Informationen aus der Gesellschaft - OUP 10/2016
Medizinische Ökonomie und EthikVortrag anlässlich der 64. Jahrestagung der VSOUDer Mensch als Kostenfaktor: Ein Plädoyer gegen die Ökonomisierung des Alltags und des GesundheitswesensWarum aus der Medizin keine Industrie werden darf
Das Stück handelt vom Landarzt Dr. Knock, der die Praxis seines verarmten alten Kollegen Papalaid übernommen und nun seinen Dienst in einem Bergdorf namens St. Maurice angetreten hat. Die Einwohner dort sind wohlauf und gesund und brauchen keinen Arzt. Der alte Paparlaid versucht seinen Nachfolger zu trösten und sagte: „Sie haben hier die beste Art von Kundschaft überhaupt. Man lässt Sie in Ruhe!“ Dr. Knock ist nicht gewillt, sich damit und also mit einem ärmlichen Leben abzufinden. Doch wie nur sollte der Neuling die vitalen Menschen in seine Praxis locken? Was nur sollte er den Gesunden verschreiben? Listig schmeichelt Dr. Knock dem Dorfschullehrer und bringt ihn dazu, Vorträge über die angeblichen Gefahren von Kleinstlebewesen zu halten. er engagiert schließlich den Dorftrommler und lässt ihn ausrufen, der neue Doktor lade alle Bewohner zu einer kostenlosen Konsultation – um eine „unheimliche Ausbreitung von Krankheiten aller Art einzudämmen, die seit einigen Jahren in unserer einstmals so gesunden Region um sich greifen“. Das Wartezimmer füllt sich. In seinen Sprechstunden diagnostiziert Dr. Knock sonderliche Symptome und bläut den unbedarften Dörflern ein, dass sie seiner ständigen Betreuung bedürfen. Viele hüten fortan das Bett und nehmen nur noch Wasser zu sich. Am Ende gleicht das Dorf einem einzigen Hospital. Es bleiben noch so viele Menschen gesund, wie nötig sind, die Kranken zu pflegen. Der Apotheker wird ein reicher Mann; ebenso der Wirt, dessen Gasthof als Notlazarett allzeit ausgelastet ist.
Die Selbstwahrnehmung der Menschen als gesund – ich sage es in der Sprache der Medizinsoziologie – verflüchtigte sich hier unter dem Diktat von Risikoabwägungen: Es gibt dann kaum noch Gesunde; nur Menschen, die nicht gründlich genug untersucht und aufgeklärt worden sind. Die böse Vision, die der amerikanische Ökonom Uwe Reinhardt Jahrzehnte später entwickelte, ist im Gebirgsdorf St. Maurice schon vorweggenommen: Der US-Ökonom entwarf die Vision der Industrienation, die sich in ein riesiges Krankenhaus verwandelt – und in dem die Bewohner entweder arbeiten oder als Patient liegen. Bei Dr. Knock in St. Maurice war es so: Er blickte abends begeistert auf ein Lichtermeer ringsum; es werden dies 250 hell erleuchtete Krankenstuben, in denen, wie von ihm verordnet, 250 Fieberthermometer in die dafür vorgesehenen Körperhöhlen geschoben werden, sobald es zehn Uhr schlägt. „Fast das ganze Dorf gehört mir“ schwärmt Dr. Knock. „Jene, die nicht krank sind, schlafen in der Dunkelheit; sie sind nicht wichtig.“
Vor ein paar Jahren wurde in einem Buch mit dem Titel „Die Krankheitsfinder“ (Jörg Blech) dargestellt, wie die bühnenreife Medizin dieses Theaterstücks im echten Leben von heute fortgeschrieben wird: Heute ist es ja kein verführerischer Dorfarzt, der gesunde Menschen in Patienten verwandelt. Heute sei eine ungleich größere Macht angetreten, um den Menschen die Gesundheit auszutreiben: „Ärzteverbände und Pharmafirmen predigen uns eine neue Heilkunst, die keine gesunden Menschen mehr kennt“. Und das Buch schildert, wie sie ein „Aging Male Syndrom“, ein „Käfig-Tiger-Syndrom“, „erektile Dysfunktionen“ oder sonst schön benannte angeblich chronische Erschöpfungszustände behandeln und sich zu diesem Zweck der PR-Firmen bedienen, die dabei helfen, natürliche Wechselfälle des Lebens und normale Verhaltensweisen systematisch als krankhaft zu deuten, so wie dies einst der Dr. Knock unter Zuhilfenahme des Dorfschullehrers und des Dorftrommlers gemacht hat.
Ich rede von einer modernen Befindlichkeitsindustrie aus Ärzten, Patienten und Pharmaindustrie, die jede Abweichung zur Krankheit erklärt und einen Zustand ohne Beschwerden als suspekt erscheinen lässt. Die Krankenkasse ist daher auch eine Art Gesundheitskasse geworden. Deshalb gibt es heute in Deutschland so etwas wie ein „Leiden an der Gesundheit“ (so hat das der Psychiater Klaus Dörner genannt): „Je mehr ich für meine Gesundheit tue, desto weniger gesund fühle ich mich. In diesem Sinne ist Gesundheit eben nicht machbar, nicht herstellbar, stellt sich vielmehr selbst her. Gesundheit gibt es nur als Zustand, in dem der Mensch vergisst, dass er gesund ist“. Diese Selbstvergessenheit lassen nur wenige Menschen zu.
Dies erklärt wohl die merkwürdige Unzufriedenheit der Deutschen mit ihrer Medizin: Sie haben im Ländervergleich die kürzesten Wartezeiten, die verlässlichsten Laborbefunde, die wenigsten Krankenhausinfektionen und die größten Freiheiten bei der Arztwahl – sind aber mit ihrem Gesundheitswesen international am unzufriedensten. Ein Vergleich von sechs Ländern zeigte 2005, dass Deutsche mit ihrem Gesundheitswesen unzufriedener sind als Amerikaner, Kanadier, Briten, Australier und Neuseeländer. Niemand leidet so wie die Deutschen.
Gibt es also so etwas wie der Ver-Knockisierung des Gesundheitswesens? Festzustellen ist, und ich werde jetzt ganz unliterarisch und zitiere die höchste juristische Autorität in diesem Land, das Bundesverfassungsgericht, dass die Konstruktion des deutschen Gesundheitssystems grundsätzlich zur Kostenausweitung tendiert: „Die deutsche gesetzliche Krankenversicherung ist ein im Umlageverfahren durch Versicherungsbeiträge finanziertes Gesundheitssystem zur medizinischen Vollversorgung von inzwischen nahezu 90 von Hundert der Bevölkerung. Die Versuchungsleistungen werden dabei weitgehend als Sachleistungen ohne direkte Kostenbeteiligung der Versicherten erbracht (...).
Bedarfsfeststellung und Kostenkontrolle liegen nicht in einer Hand. Fragt ein Versicherter nach, definiert der Arzt den medizinischen Bedarf und erfüllt ihn dann; die Krankenkassen tragen die Kosten, die über Beiträge aufgebracht werden, mit denen im Wesentlichen kleine und mittlere Einkommen aus abhängiger Beschäftigung belastet sind. (...) Die kontinuierlich steigenden Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung haben zur Steigerung im Beitragssatz und zu erheblichen Anhebungen der Versicherungspflichtgrenze geführt (...) Auch für die Zukunft wird mit steigenden Kosten bei den Gesundheitsleistungen gerechnet als Folge der zunehmenden Alterung der Gesellschaft, der hiermit verbundenen Abnahme der Beitragszahler aus aktiver Erwerbstätigkeit und der Eignungseffekte aus dem medizinischen und medizin-technischen Fortschritt. Die Vermeidung von weiteren Beitragssteigerungen ist seit Jahren ein vorrangiges Ziel der Gesundheitspolitik“.