebot fordert eine Gesellschaft, in der Alte nicht Angst haben müssen, in die Wüste geschickt zu werden.

„Kinder sind unsere Zukunft“ – das hört man in der Politik jeden Tag. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Zur ganzen gehört: Auch die Alten sind „unsere Zukunft“, denn die Zukunft ist das Alter. Der Respekt vor den Kindern und der Respekt vor den Alten gehören zusammen; er ist das Band, welches das Leben umspannt. Zu diesem Respekt gehört es, dass Alte auch in Ruhe ver-rückt werden dürfen. Das rückt die Gesellschaft gerade.

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